Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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»...mit der analytischen Kraft des Professors«

Was an Hermann Kurzkes »Handreichung für passionierte Leserinnen und Leser«
vor allem auffällt, ist dessen Beliebigkeit und
Gegenwartsabgewandtheit.

Von Gregor Keuschnig
 

Vielleicht liegt der Fehler schon im Titel: "Literatur lesen wie ein Kenner" steht dort. Wer ist der Kenner? Der Autor dieses Buches, Hermann Kurzke? Oder handelt es sich hier um eine Art Fortbildung für Leser? Schließlich verheißt der Untertitel "Eine Handreichung für passionierte Leserinnen und Leser". Soll hier eine Passion geweckt werden?

Keine Frage: Empfehlungen, "Handreichungen" bis hin zu neu bestückten Literaturkanons sind beliebt. Der potentielle Leser lechzt in dem immensen Angebot nach Hilfe. Was soll man lesen? Was muss man lesen? Kurzkes Buch reiht sich zwar in die Kategorie der Helfer ein, ist aber gleichzeitig anders, weil es auch didaktisch aufgebaut ist. Das Ziel sei es, "Literatur zu verstehen", eine Orientierung zu geben, dies jedoch auch vergnüglich. Wenig später erfährt man, dass Kurzke der Germanistik "ein bisschen skeptisch" gegenüber steht. Das ist bei einem gestandenen Literaturwissenschaftler wie ihm durchaus bemerkenswert. Das Versprechen, einem nicht mit hochgestochenen Vokabeln zu traktieren, hält er immerhin ein.

Kurzkes Herangehensweise ist originell. Er ordnet seine Auswahl in drei Ringen. Die "textanalytische, literaturgeschichtliche und literaturtheoretische Begrifflichkeit" wird für alle drei Genres (Lyrik, Drama und Erzählung/Prosa) immer zunächst anhand eines Beispiels aus dem Werk von Heinrich von Kleist sozusagen exemplarisch vorgestellt. Er erwähnt es nicht, aber es dürfte darum gehen, ein Ideal des jeweiligen Typus vorzustellen und Kleist hatte alle drei Genres "bedient". Auf dem "zweiten Ring" werden ausgewählte Texte aus der "deutschen Literatur" vorgestellt. Dabei muss man wissen, dass im gesamten Verlauf des Buches nicht zwischen "deutscher" und "deutschsprachiger" Literatur unterschieden wird, was vielleicht weniger aus politischen, aber aus literaturhistorischen Gründen merkwürdig anmutet. Mit dem "dritten Ring" sollen dann auch Beispiele anderer, bevorzugt europäischer Nationalliteraturen vorgestellt werden.

Die vorgestellten Texte sollen nach fünf Kriterien untersucht werden: Textlage (Herkunft und Entstehung), Textkommentar (historische Einordnung; Referenzen des Autors), Formanalyse (Gattung; Makro-/Mikrostruktur des Textes), "immanente Interpretation" ("im Dienst welches inhaltlichen Wollens [steht] die Form") und schließlich "Rezeption". Die Idee dieses fünfteiligen "Analysebestecks" ist von der Idee getragen, eine möglichst objektive Erfassung des jeweils vorgestellten Werkes jenseits literaturwissenschaftlicher Rhetorik zu versuchen. Derart geübt soll der Leser in die Lage versetzt werden, seine Wertung nicht als bloßes Geschmacksurteil zu formulieren, sondern für sich (und andere) zu begründen.

Schon zu Beginn wird darauf hingewiesen, dass es im Buch bisweilen Abweichungen zum vorgestellten Schema geben wird. Tatsächlich werden nicht alle vorgestellten literarischen Texte mit dem "Analysebesteck" untersucht. Kurzke wechselt dann zumeist in den Modus einer raschen, bisweilen lustlosen Inhaltsangabe. Im ein oder anderen Fall würde man besser in einschlägigen Online-Nachschlagewerken bedient. Auch zeigen sich rasch Schwächen des Systems, weil die einzelnen Kriterien nicht immer deutlich voneinander abgrenzbar sind.

