Der
Nobelpreisträger für Medizin, Berater der Europäischen Kommission und ehemalige
Leiter der Britischen Krebsforschung gehört zur Gattung der
Naturwissenschaftler, die aus ihrer Forschung einen philosophischen Schluss
ziehen. Er zieht ihn als Szientist; seine Zellbiologie gebe ihm alle
Erkenntnisse, um zu begreifen, was die Welt im Inneren zusammenhält. Kein
faustisches Suchen begegnet dem Leser in diesem Buch, sondern ein Skeptizismus,
gepaart mit britischem Humor. So hat sich der Genforscher lange Zeit über ein
für ihn nicht unwichtiges Gen getäuscht, hat er doch seine Mutter für seine
Schwester gehalten und die Groß- für seine richtigen Eltern. Auch in der
britischen Arbeiterklasse, der Paul Nurse entstammt, galt die Schwangerschaft
Minderjähriger als eine Schande. Achtmal scheiterte der spätere Ritter der
französischen Ehrenlegion an der für den Unibesuch vorausgesetzten
Französischprüfung. Darüber plaudert er in diesem Buch, aber der Plauderton
täuscht nicht darüber hinweg: Hier will es einer wissen.
Ein Szientist will die Genese der Natur und die Reproduktion ihrer Ordnung mit
den Mitteln seiner Wissenschaft begreifen und nur mit diesen. Nurse scheitert
bei diesem Versuch, und wer seinem Scheitern als Leser beiwohnt, hat viel davon,
denn er kann die Logik des Misslingens verstehen. Zudem bekommt, wer im
Biologieunterricht nicht recht aufgepasst hat, einen wunderbaren
Nachhilfelehrer.
Die Zelle ist die Keimzelle des Lebens. Sie zu erforschen, setzte die
leistungsstarken Mikroskope der Neuzeit voraus. Der mikrologische Blick erfasst
ein Gebilde, dessen Chemie aus unzähligen Kohlenstoffmolekülen besteht. In
diesem Gebilde vollzieht sich »der erste Schritt zur Verwandlung einer
undifferenzierten einzelnen Eizelle...zu einem hochkomplexen und
hochorganisiertem Lebewesen.«
Nurse, der Biologe, argumentiert ganz in der Logik eines Materialismus: Es ist
das Einfache, aus dem sich das Komplexe entwickelt.
Das Einfache: Der Kohlen-, der Wasser-,der Sauer-,der Stickstoff und das
Phosphat machen die Enzyme aus, die chemische Basis des Lebens. Damit es sich
entwickelt braucht es, so Nurse, den von Darwin erfassten Selektionsmechanismus
und die von der Genforschung analysierte Weitergabe von Erbinformation. Aus dem
Einfachen wird durch hunderte von Zellteilungen eine Pflanze, ein Tier, ein
Mensch.
Nach Mendel, Darwin und Lamarck kamen Quantensprünge an Erkenntnisfortschritt;
die DNA entdeckte man 1953; den genetischen Code entschlüsselte man um 1970, die
Chromosomen wenig später; die drei Milliarden Buchstaben des Genoms
auszubuchstabieren, gelang in 2003. Nurse führt durch ein imposantes,
verzweigtes Wissenschaftsgebäude bleibt aber gleichwohl seiner
reduktionistischen These treu: Es sind einfache Stoffe, die sich in Anpassung an
die ebenso einfachen Stoffe ihrer Umwelt per Selektion und Information zu einem
komplexen Organismus entwickeln, eine Entwicklung, die die Welt und noch jedes
Weltkind gemeinsam haben.
Unzählige chemische Reaktionen laufen ab, damit sich eine Zelle bildet. Die
Zelle wiederum muss mit anderen so zusammenwirken, dass sie ein zweckdienliches
Organ ergeben. Die das rote, den Sauerstoff befördernde Blutplasma
produzierenden zellulären Prozesse gehorchen chemischen und physikalischen
Gesetzen, und viele solcher gesetzmäßigen Prozesse müssen ineinander greifen,
damit ein Herz schlägt und ein lebendiger Organismus entsteht.
Wie kommt die Koordination dieser Gesetze zustande? Nurse muss, seiner
Voraussetzung nach, (Selbstkonstitution der Natur!) das Rätsel
naturwissenschaftlich lösen. Ein organisierendes Übergesetz wird sich
experimentell nicht finden lassen und mit einer Art Zentral-Monade zu
spekulieren, wäre Metaphysik.
