Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

Home  Termine   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  Impressum & Datenschutz


 








Genstruktur statt Genesis

Der Nobelpreisträger Paul Nurse erläutert die fünf Antworten der Biologie
auf die Frage »Was ist Leben?«

Von Peter Kern
 

Der Nobelpreisträger für Medizin, Berater der Europäischen Kommission und ehemalige Leiter der Britischen Krebsforschung gehört zur Gattung der Naturwissenschaftler, die aus ihrer Forschung einen philosophischen Schluss ziehen. Er zieht ihn als Szientist; seine Zellbiologie gebe ihm alle Erkenntnisse, um zu begreifen, was die Welt im Inneren zusammenhält. Kein faustisches Suchen begegnet dem Leser in diesem Buch, sondern ein Skeptizismus, gepaart mit britischem Humor. So hat sich der Genforscher lange Zeit über ein für ihn nicht unwichtiges Gen getäuscht, hat er doch seine Mutter für seine Schwester gehalten und die Groß- für seine richtigen Eltern. Auch in der britischen Arbeiterklasse, der Paul Nurse entstammt, galt die Schwangerschaft Minderjähriger als eine Schande. Achtmal scheiterte der spätere Ritter der französischen Ehrenlegion an der für den Unibesuch vorausgesetzten Französischprüfung. Darüber plaudert er in diesem Buch, aber der Plauderton täuscht nicht darüber hinweg: Hier will es einer wissen.

Ein Szientist will die Genese der Natur und die Reproduktion ihrer Ordnung mit den Mitteln seiner Wissenschaft begreifen und nur mit diesen. Nurse scheitert bei diesem Versuch, und wer seinem Scheitern als Leser beiwohnt, hat viel davon, denn er kann die Logik des Misslingens verstehen. Zudem bekommt, wer im Biologieunterricht nicht recht aufgepasst hat, einen wunderbaren Nachhilfelehrer.

Die Zelle ist die Keimzelle des Lebens. Sie zu erforschen, setzte die leistungsstarken Mikroskope der Neuzeit voraus. Der mikrologische Blick erfasst ein Gebilde, dessen Chemie aus unzähligen Kohlenstoffmolekülen besteht. In diesem Gebilde vollzieht sich »der erste Schritt zur Verwandlung einer undifferenzierten einzelnen Eizelle...zu einem hochkomplexen und hochorganisiertem Lebewesen.«
Nurse, der Biologe, argumentiert ganz in der Logik eines Materialismus: Es ist das Einfache, aus dem sich das Komplexe entwickelt.

Das Einfache: Der Kohlen-, der Wasser-,der Sauer-,der Stickstoff und das Phosphat machen die Enzyme aus, die chemische Basis des Lebens. Damit es sich entwickelt braucht es, so Nurse, den von Darwin erfassten Selektionsmechanismus und die von der Genforschung analysierte Weitergabe von Erbinformation. Aus dem Einfachen wird durch hunderte von Zellteilungen eine Pflanze, ein Tier, ein Mensch.

Nach Mendel, Darwin und Lamarck kamen Quantensprünge an Erkenntnisfortschritt; die DNA entdeckte man 1953; den genetischen Code entschlüsselte man um 1970, die Chromosomen wenig später; die drei Milliarden Buchstaben des Genoms auszubuchstabieren, gelang in 2003. Nurse führt durch ein imposantes, verzweigtes Wissenschaftsgebäude bleibt aber gleichwohl seiner reduktionistischen These treu: Es sind einfache Stoffe, die sich in Anpassung an die ebenso einfachen Stoffe ihrer Umwelt per Selektion und Information zu einem komplexen Organismus entwickeln, eine Entwicklung, die die Welt und noch jedes Weltkind gemeinsam haben.

Unzählige chemische Reaktionen laufen ab, damit sich eine Zelle bildet. Die Zelle wiederum muss mit anderen so zusammenwirken, dass sie ein zweckdienliches Organ ergeben. Die das rote, den Sauerstoff befördernde Blutplasma produzierenden zellulären Prozesse gehorchen chemischen und physikalischen Gesetzen, und viele solcher gesetzmäßigen Prozesse müssen ineinander greifen, damit ein Herz schlägt und ein lebendiger Organismus entsteht.
Wie kommt die Koordination dieser Gesetze zustande? Nurse muss, seiner Voraussetzung nach, (Selbstkonstitution der Natur!) das Rätsel naturwissenschaftlich lösen. Ein organisierendes Übergesetz wird sich experimentell nicht finden lassen und mit einer Art Zentral-Monade zu spekulieren, wäre Metaphysik.