Überhaupt ist Konsequenz nicht die Sache des Autors. Wenn Kurzke – zu Recht – davor warnt, die autobiographischen Bezüge im Werk eines Autors zu überschätzen, so verfällt er jedoch bisweilen genau in diesen Modus. Dann stellt sich die Frage, warum er seinen "pragmatischen Kompromiss", den er sehr schlüssig formuliert hatte, nicht selber beherzigt hat: "Wo das Leben zur Deutung des Werks offenkundig einen wertvollen Beitrag leistet, wollen wir dankbar sein und nicht darauf verzichten. Aber wir wollen nichts erzwingen und dem leben nicht prinzipiell etwas abmelken." Das hätte man sich für einige der vorgestellten Protagonisten (insbesondere Günter Grass aber auch – was angesichts der Expertise des Autors überrascht – Thomas Mann) gewünscht.

Nach dem "Anspann" geht es zunächst in die "Geschichten von Gedichten". Ausgiebig erklärt Kurzke einige Grundlagen zur Lyrik und gibt Hilfestellungen zur Analyse der Metrik von Gedichten. Die Überschrift "Von Minnegesang bis Partyklang" soll Vielfalt suggerieren. Kleists Gedicht an die Königin Luise von Preußen ist hier der "erste Ring". Dann geht es von Neidhard von Reuenthal vom 13. Jahrhundert über Goethes "Zauberlehrling", Baudelaires "Bénédiction" bis Brecht. Danach klafft eine Lücke von 25 Jahren bis zu Enzensbergers "Untergang der Titanic" von 1978. Insgesamt werden ein Dutzend Autoren mit ihren Gedichten vorgestellt. Einige Namen, die man erwarten dürfte, fehlen (Hölderlin etwa). Und nach Enzensbergers Gedicht scheint es keine Lyrik von Rang mehr gegeben zu haben. Er sehe sich außerstande, "diese verstreute (und in Krümel zerfallende) Produktion zu überblicken", schreibt Kurzke. Abgesehen von der despektierlichen Wortwahl: Warum verfasst man dann ein solches Buch? 

Auch im Genre "Drama" (14 Dramen, davon zwei Mal Brecht) hört es bei Kurzke mit Handkes "Publikumsbeschimpfung" von 1966 auf. Kein Heiner Müller, kein Thomas Bernhard, nichts von Botho Strauß. In den drei Kapiteln zur "Erzählkunst" sieht es nicht anders aus. Kurz wird Grass' "Beim Häuten der Zwiebel" (2006) gestreift. Ansonsten gibt es nur ein Prosawerk, welches nach 1972 erschienen ist und von ihm ansatzweise besprochen wird. Unter dem Kapitel "Staatsroman, Utopie und Dystopie" wird nach Ray Bradburys "Fahrenheit 451" eine mehr als 50jährige Pause eingelegt bis zu Dmitry Glukhovskys "Metro 2033" von 2007. Das Kriterium für dieses Buch wird mitgeliefert: Kurzkes Sohn hatte es gelesen.

Das Kapitel "Erzählkunst 1" beginnt mit einem Überblick über die einzelnen Erzählperspektiven. Vorgestellt werden dann Autoren von Dante bis Grass. Von ihm und von John Steinbeck ("East of Eden") sind die einzigen Nachkriegswerke verzeichnet. Wichtige literarische Kunstgattungen und -epochen fehlen auch hier vollständig. Dennoch muss der großzügige Verzicht auf die Literatur der letzten 50 Jahre nicht unbedingt falsch sein. Die Einordnung in den literaturhistorischen Kontext, so kann man argumentieren, ist hier noch nicht vollständig abgeschlossen. Aber auch die antiken Autoren über die inzwischen ausreichend Sekundärlektüren vorliegt, kommen nicht vor. Nur kurz wird Homer genannt. Sophokles findet bei Kleists "Der zerbrochne Krug" eine Erwähnung. Kein Aischylos, kein Ovid, kein Cicero. Kurzke beginnt bei Lyrik und Erzählkunst im 13. oder 14. Jahrhundert; das Theaterkapitel wird mit Shakespeares "Hamlet" eröffnet. Der Schwerpunkt in allen Genres liegt bei Texten aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Wenig freundliches fällt Kurzke zur Romanik ein, die er mit dem Stigma der antiaufklärerischen Attitüde versieht. Das man hier inzwischen durchaus differenzierter urteilt erwägt er nicht. Im übrigen kann man die geringe literarische Ausbeute der Aufklärung nicht beklagen, wenn man zugleich Autoren wie Gellert oder Voltaire nicht zur Kenntnis nimmt.