Der Materialist glaubt stringent zu argumentieren, wenn er seine Biologie mit
Informationstheorie anreichert. Die Zellen, so Nurse, interagierten und bildeten
einen hochkomplexen Organismus; was Kant mit dem Begriff der Teleologie
bezeichnet, der Zweckmäßigkeit eines Naturdings im Zusammenhang aller
Naturdinge, rechnet Nurse aufs Konto eines jeder Zelle eigenen
Informationsmanagements.
Mit dieser jeder Zelle eingeschriebenen Information gerät Nurse aber in
Widerspruch zu seinem Materialismus; denn die Zelle soll doch ganz einfach sein.
Mit ihrem Vermögen Information zu verarbeiten, erweist sie sich jedoch schon als
differenziert.
Um seine Theorie der informationsgesättigten, selbstorganisierten Zelle zu
plausibilisieren, greift Nurse zu einer Computer-Metapher. Die Metapher ist so
schief wie aufschlussreich. Noch der findigste Algorithmus, noch der
leistungsstärkste Quantencomputer brauchen zu ihrer Initialisierung den
Programmierer. Aber die Zelle in ihrem Datenaustausch mit den anderen Zellen,
hoch entwickelte Organismen emergierend, kommt ohne aus! Allen Zellen wären
demnach jeweilige Datensätze eigen, die sich selbst verknüpfend die
physikalische Welt begründen. Von den Genen zur Genesis! Was der Theologe Gott
nennt, würde sich dem Wissenschaftler als ein die belebte und unbelebte Natur
erzeugendes IT-Netzwerk kosmischen Ausmaßes enthüllen.
Agiert die Zelle nach ihrem einprogrammierten Code, muss Abschied vom zweiten
materialistischen Dogma genommen werden: Der Zufall und das computergleiche
Programm passen nicht zusammen. Der adaptierte Darwinismus verwickelt Nurse in
einen weiteren Widerspruch. Darwin liest er als einen Apologeten des Zufalls.
Die Selektion »macht die Argumente hinfällig, die einen göttlichen Schöpfer
bemühen.« Die Innovationen der lebenden Organismen gehen demnach auf zufällige
Mutationen, auf Abweichungen bei der Reproduktion durch die Zellteilung, zurück.
Die besser an die Umwelt angepasste Mutation ist die fittere und überlebt.
Die Darwinsche Selektion soll erklären , wie sich die einfache Zelle über
Milliarden von Jahren mit immer mehr Information anreichert und sich zu einem
hoch komplexen Gebilde entwickelt.
Wenn Selektion das Prinzip nicht nur der entstandenen, sondern auch der Natur in
ihrem ersten Entstehen sein soll, muss es zu Beginn der Naturgeschichte Auswahl
gegeben haben. Es soll aber einfache, unbelebte Materie gewesen sein, was den
Anfang der Entwicklung markiert, an dessen Ende ein vervielfältigtes Molekül
steht, das noch Bewusstsein besitzt (als Ausstattungsplus im Überlebenskampf).
Paul Nagel, der US-amerikanische Philosoph, hat die gähnende Lücke dieser
Kosmologie notiert. Dieser Naturalismus muss, seiner Voraussetzung nach , einen
Boden finden, der aber unauffindbar ist, muss er doch plausibel machen, wie aus
leblosem Stoff lebendige, komplexe Wesen entstehen.
Die durch Teilung sich reproduzierende Zelle sei durch chemische Reaktion aus
ihrer undifferenzierten Umwelt hervorgegangen, beteuert Nurse. Den Urstoff, nach
dem der alte Materialismus gesucht hat, durch die fünf Elemente ersetzen, hilft
aus der Kalamität aber nicht heraus. Dass der Kohlen- und die vier anderen
-Stoffe so wunderbar miteinander reagieren, gilt Nurse als eine
zufällige,weltschöpfende Symmetrie der Materie.
Der Zufall ist die gedankliche Konsequenz einer jeden naturalistischen
Weltauffassung. Mit dem Darwinismus lässt sich aber weder die Entstehung des
Bewusstseins erklären noch der Beginn der Evolution; er taugt nicht zur
Ursprungsphilosophie.
