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Shining in Herford

Die Kulturhistorikerin Monika Black auf den Spuren von
Hexen,
Wunderheiler und die Geister der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland

Von Peter Kern
 

Das Buch handelt von einer Zeit, in der die Alufolie noch Stanniolpapier hieß und in der viel geschwiegen wurde. Die in der Nachkriegszeit über ihre Vergangenheit schwiegen, hieß man die Braun-Schweiger, und Braunschweig war überall. Die erste gewählte Bundesregierung nutzte die ihr von den Alliierten gewährte Rechtssouveränität sofort, um ein Amnestiegesetz zu verabschieden. Das Straffreiheitsgesetz reichte zehn Jahre zurück. Wer am Novemberpogrom 1938 beteiligt war, hatte vielleicht die Scheiben des jüdischen Nachbarn eingeworfen, aber verbrochen hatte er nichts.

In den frühen 50er Jahren gab es drei für die entstehende Bundesrepublik augenfällige Phänomene: Marienerscheinungen in den katholischen, Hexenwahn in den protestantischen Teilen des Landes und zwischen den Landesteilen frei flotierende Wunderheiler. Über diese Phänomene schreibt Monica Black. Anfänglich zitiert sie Konrad Adenauer: „Wir haben so verwirrende Zeitverhältnisse hinter uns, dass es sich empfiehlt, generell Tabula rasa zu machen.“ Aber eine nicht gesühnte Schuld schafft neue Verwirrung. Sie rief den Glauben an Stanniolkügelchen hervor, mit denen sich Krankheiten würden heilen lassen. Die Kügelchen enthielten geschnittene Fingernägel oder Haare eines Wunderheilers. Ein Nachkriegs-Heiland hieß Gröning, und man geht nicht fehl, den Göring zu assoziieren. Obwohl der Göring dick und der Gröning nur ein Hemd und ein kleines Licht in der Partei war.

Der Asket, um dessen Biographie das Buch gebaut ist, war ein mit Okkultismus operierender Heiler. Ihn erreichten Tausende von Briefen, und wenn er sich öffentlich zeigte, versammelten sich Tausende von hilfesuchenden Menschen, darunter viele Frauen. Manchmal beteten seine Anhänger Zu uns komme Dein Reich; manche gerieten bei seinem Auftritt in Ekstase. Der aus Danzig stammende Bruno Gröning war langhaarig, rauchte Kette, trank starken Kaffee und kam im schwarzen Look der Existentialisten daher. Ein bettlägeriges, an Muskelschwund leidendes Kind in Herford stand am Anfang seiner Karriere. Nachdem er das Krankenzimmer verlassen hatte, spürte das Kind erst ein Kribbeln in den Beinen, und bald konnte es wieder gehen.

Geschichten von Tauben, die wieder hören, von Blinden, die wieder sehen, von Lahmen, die wieder gehen konnten, verbreiteten sich. Titelstorys und Artikelserien im Spiegel und in der Regenbogenpresse erschienen. Ein Gesetz aus der Nazizeit hatte okkultistische Praktiken von der Heilkunde ausgeschlossen und unter Strafe gestellt. Musste das Heilpraktiker-Gesetz novelliert werden? Ein Bundestagsausschuss wollte sich Klarheit über Gröning verschaffen. Einer der Gutachter war Viktor von Weizäcker, ein Mediziner aus der berühmten Familie. Die verwirrenden Zeitumstände, von denen Adenauer sprach, forderten erneut ihren Tribut. Von Weizäcker sollte den Geisteszustand Grönings beurteilen. Den Geist verortet man traditionell im Gehirn. Der Mediziner hatte der Gehirnforschung gedient und sein Gegenstand waren die Gehirne durch Euthanasie umgebrachter Kinder. Das war in den 40er Jahren in Breslau gewesen; in den 50ern zählte der Neurologe zu den Leuchten der hoch geachteten Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg.

Gröning, der Konkurrent der akademischen Mediziner, hatte den besseren Zugang zu den Krankheiten des psychosomatischen Formenkreises. Ein Kind wurde durch eine Bombe getötet, und das Herz der Mutter litt unter Attacken. Verschüttete verloren ihr Gehvermögen, Vergewaltigte ihre Sprache. Jedes Wohnhaus in Deutschland ist ein Krankenhaus, sagte Gröning; unter jedem Dach ein Ach, antwortete der Volksmund. Die Schulmedizin kapitulierte vor den gelähmten Armen, Beinen und Stimmbändern. Der magische Mediziner bearbeitete eine Marktlücke. Auf welche Weise heilte er und heilte er wirklich? Die Autorin will sich nicht in Spekulationen ergehen.