Ist wenigstens die vorgenommene Auswahl innerhalb des Zeitrahmens in den entsprechenden Genres in irgendeiner Form repräsentativ? Der versprochene Ausblick auf nicht-deutschsprachige Literatur bleibt bei Lyrik und Drama eher schmal. Ibsen und Strindberg beispielweise bleiben dem designierten Kenner verborgen. Abgesehen von Shakespeare findet nur "Warten auf Godot" von Beckett im Theaterkapitel Erwähnung – auf einer halben Seite. Das "absurde Theater" wird hier als "Ablenkung" interpretiert, "wie ein Kulturvolk zur Judenvernichtung und zum Zweiten Weltkrieg in der Lage gewesen war". Man könnte spätestens hier die Rubrik "absurde Interpretation" beginnen. Immerhin: In den Prosa-Kapiteln findet man vermehrt fremdsprachige Prosa, über Boccaccio, Cervantes, Dickens und Flaubert bis zu Dostojewski, Tolstoi und Hamsun. Daran kommt er nicht vorbei.

Wer einen repräsentativen Querschnitt insbesondere der literarischen Moderne erhofft, wird allerdings enttäuscht. Zu viele Strömungen werden ausgeblendet. So bekennt er sich dazu, den deutschen Naturalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie auch den Expressionismus auszusparen. Später wird man den Existentialismus vermissen; Camus und Sartre existieren für Kurzke nicht. Darin soll sich Kennerschaft zeigen?

Merkwürdig auch einige Zuordnungen. Kafkas "Der Prozeß" wird unter "Bildungsroman" vorgestellt, um dann zu bilanzieren: "Es entsteht kein Bildungsroman". Auch innerhalb der Genres versäumt er Pluralität. "Anton Reiser", der größte und wichtigste "Anti-Bildungsroman" von Karl Philipp Moritz, fehlt. Dafür finden sich Bücher wie Karl Mays "Winnetou" und, besonders skurril, Joseph Goebbels' "Michael" von 1929 als Bildungsromane wieder. Letzterer zeige, wie "ein junger Mann zum Nationalsozialisten gebildet wird". Wesentlich aufschlussreicher wäre es gewesen, in diesem Zusammenhang Ödön von Horváths "Jugend ohne Gott" heranzuziehen. Später distanziert sich Kurzke von dem "üble[n] Produkt" von Goebbels. Warum dann erst aufnehmen?

