Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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Literatur furniert

Überlegungen zu
Tendenzen gegenwärtiger Literatur

Von Lothar Struck
 

Nach der Lektüre von Helmut Böttigers "Die Jahre der wahren Empfindung" möchte man Hans Magnus Enzensbergers Text über den "Tod der Literatur" vom Kursbuch 1968 in Gänze lesen. Möglich ist es u. a. im Sammelband "Palaver – Politische Überlegungen 1967-1973", der 1974 erschienen war. Der Text trägt den etwas kryptischen Titel "Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend".

Böttiger zitiert in seinem Buch Peter Handke, der Enzensberger diesen "Verrat" nie vergessen werde. In der Tat wischte Enzensberger die Literatur, für die Handke eintreten wollte, ja: gedachte, zu erschaffen, mit einem Federstrich weg: Das "Schreiben von Gedichten, Erzählungen und Dramen" sei "von vornherein…nutz- und aussichtslos". Und wer "Literatur als Kunst macht, […] kann…nicht mehr gerechtfertigt werden." Die einzig legitime Form der Literatur sei eine revolutionäre. Aber die, so Enzensberger, existiere gar nicht mehr (auch nicht in der Sowjetunion). Ihre letzten Vertreter seien die Surrealisten gewesen. Revolutionäre Kunst habe längst die Literatur hinter sich gelassen und andere Medien entdeckt.

Enzensbergers Vorbehalte gegen die Nachkriegsliteratur speisen sich aus der Annahme, Literatur diene als Medium der Kompensation für die "totale Pleite des Deutschen Reiches". Deutschland – das Land des ungeheuren Zivilisationsbruchs – wollte sich, so die These, über die Literatur, wie man heute sagt, als Kulturnation neu erfinden. Der Antifaschismus, so Enzensberger 1968 mokant, begnügte sich damit, "einen besseren Geschmack als die Nazis zu haben". Man "kaufte" schlichtweg alles auf: "Bilder, auf denen nichts zu erkennen war, und Gedichte, in denen nichts stand". Mit der "Blechtrommel" habe man dann wieder "Weltniveau" erreicht.

Der Eindruck, dass die Literatur damals auch politische "Entlastungs- und Ersatzfunktionen" bot, war nicht ganz von der Hand zu weisen. Richtig war auch, dass "die Massen" andere Sorgen hatten als den möglichen oder beabsichtigten Tod der Literatur, "die nie bis an den Kiosk gedrungen ist". Denn im Grunde, so Enzensberger, wurde diese Literatur "von wenigen für wenige gemacht". Wer heute ein Suhrkamp Taschenbuch aus den 1970er Jahren in die Hand nimmt, wird allerdings erstaunt sein, welche Auflagen man dort finden kann. Literatur war damals DAS Medium; Eintritt in eine Diskurswelt. Enzensbergers Vorwurf, die Literatur sei "elitär", war in noch anderer Hinsicht absurd: Hatte doch er exakt diese "elitäre Literatur" in der Gruppe 47 mit organisiert und auch dafür gesorgt, dass die restaurativen Kräfte dort nicht präsent waren.

Der "Tod der Literatur" oder, genauer: der Gegenwartsliteratur Stand 1968, war für Enzensberger keine Apokalypse, sondern Verheißung: "Wenn die intelligentesten Köpfe […] mehr auf ein Agitationsmodell geben als auf einen 'experimentellen Text'; wenn sie lieber Faktographien benutzen als Schelmenromane; wenn sie darauf pfeifen, Belletristik zu machen und zu kaufen: Das sind freilich gute Zeichen."

Hier wird der Aufsatz auf eine merkwürdige Weise plötzlich nahezu prophetisch. Jenseits der banalen Feststellung, dass die Beachtung von Literatur aufgrund von Umwälzungen in den medialen Angeboten der letzten Jahrzehnte zwangsläufig Konkurrenz bekommen hat, kann man seit einiger Zeit eine Re-Vitalisierung der These von der Nutzlosigkeit von ästhetisch anspruchsvoller Literatur feststellen. Hierfür genügt ein Blick auf die aktuellen identitätspolitischen Ambitionen an Universitäten und in journalistischen Redaktionen. Denn heutzutage gilt längst in Teilen des akademischen Milieus Literatur, die nicht bestimmten politischen Anschauungen oder Zielen dient oder den aktuellen Gesinnungscodes widerspricht, nicht nur als elitär, sondern als überflüssig (und muss, wo sie besteht, entweder verändert werden oder notfalls verschwinden).