Der Biologe Nurse hat keinen Begriff vom erkenntnistheoretischen Status seiner
Naturgesetze. Diese Blindheit teilt er mit den Philosophien, die den
Naturwissenschaften eine Alleinzuständigkeit in Sachen Kosmologie zugestehen.
»Die Naturwissenschaft wies mir den Weg zu einem rationalerem Verständnis der
Welt », schreibt der Autor. Dieses Verständnis ist ein positivistisches. Der
Positivismus hat die Konsequenz aus dem Unvermögen des Materialismus gezogen:
Der Urstoff aus dem sich alles entwickelt haben sollte , ließ sich nicht finden;
deshalb hatte sich alle Erkenntnis auf die erscheinende Natur zu beschränken.
Den Naturwissenschaften sprach die positivistische Philosophie ein
Erklärungsmonopol zu, und in dieser Tradition entfaltet Nurse seine Theorie.
Hinter der Metaphorik von Computer und Info-Management ist sein Problem
versteckt. Er müsste zeigen können, auf welchem Gen der Chromosomen das
Koordinations-Gen codiert ist und wie dieses innerzelluläre Programm sich,
chemischer Gesetzmäßigkeit gehorchend, mit allen anderen Programmen so
verständigt, dass ein Wesen erzeugt und am Leben erhalten wird. Nur wenn ihm
dies gelänge, wäre sein Positivismus beglaubigt.
Würde Nurse über den Status seiner chemischen und physikalischen Gesetze
reflektieren, ginge ihm auf: Ein Naturgesetz regiert einen partiellen
Zusammenhang, zum Beispiel den des Herzens mit dem den Sauerstoff befördernden
Blutkreislauf. Es braucht das Zusammenspiel aller im menschlichen Organismus
ineinander greifenden chemischen und physikalischen Gesetze, damit ein Mensch
gehen, stehen und denken kann. Die zweckmäßige Anordnung dieser Gesetze ist
nicht die Wirkung eines weiteren Gesetzes, das sich mit dem Mittel der
Naturwissenschaften, dem Experiment, nachweisen ließe. Und der Mensch ist auch
nicht die Summe aller in ihm tätigen Naturprozesse.
«Die Naturwissenschaft«, um Nurse‘ Glaubensbekenntnis zu wiederholen, »wies
mir...« den Weg zu einem rationaleren Verständnis der Welt.« Ein Irrationalismus
ist diesem Wissenschaftspathos immanent, weil es sich weigert, als denknotwendig
zu verstehen, was durch Experiment und Mikroskop nicht zu bestätigen ist. Ohne
einen Weltplan, der die Naturgesetze und die symmetrischen Bausteine des Kosmos
auf ihren jeweiligen Zweck hin koordiniert, ist das Entstehen keines
Naturgegenstandes sinnvoll zu denken. Dieses formende Prinzip, ( ein Prinzip von
»höchster Vernunft« nennt es der Physiker Heisenberg), bleibt menschlicher
Erkenntnis verschlossen.
Dieses Prinzip ist schon vorausgesetzt, damit Naturwissenschaft überhaupt
möglich ist. Denn deren Gesetze setzen eine in Arten und Gattungen gegliederte
Natur, mithin eine Ordnung, voraus. Entfiele diese Voraussetzung, wäre die Natur
ein Chaos, und ihre Gegenstände wären heute so und morgen anders
zusammengesetzt. Naturgesetze, die einen identischen Ablauf für den nämlichen
Art- oder Gattungszusammenhang formulieren, wären unmöglich. Am menschlichen
Organismus als je einzelnem wäre nichts zu erkennen, das Allgemeingültigkeit
beanspruchen könnte.
Karl Heinz Haag, dessen Negative Metaphysik der Rezensent hier wiedergibt, sieht
die Naturwissenschaften auf einen - ihnen meist unbewussten - metaphysischen
Rahmen aufgespannt. Die von Haag formulierte Metaphysik überhebt sich nicht,
weil sie nicht vorgibt, das zu leisten, was eine unreflektierte
Naturwissenschaft insinuiert; Einblick in das innere Wesen eines Naturdings zu
geben. Das jeden Naturgegenstand formende Prinzip bleibt menschlicher, auf
sinnliche Wahrnehmung verwiesener Erkenntnis verschlossen.