Der Materialist glaubt stringent zu argumentieren, wenn er seine Biologie mit Informationstheorie anreichert. Die Zellen, so Nurse, interagierten und bildeten einen hochkomplexen Organismus; was Kant mit dem Begriff der Teleologie bezeichnet, der Zweckmäßigkeit eines Naturdings im Zusammenhang aller Naturdinge, rechnet Nurse aufs Konto eines jeder Zelle eigenen Informationsmanagements.

Mit dieser jeder Zelle eingeschriebenen Information gerät Nurse aber in Widerspruch zu seinem Materialismus; denn die Zelle soll doch ganz einfach sein. Mit ihrem Vermögen Information zu verarbeiten, erweist sie sich jedoch schon als differenziert.
Um seine Theorie der informationsgesättigten, selbstorganisierten Zelle zu plausibilisieren, greift Nurse zu einer Computer-Metapher. Die Metapher ist so schief wie aufschlussreich. Noch der findigste Algorithmus, noch der leistungsstärkste Quantencomputer brauchen zu ihrer Initialisierung den Programmierer. Aber die Zelle in ihrem Datenaustausch mit den anderen Zellen, hoch entwickelte Organismen emergierend, kommt ohne aus! Allen Zellen wären demnach jeweilige Datensätze eigen, die sich selbst verknüpfend die physikalische Welt begründen. Von den Genen zur Genesis! Was der Theologe Gott nennt, würde sich dem Wissenschaftler als ein die belebte und unbelebte Natur erzeugendes IT-Netzwerk kosmischen Ausmaßes enthüllen.

Agiert die Zelle nach ihrem einprogrammierten Code, muss Abschied vom zweiten materialistischen Dogma genommen werden: Der Zufall und das computergleiche Programm passen nicht zusammen. Der adaptierte Darwinismus verwickelt Nurse in einen weiteren Widerspruch. Darwin liest er als einen Apologeten des Zufalls. Die Selektion »macht die Argumente hinfällig, die einen göttlichen Schöpfer bemühen.« Die Innovationen der lebenden Organismen gehen demnach auf zufällige Mutationen, auf Abweichungen bei der Reproduktion durch die Zellteilung, zurück. Die besser an die Umwelt angepasste Mutation ist die fittere und überlebt.

Die Darwinsche Selektion soll erklären , wie sich die einfache Zelle über Milliarden von Jahren mit immer mehr Information anreichert und sich zu einem hoch komplexen Gebilde entwickelt.
Wenn Selektion das Prinzip nicht nur der entstandenen, sondern auch der Natur in ihrem ersten Entstehen sein soll, muss es zu Beginn der Naturgeschichte Auswahl gegeben haben. Es soll aber einfache, unbelebte Materie gewesen sein, was den Anfang der Entwicklung markiert, an dessen Ende ein vervielfältigtes Molekül steht, das noch Bewusstsein besitzt (als Ausstattungsplus im Überlebenskampf).
Paul Nagel, der US-amerikanische Philosoph, hat die gähnende Lücke dieser Kosmologie notiert. Dieser Naturalismus muss, seiner Voraussetzung nach , einen Boden finden, der aber unauffindbar ist, muss er doch plausibel machen, wie aus leblosem Stoff lebendige, komplexe Wesen entstehen.

Die durch Teilung sich reproduzierende Zelle sei durch chemische Reaktion aus ihrer undifferenzierten Umwelt hervorgegangen, beteuert Nurse. Den Urstoff, nach dem der alte Materialismus gesucht hat, durch die fünf Elemente ersetzen, hilft aus der Kalamität aber nicht heraus. Dass der Kohlen- und die vier anderen -Stoffe so wunderbar miteinander reagieren, gilt Nurse als eine zufällige,weltschöpfende Symmetrie der Materie.
Der Zufall ist die gedankliche Konsequenz einer jeden naturalistischen Weltauffassung. Mit dem Darwinismus lässt sich aber weder die Entstehung des Bewusstseins erklären noch der Beginn der Evolution; er taugt nicht zur Ursprungsphilosophie.