Viele Verlage antizipieren längst diese Haltung. In ihren Vorschauen wird die Qualität ihrer Publikationen immer stärker auf außerliterarische Bezüge wie Herkunft und Geschlecht oder auch das politische Engagement des Autors sowie die moralische Intention des Textes gelegt. Seit kurzem kursiert für solche Literatur der leicht spöttische Begriff des "neuen Midcult". Bezeichnend, dass selbst diese harmlose Beschreibung eine gewisse Empörung provozierte – Moritz Baßler, der diese These aufstellte, traf ins Wespennest.

Dabei ist der Absturz des literarischen Anspruchs zu Gunsten der Bedienung politisch-moralischer Pseudo-Relevanzen hin zum Polit- respektive Sozialkitsch bereits seit längerer Zeit im Gange. Bedauerlich, dass sich große Teile der professionellen Literaturkritik eingefügt haben, wenn auch bisweilen knirschend (so mein Eindruck). Man zählt beharrlich Quoten (und ist froh, etwas Empirisches bieten zu können), destilliert Interview-Aussagen von Autoren gleichberechtigt zum Buch und gibt sich ansonsten progressiv. Man nimmt in Kauf, dass Literaturkritik als Lektüresurrogat missbraucht wird. Überhaupt erfolgt die Rezeption zeitgenössischer Literatur immer seltener durch eine direkte Auseinandersetzung mit dem Primärtext und seiner Ästhetik. Es genügen die Zuschreibungen aus den Feuilletons.

Polemisch gesagt nähert sich Enzensbergers Wunsch dem Ziel (er selber ist längst am anderen Ende angekommen). Die zeitgenössische "woke", hypererregte Richterideologie, die Dominanz der Moral über die Kunst, erfüllt auf erstaunliche Art und Weise die Kriterien revolutionärer Literatur, wie sie einst Enzensberger forderte. Lediglich das Vokabular ist ein anderes. Niemand redet mehr wie 1968 von "Kulturrevolution" oder "Imperialismus". Aber es gibt "Aufforderungen" von Publizisten, Literatur möge doch bitte zeitgenössische Phänomene wie den Klimawandel oder Rassismus stärker thematisieren. Dabei sind die Salonlinken damals wie heute nie an Literatur interessiert, sondern sehen diese lediglich als Mittel zur Indoktrination des (in Wahrheit eher verachteten, als kleinbürgerlich denunzierten) Publikums. Wer möchte, kann sich in diesem Zusammenhang mit dem sozialistischen Realismus und der DDR-Kulturpolitik der 1960er-Jahre beschäftigen. Die Parallelen sind verblüffend. Der Unterschied: Es gibt keine staatlich verordnete Linientreue. Die wird durch die zahlreiche existierenden Stipendien-, Förder- und Preissysteme subkutan vorgegeben.

Und noch einen anderen Aspekt sah Enzensberger deutlich: Die fortschreitende Ökonomisierung der Kunst, der Literatur. Sie ist, wie man Entwürfen neuzeitlicher Ästhetikmodelle sehen kann, nicht mehr nur Nebenerscheinung (oder Auswuchs), sondern geradezu notwendig. Um die "Stilgemeinschaften" zu befriedigen, müssen künstlerische Werke deren Interessen bedienen, denn schließlich wird hiermit Profit generiert. Und da schließt sich auch der Kreis, den Böttiger gegen Ende seines Buches entwirft. Von der Ästhetischen Theorie zur Systemtheorie ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Ausrichtung der Kunst hin zur Marktkonformität.

Wie einst Verfremdungen von Klassikern durch egomanische oder einfach nur gelangweilte Regisseure das Theater bis auf wenige Ausnahmen zielsicher ins künstlerische Abseits befördert haben, sägen die Baumeister des neuen Moralismus auf der einen und die Lobbyisten der Stilgemeinschaften auf der anderen Seite gemeinsam den Baum ab, den sie einst vorgaben, pflegen zu wollen. Die Hoffnung auf ein paar schöne massive Möbelstücke aus seinem Holz dürfte Illusion bleiben. Es dürfte allenfalls zu Furnier reichen. Literatur furniert.

Artikel online seit 08.11.21
 


Als Lesen noch
geholfen hat

Von Lothar Struck
Artikel lesen
Helmut Böttigers ergiebiger Spaziergang durch
»die Jahre der wahren Empfindung«
»Die Literatur zu Beginn der 70er Jahre wird in Anlehnung an Barbara Maria Kloos, die damals wie so viele eine Literaturzeitschrift aus dem Boden stampfte, als 'Abenteuerspielplatz' erzählt. Eine Matrize nebst Umdrucker genügte, um Gedichte und Erzählungen zu veröffentlichen. Ein Publikum fand sich fast immer. Es herrschte Aufbruchstimmung.«

 


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