Eine Selbstkonstitution der Natur ist nicht denkbar; wie aus einer allmächtigen
Instanz die Natur hervorgeht, bleibt der Vernunft verborgen; eine Metaphysik als
deduktives System, als Theologie, ist unmöglich, so Haag. Wie an dieser
Unerkennbarkeit nicht zu rütteln ist, so ist aber auch daran nicht zu rütteln:
Ohne die Sphäre des Wesens, wäre Erkenntnis, die doch Identisches voraussetzt,
nicht möglich.
Nurse glaubt es seiner Rationalität schuldig zu sein, dass er strikt
nicht-metaphysisch denkt, dabei verhält es sich umgekehrt und mit der
verweigerten Metaphysik rutscht der Positivist ab in die Irrationalität.
Dem Biologen und Genforscher Nurse käme es nicht in den Sinn, die Kantischen
Fragen: Was kann ich wissen, Was soll ich tun, zusammen zu denken. Das
nachmetaphysische Denken zeigt seinen Pferdefuß.
In dem besprochenen Buch wird die von der Gentechnik aufgeworfene alte Frage neu
verhandelt: Darf die menschliche Gattung alles tun, was sie zu tun vermag? Die
Unverfügbarkeit des menschlichen Organismus gehört mit der sogenannten Genschere
der Vergangenheit an. CRISP-Cas9, ein Enzym, das wie eine molekulare Schere
funktioniert, stellt die Gesellschaft vor eine radikal neue Situation. Eingriffe
in die Keimbahn menschlicher Embryonen sind nun möglich.
Mit der »Ingenieursbiologie«(Nurse)
eröffnet sich ein gigantisches Geschäftsfeld. Die DNA zu sequenzieren, kostete
einmal drei Milliarden Euro; heute sind es ein paar Hundert Euro. Den beiden
Wissenschaftlerinnen und Nobelpreisträgerinnen, die die Genschere erforscht
haben, bescheinigte der Generalsekretär der schwedischen Akademie der
Wissenschaften, dass sie»ein elegantes System den Code des Lebens umzuschreiben«
auf den Weg gebracht hätten. Der die Preisverleihung (in 2020 )kommentierende
Autor der FAZ notierte ein beängstigendes Schweigen der Philosophie. Schon 2018
hatte ein chinesischer Wissenschaftler die befruchtete Zelle seiner späteren
Zwillinge in der Petrischale gegen HIV immunisiert. Boomtown Shenzhen war seinem
Ruf wieder einmal gerecht geworden.
Wie darf in einer moralisch vertretbaren Weise diese Technologie angewandt
werden ? Das wäre eine Debatte von großer Dringlichkeit. Wird die äußere und die
menschliche Natur bloß szientistisch, als Produkt proteinbasierter Zellen
gesehen, die sich züchten lassen, - wie sie Nurse mit dem Prestige des hoch
dekorierten Wissenschaftlers sieht - werden Geld und Nützlichkeit das Kriterium
abgeben. Was den Reichen und Schönen dieser Welt, in ihrem Bestreben, sich zu
optimieren, taugt, wird dann den Ausschlag geben. Ein metaphysisches Denken
dagegen, das die Menschen-, die Tier-und die Pflanzenwelt als Schöpfung
begreift, wird ein ökonomisches Kriterium nicht für unhinterfragbar halten.
Nurse steht, wie erwähnt, in der angelsächsischen, Denktradition. Deren Skepsis
ist ein gutes Gegengift gegen eine die Grenzen der Vernunft überschreitende
philosophische Spekulation. Auch eine gewisse Liberalität ist diesem Denken
eigen. Nurse hält diese Skepsis noch sich selbst gegenüber durch. Was anfangs
als Theorie auftritt, wandelt sich im Verlauf seines Buchs in eine These. Er
fordert angrenzende Disziplinen auf, diese zu diskutieren. Er denkt an Physiker,
Mathematiker »und sogar Philosophen, die mehr Übung im abstrakten Denken haben.«
Worüber er schreibt, hätte eine gesellschaftliche Debatte sehr verdient. Wer sie
konträr zum vom Autor repräsentierten Geist führen will, wird dies aus äußerster
Defensive tun.
Artikel online seit 04.10.21
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Paul Nurse
Was ist Leben?
Die fünf Antworten der Biologie
Übersetzt von Hainer Kober
Aufbau Verlag, Berlin 2021
184 Seiten
20,00 EUR
9783351038885
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