Der Biologe Nurse hat keinen Begriff vom erkenntnistheoretischen Status seiner Naturgesetze. Diese Blindheit teilt er mit den Philosophien, die den Naturwissenschaften eine Alleinzuständigkeit in Sachen Kosmologie zugestehen. »Die Naturwissenschaft wies mir den Weg zu einem rationalerem Verständnis der Welt », schreibt der Autor. Dieses Verständnis ist ein positivistisches. Der Positivismus hat die Konsequenz aus dem Unvermögen des Materialismus gezogen: Der Urstoff aus dem sich alles entwickelt haben sollte , ließ sich nicht finden; deshalb hatte sich alle Erkenntnis auf die erscheinende Natur zu beschränken. Den Naturwissenschaften sprach die positivistische Philosophie ein Erklärungsmonopol zu, und in dieser Tradition entfaltet Nurse seine Theorie.

Hinter der Metaphorik von Computer und Info-Management ist sein Problem versteckt. Er müsste zeigen können, auf welchem Gen der Chromosomen das Koordinations-Gen codiert ist und wie dieses innerzelluläre Programm sich, chemischer Gesetzmäßigkeit gehorchend, mit allen anderen Programmen so verständigt, dass ein Wesen erzeugt und am Leben erhalten wird. Nur wenn ihm dies gelänge, wäre sein Positivismus beglaubigt.

Würde Nurse über den Status seiner chemischen und physikalischen Gesetze reflektieren, ginge ihm auf: Ein Naturgesetz regiert einen partiellen Zusammenhang, zum Beispiel den des Herzens mit dem den Sauerstoff befördernden Blutkreislauf. Es braucht das Zusammenspiel aller im menschlichen Organismus ineinander greifenden chemischen und physikalischen Gesetze, damit ein Mensch gehen, stehen und denken kann. Die zweckmäßige Anordnung dieser Gesetze ist nicht die Wirkung eines weiteren Gesetzes, das sich mit dem Mittel der Naturwissenschaften, dem Experiment, nachweisen ließe. Und der Mensch ist auch nicht die Summe aller in ihm tätigen Naturprozesse.
«Die Naturwissenschaft«, um Nurse‘ Glaubensbekenntnis zu wiederholen, »wies mir...« den Weg zu einem rationaleren Verständnis der Welt.« Ein Irrationalismus ist diesem Wissenschaftspathos immanent, weil es sich weigert, als denknotwendig zu verstehen, was durch Experiment und Mikroskop nicht zu bestätigen ist. Ohne einen Weltplan, der die Naturgesetze und die symmetrischen Bausteine des Kosmos auf ihren jeweiligen Zweck hin koordiniert, ist das Entstehen keines Naturgegenstandes sinnvoll zu denken. Dieses formende Prinzip, ( ein Prinzip von »höchster Vernunft« nennt es der Physiker Heisenberg), bleibt menschlicher Erkenntnis verschlossen. 

Dieses Prinzip ist schon vorausgesetzt, damit Naturwissenschaft überhaupt möglich ist. Denn deren Gesetze setzen eine in Arten und Gattungen gegliederte Natur, mithin eine Ordnung, voraus. Entfiele diese Voraussetzung, wäre die Natur ein Chaos, und ihre Gegenstände wären heute so und morgen anders zusammengesetzt. Naturgesetze, die einen identischen Ablauf für den nämlichen Art- oder Gattungszusammenhang formulieren, wären unmöglich. Am menschlichen Organismus als je einzelnem wäre nichts zu erkennen, das Allgemeingültigkeit beanspruchen könnte.
Karl Heinz Haag, dessen Negative Metaphysik der Rezensent hier wiedergibt, sieht die Naturwissenschaften auf einen - ihnen meist unbewussten - metaphysischen Rahmen aufgespannt. Die von Haag formulierte Metaphysik überhebt sich nicht, weil sie nicht vorgibt, das zu leisten, was eine unreflektierte Naturwissenschaft insinuiert; Einblick in das innere Wesen eines Naturdings zu geben. Das jeden Naturgegenstand formende Prinzip bleibt menschlicher, auf sinnliche Wahrnehmung verwiesener Erkenntnis verschlossen.
Eine Selbstkonstitution der Natur ist nicht denkbar; wie aus einer allmächtigen Instanz die Natur hervorgeht, bleibt der Vernunft verborgen; eine Metaphysik als deduktives System, als Theologie, ist unmöglich, so Haag. Wie an dieser Unerkennbarkeit nicht zu rütteln ist, so ist aber auch daran nicht zu rütteln: Ohne die Sphäre des Wesens, wäre Erkenntnis, die doch Identisches voraussetzt, nicht möglich.