Zu den - freundlich ausgedrückt - merkwürdigen Interpretationen könnte man einiges sagen. Da ist die hingeworfene These, dass "große Literatur" "nicht in satten Zeiten" entstehen würde, die ein bisschen das Klischee des armen Poeten befördert. Die "Neuzeit" sieht Kurzke ab 1818, was ziemlich ungewöhnlich ist. Immerhin erfährt der Leser, dass Rilkes "Panther" kein zoologisches Gedicht ist und Micky Maus und Donald Duck moderne Versepen sind. Man lernt, dass heutzutage niemand mehr über Orwells "1984" spricht, um dann, wenige Zeilen später, an den Bestsellerstatus des Buches in den USA anlässlich der Präsidentschaft von Donald Trump erinnert zu werden. Musils "Mann ohne Eigenschaften" ist nach Kurzke eine Satire mit einer mystischen Idee und James Joyces' "Ulysses" ein "esoterisches, nur für Insider geeignetes Werk", in dem der Leser "dem Personal ausgeliefert" bleibe. Wen er mit "Insider" meint, bleibt unklar. Joyce gegenüber stellt er nicht etwa Arno Schmidt, sondern Margret Mitchells "Vom Winde verweht". Es ist eines von zwei Büchern in dieser Handreichung, die von einer Frau geschrieben sind (das andere ist der "Bildungsroman" "Der geteilte Himmel" von Christa Wolf). Andere Autorinnen kennt er nicht oder will sie nicht kennen. Weder Bettina von Arnim, noch Jane Austen, Simone des Beauvoir, Virginia Woolf, Anna Seghers oder Irmgard Keun finden Einlass in die von Kennern zu lesende Literatur; von Ingeborg Bachmann, Brigitte Kronauer oder Elfriede Jelinek ganz zu schweigen. Selbst jemandem wie mir, dem Quoten verhasst sind, fällt dieses literarisch nicht begründbare Ungleichgewicht unangenehm auf.

Es passt zu Kurzkes Gegenwartsabgewandtheit, wenn er konstatiert, dass der Bildungsroman keine Rolle mehr in Deutschland (!) zu spielen "scheint". Er bedauert das. Aber tatsächlich ist längst das eingetreten, was er wünscht: Der Bildungsroman ist als "Experimentierfeld der freiheitlichen Gesellschaft" aktueller denn je: Durch migrantische Autoren und Autorinnen, die ihre "Bildung" mit, durch und in der Gesellschaft literarisch verarbeiten.

Thomas Mann, Brecht und Kafka sind für Kurzke "die drei Größten". Neben dem eher unbekannten Text "Luischen", beschäftigt er sich als Thomas-Mann-Experte natürlich mit dem "Zauberberg", aber vor allem ausgiebig "Joseph und seine Brüder" (ohne, dass mir dadurch dieser Roman nähergekommen ist – eher im Gegenteil). Hingegen fallen seine Analysen zu Kafka reichlich schmal aus. Dass er Heinrich von Kleist, der immerhin jeweils prototypisch für alle drei Genres behandelt wird, nicht zu den "Größten" zählt, verwundert nachträglich.

Man erfährt in diesem Buch einiges über die historische Entwicklung des Lesens von Literatur, die eng mit der Ausbildung eines Bürgertums seit Ende des 18. Jahrhunderts verbunden zu sein scheint. Aber auch hier ist der Blick nicht vollständig. Denn die sich formierende Leserschaft war damals keinesfalls nur an den heute kanonisierten Autoren interessiert. Wenigstens sollte man die sogenannten Trivialschriftsteller zur Kenntnis nehmen. Es gab eben nicht nur Goethe sondern auch Kotzebue (dessen Dramen von Goethe sogar inszeniert wurden), nicht nur Fontane, sondern auch die "Gartenlaube".

Das zu Beginn versprochene Vergnügen stellt sich bei der "Literatur lesen wie ein Kenner" nicht ein. Der Leser wird zu oft auf Deutungen hin geführt, die am Ende eher abschreckend sind als das sie Lust auf die Lektüre machen. Es endet mit zwölf "Läppchen", Meinungssplittern, zum Kulturbegriff, die bewusst widersprüchlich gehalten sind. Kurzke setzt sich schließlich für "die Pflege und den Wiederaufbau von Wertewelten" sein, mahnt "Liebe zur Natur und zur Literatur, zum Neuen und zum Alten". Diese Bemerkungen, ja Appelle, sind noch das Beste in diesem ansonsten enttäuschenden und ärgerlichen Buch.   

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Artikel online seit 15.08.21
 

Hermann Kurzke
Literatur lesen wie ein Kenner
Eine Handreichung für passionierte Leserinnen und Leser
C.H. Beck Verlag
394 S., mit 1 Abbildung
28,00 €
978-3-406-76435-6

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