Gröning war ein Vertreter alternativer Medizin, würde man heute sagen. Er kritisierte die rationalistisch ausgerichtete, mit einem mechanistischen Blick auf den menschlichen Leib behaftete Schulmedizin. So hätte er das nie ausgedrückt, denn seine Sprache war einfach, aphoristisch und dabei nebulös, schreibt die US-amerikanische Historikerin. In Gröning findet sie einen Charismatiker, der die grandiosen Augenblicke liebt, die er selbst hervorbringt, der als Frauenheld gilt und als ein starker Trinker nicht nur schwarzen Kaffees. Dieser Charismatiker, so die Autorin, findet sein ideales Umfeld in der postfaschistischen Gesellschaft vor. Sie zitiert einen Bundestagsabgeordneten, der sich dafür ausspricht, ein „Vergessen über die Vergangenheit zu decken.“ Doppelt gemoppelt hält besser. Die Volksvertreter hatten den dringlichen Ruf ihres Volks nach Amnestie vernommen.

Mit den Amerikanern kam die empirische Sozialforschung nach Deutschland. Vier Jahre nach Auschwitz forderten 83 Prozent der in der amerikanischen Besatzungszone lebenden Deutschen, es solle endlich einmal Schluss mit der Vergangenheit und der Entnazifizierung sein. Wer in dieser Zeit aufgewachsen ist, hatte mit der psychischen Verfassung hinter der von der Autorin genannten Zahl zu tun: Mit dem Willen, wegzusehen von der eigenen Schuld und mit der Härte gegen sich selbst, die aus der unterbliebenen Trauer um die nächsten Angehörigen resultierte. Oder unterblieb die Trauer gar nicht und wurde vor den Kindern nur versteckt, um diese nicht zu belasten? Die Gefühlswelt der Eltern gab Rätsel auf. Aber verwirrt war nur der Fragen stellende Teil der Jungen; für den großen Rest ging es mit dem Wirtschaftswunder wunderbar weiter.

Die Familiengeheimnisse wurden im wirklichen Leben wie nebenbei ausgeplaudert. Diesem Nebenbei widmet sich die Autorin. Sie lässt einen ehemaligen Wehrmachtssoldaten zu Wort kommen, der seine Krebserkrankung mit einer Schuld zusammenbringt, die er gleichwohl nicht sieht: „Ich hab‘ ein Maschinengewehr gehabt, bei uns ist viel, viel passiert, also – mit dem Russen -, also was da…Ich hab‘ so weiter niemand was getan, bloß in der Stellung vorne, haben wir ja müssen.“ Sie kommentiert die zerfetzte Erinnerung nüchtern, erwähnt, dass ein deutscher Soldat mit dem von der Wehrmacht benutzten MG etwa 1000 Kugeln pro Minute schießen und auf 2000 Meter sicher treffen konnte.

Der falsche Messias Gröning war so erfolgreich, weil er Anschluss an die Gefühlswelt seiner Anhänger fand, die noch nach Führer und Erlösung gierte. Die in dem Buch verhandelte Sache lässt sich aber mit einem schwarz-weiß-Bild nicht erfassen. Die Autorin erwähnt einen Konkurrenten Grönings, auch er ein falscher Messias mit großer Gefolgschaft. Im Kernland der protestantischen Sekten, im Bergischen Land, redete ein Rasierklingen-Unternehmer Klartext: „Man hat sechs Millionen Juden totgeschlagen, und zwar unser Volk hat das getan.“

Die katholischen Landesteile Westdeutschland erleben zur gleichen Zeit ein Dutzend sogenannter Marienerscheinungen. Die Jungfrau scheint vom Zeitgeist affiziert, denn sie warnt vor dem Einmarsch der Roten Armee. Von ihr fühlen sich auch Männer angezogen, die ein Konzentrationslager hinter sich haben. Der Chiliasmus ist doppeldeutig. Die ihm anhängen, sehen zu lesende Zeichen. Diese Männer sehnten sich vielleicht nach einem kommenden Reich, in dem mit Hilfe der Mutter Gottes das an ihnen begangene Unrecht gesühnt wäre. Vor dem Weltende liegt die Apokalypse, der Tag der Abrechnung. In der christlichen Prophetie ist dieser Gedanke tief verankert; die Autorin verweist darauf. Jedoch die irdische Abrechnung fiel wieder ganz anders aus. Im Heimatdorf des Rezensenten wiegelte der Pfarrer die katholische Jugend gegen die Apokalyptiker auf. Unter den Steinwürfen der Kolping Jugend zersplitterten sämtliche Fenster des Hauses, in das sich die Marienverehrer zurückgezogen hatten. Eine Wiederholung der sogenannten Kristallnacht mit vertauschten Opfern.

Das Bundesland mit den ehemals meisten NSDAP-Mitgliedern, Schleswig-Holstein, war Schauplatz zahlreicher Beschuldigungen wegen Hexerei. Das erfährt der Leser, den die US-Amerikanerin auf eine Reise durch die deutschen Landen und ihre Vergangenheit mitnimmt, in einem weiteren Kapitel des Buchs. Die Sehenswürdigkeiten, die sie zeigt, schauen wahrlich wenig würdig aus, und trotzdem lohnt es sich, genau hinzusehen. Man nimmt wahr, was die Autoren der Kritischen Theorie sekundären Antisemitismus nennen. Frau Black ist Historikerin für neuere europäische Geschichte, Gesellschaftstheorie ist nicht ihr Fach. Aber Begriffe brauchen Anschauung, sonst fehlt das Fleisch auf den Rippen, und anschaulich zu schreiben, ist ihre Stärke.