Nurse glaubt es seiner Rationalität schuldig zu sein, dass er strikt nicht-metaphysisch denkt, dabei verhält es sich umgekehrt und mit der verweigerten Metaphysik rutscht der Positivist ab in die Irrationalität.
Dem Biologen und Genforscher Nurse käme es nicht in den Sinn, die Kantischen Fragen: Was kann ich wissen, Was soll ich tun, zusammen zu denken. Das nachmetaphysische Denken zeigt seinen Pferdefuß.
In dem besprochenen Buch wird die von der Gentechnik aufgeworfene alte Frage neu verhandelt: Darf die menschliche Gattung alles tun, was sie zu tun vermag? Die Unverfügbarkeit des menschlichen Organismus gehört mit der sogenannten Genschere der Vergangenheit an. CRISP-Cas9, ein Enzym, das wie eine molekulare Schere funktioniert, stellt die Gesellschaft vor eine radikal neue Situation. Eingriffe in die Keimbahn menschlicher Embryonen sind nun möglich. 

Mit der »Ingenieursbiologie«(Nurse) eröffnet sich ein gigantisches Geschäftsfeld. Die DNA zu sequenzieren, kostete einmal drei Milliarden Euro; heute sind es ein paar Hundert Euro. Den beiden Wissenschaftlerinnen und Nobelpreisträgerinnen, die die Genschere erforscht haben, bescheinigte der Generalsekretär der schwedischen Akademie der Wissenschaften, dass sie»ein elegantes System den Code des Lebens umzuschreiben« auf den Weg gebracht hätten. Der die Preisverleihung (in 2020 )kommentierende Autor der FAZ notierte ein beängstigendes Schweigen der Philosophie. Schon 2018 hatte ein chinesischer Wissenschaftler die befruchtete Zelle seiner späteren Zwillinge in der Petrischale gegen HIV immunisiert. Boomtown Shenzhen war seinem Ruf wieder einmal gerecht geworden.

Wie darf in einer moralisch vertretbaren Weise diese Technologie angewandt werden ? Das wäre eine Debatte von großer Dringlichkeit. Wird die äußere und die menschliche Natur bloß szientistisch, als Produkt proteinbasierter Zellen gesehen, die sich züchten lassen, - wie sie Nurse mit dem Prestige des hoch dekorierten Wissenschaftlers sieht - werden Geld und Nützlichkeit das Kriterium abgeben. Was den Reichen und Schönen dieser Welt, in ihrem Bestreben, sich zu optimieren, taugt, wird dann den Ausschlag geben. Ein metaphysisches Denken dagegen, das die Menschen-, die Tier-und die Pflanzenwelt als Schöpfung begreift, wird ein ökonomisches Kriterium nicht für unhinterfragbar halten.

Nurse steht, wie erwähnt, in der angelsächsischen, Denktradition. Deren Skepsis ist ein gutes Gegengift gegen eine die Grenzen der Vernunft überschreitende philosophische Spekulation. Auch eine gewisse Liberalität ist diesem Denken eigen. Nurse hält diese Skepsis noch sich selbst gegenüber durch. Was anfangs als Theorie auftritt, wandelt sich im Verlauf seines Buchs in eine These. Er fordert angrenzende Disziplinen auf, diese zu diskutieren. Er denkt an Physiker, Mathematiker »und sogar Philosophen, die mehr Übung im abstrakten Denken haben.« Worüber er schreibt, hätte eine gesellschaftliche Debatte sehr verdient. Wer sie konträr zum vom Autor repräsentierten Geist führen will, wird dies aus äußerster Defensive tun.



Artikel online seit 04.10.21
 

Paul Nurse
Was ist Leben?
Die fünf Antworten der Biologie
Übersetzt von Hainer Kober
Aufbau Verlag, Berlin 2021
184 Seiten
20,00 EUR
9783351038885

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Impressum - Mediadaten