Es ist ihre Stärke und ihre Schwäche zugleich; denn hinter der Anschauung tritt der Begriff weit zurück. Zwischen Hexenverfolgung und Judenpogrom macht sie eine Ähnlichkeit aus, die den tiefergehenden Unterschied verwischt. Die Juden wurden als die Herren der Zirkulationssphäre gesehen und für ein Unrecht verfolgt, das in der Produktionssphäre seinen Ort hat, findet dort doch ungleicher Tausch und Aneignung des Mehrprodukts statt. So hat den Antisemitismus eine Theorie analysiert, die von der Sozialpsychologie ebenso ihren Ausgang nimmt wie von der Kritik der politischen Ökonomie. In den als Hexen bezeichneten Frauen der Nachkriegszeit Vertreterinnen der Zirkulationssphäre zu sehen, eine solche Analogie ergäbe keinen Sinn. Die Autorin hält sich von Theorie weitgehend fern, mit Ausnahme einer planen Sündenbocktheorie. Was die Autoren der freudianischen Linken über Antisemitismus geschrieben haben, wird von ihr nicht rezipiert.

In epischer Breite Auszüge aus Prozessakten zu lesen, hat etwas Ermüdendes. Man erfährt von einem Prozess, der gegen Gröning anhängig war. Einem an Tuberkulose gestorbenen Mädchen hat er geraten, die ärztliche Behandlung abzubrechen. Er wird verurteilt, tritt aber die Haftstrafe nicht mehr an. Er stirbt an Magenkrebs und mit ihm verschwindet der Hype. Der längst wieder bettlägerige Herforder Junge stirbt ebenso. Nach 300 Seiten möchte man das Gelesene endlich einmal eingeholt, gewissermaßen gekeltert sehen. Black verschenkt, was sie bei Mitscherlich über Gröning gelesen hat. (Mitscherlichs Lehrer war Viktor von Weizäcker gewesen; akademische Biographien in Deutschland waren schon sehr speziell) Zwar zitiert sie ihn: „Die Erkaltung der Beziehung der Menschen untereinander ist unfaßlich, kosmisch wie eine Klimaschwankung.“ Aber aus dem Zitat macht sie wenig. Mitscherlich zeigt autoritäre Charaktere, die Gröning für einen göttlichen Boten nehmen. Die mit seiner Ehefrau Margarete geschriebene Unfähigkeit zu trauern kündigt sich an. Die ausgebliebene Trauer um den geliebten Führer zeitigt eine Verschiebung. Die postfaschistische Liebe gilt einem neuen Scharlatan.

Die Psychopathologie des Alltags in einer Republik ohne Republikaner - daran wäre anzuknüpfen gewesen. Die Autorin ergeht sich in Gemeinplätzen: „Die Menschen bekamen alle möglichen Hypothesen zu hören und machten sich Gedanken über eine ganze Reihe möglicher Kriegsergebnisse.“ Als Chiffren gelangten die beschwiegenen Verbrechen an die Oberfläche, aber die Chiffren zu übersetzen, ist etwas anderes als die Ereignisse abzuschildern. Sehr treffend nennt sie die spukhaften Obsessionen der deutschen Nachkriegsgesellschaft „falsch etikettiert.“ Wo aber ist das richtige Etikett?

Das Buch über die deutschen Dämonen endet etwas dämonisch. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die kann man nicht verstehen, schreibt Black sinngemäß. Dem ist wohl zuzustimmen; Rationalität hat ihre Grenze. Aber diese der Vernunft gezogene Grenze anzuerkennen, ist etwas anderes, als sich in Irrationalität zu flüchten. Black will am Numinosen partizipieren. Die Wunderheiler wirkten wirkliche Wunder, und man werde vielleicht nie verstehen, worauf dies alles beruhe. Ihr Buch endet wie Shining, der Film mit einem grandiosen Jack Nicholson. Der wird verrückt, weil das ihm übereignete Hotel auf einem ehemaligen Indianerfriedhof steht, und sich die Geister der Toten von ihm gestört fühlen. „Manchmal müssen wir einfach hören, was die Geister zu sagen haben“, schreibt die Autorin und diesen Satz will sie ganz unmetaphorisch verstanden wissen.

Der Glaube an die schützende Kraft der Alufolie ist kein Überrest einer vormodernen Welt, der in der modernen einfach verschwindet; das Buch über die deutsche Vergangenheit verweist auf die Gegenwart. Die Träger von Alu-Hüten, die Verschwörungstheoretiker haben wieder Konjunktur, und die konformistischen Rebellen der Nachkriegszeit heißen heutzutage die Querdenker.


Artikel online seit 07.01.22
 

Monica Black
Deutsche Dämonen
Hexen, Wunderheiler und die Geister der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland
Klett-Cotta
423 Seiten
26 Euro

Leseprobe & Infos

 

 

 


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