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Bolschewismus & Glaubensverlust in den Highlands

Lewis Grassic Gibbons schottische Erzähl-Trilogie ist eine literarische Entdeckung

Von Wolfram Schütte
 

Bevor sie selbst als Schriftstellerin bekannt wurde - z.B. mit »Hain« (Roman) oder »Schiefern« (Lyrik) -, hat die 1956 geborene Esther Kinski seit 1986 polnische, russische & englischsprachige Literatur ins Deutsche übersetzt.

Vermutlich war sie es auch, die dem Verleger Guggolz für seinen gleichnamigen Verlag die Übersetzung der Romantrilogie »A Scots Quair« (1932/34) vorgeschlagen hat. Bislang hat Kinsky deren ersten & zweiten Band (»Lied vom Abendrot« & »Wind und Wolkenlicht«) mit Sprachlust & Bedachtsamkeit für adäquate deutsche Entsprechungen der schottischen Dialekteigenheiten übertragen. Der abschließende Band wird demnächst folgen. Wie man Wikipedia entnehmen kann, hat dieser schottische Schriftsteller der Zwischenkriegszeit erst mit den nach der Trilogie gedrehten BBC-Serien in Großbritannien allgemeine Aufmerksamkeit gefunden.

Der 1901 im nordostschottischen  Aberdeenshire geborene Autor, der 1935 in der sozialreformerischen »Gartenstadt« Welwyn Garden City, nördlich von London, gestorben ist, war schon in jungen Jahren Journalist, verlor aber aus politischen Gründen seine heimische Arbeitsstätte & trat als Verwaltungsangestellter der britischen Armee bei, war im Vorderen Orient & Indien stationiert & wurde 1929 ausgemustert.

Während seiner RAF-Zeit hat er seine literarische Karriere begonnen. Es sei das Ziel des bislang bei uns völlig unbekannten Autors gewesen, schreibt seine Übersetzerin in »Wind und Wolkenlicht«, die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in Dorf, Kleinstadt & Großstadt Schottlands in jeweils einem Roman darzustellen. Der »Große Krieg«, seine Materialschlachten, Menschenschlachtungen & traumatisierten Soldaten hatte überall in der europäischen Welt zu radikalen sozialpolitischen & ökonomischen Umwälzungen geführt – bis in die abgelegensten Winkel Schottlands hinein.

Grassic Gibbons schottische Trilogie gruppiert eine Vielzahl von Personen um die Lebensgeschichte der eigensinnigen Häuslertochter Chris Guthrie. Ihr erster Mann war während des Großen Krieges in Belgien gefallen, die Witwe hatte ihrem Sohn Ewan den Vornamen ihres Mannes gegeben, bevor sie in einer zweiten Ehe den Pastor Robert Colquohoun heiratete, der zwar lebend, aber durch den Gaskrieg als Lungenkranker geschädigt, in seine schottische Pfarre zurückgekehrt war.

Mit ihm zieht sie in die fiktive Kleinstadt Segget, fällt aber sogleich auf, weil man beobachtet hat, dass die neue Pfarrersfrau in den Kaines über Nacht war - einem unwirtlichen Gebirgszug mit urzeitlichen Steinsetzungen, der sich hinter Segget erhebt. Die Irritation über das nächtliche »Fremdgehen« von Chris ist nicht bloß Klatsch unter den bigotten Kirchenbesucherinnen, sondern auch ein fast überdeutliches Zeichen dafür, dass Chris mit dem Glauben ihres zweiten Ehemanns nichts zu tun hat – was der ebenso herzlichen wie sinnlichen Liebe der beiden nicht abträglich ist.

Die junge Frau fühlt sich offenbar von der Natur jenseits des engen Kreises des Kirchspiels oder sogar der menschlichen Gesellschaft magisch angezogen. Auch ihr Sohn sammelt von Kind auf Fundstücke frühester menschlicher Zivilisation in den Highlands. Die rätselhafte Chris Guthrie mit ihrer erotischen Beziehung zu den chthonischen Mächten – in der Zeitgenossenschaft von D.H. Lawrence - dürfte die eine, irrational-»heidnische« Seite des schottischen Romanciers pointieren; die andere ist sein radikaler Sozialismus.

Er beschreibt in »Wind und Wolkenlicht«, wie die bürgerlich verachteten & als «Spinner« titulierten Textilarbeiter am Rande von Segget einen »bolschewistischen« Streik beginnen, den der Pastor gegen die Erwartung seiner bürgerlichen Gemeindemitglieder ideell unterstürzt. Als die Revoltierenden von der Londoner Führung der Labour-Party verraten werden, der Pastor zusammen mit anderen ein geplantes Attentat verzweifelter Revolutionäre gerade noch verhindern kann, verliert zur gleichen Zeit die hochschwangere Chris das Kind, das sie erwartet hatte.

Die traumatische Erfahrung einer sozialen Niederlage des Proletariats, das den Generalstreik gewagt hatte & der hämische Triumph des gnadenlos die unbotmäßigen Arbeiter selektierenden Bürgertums wird von dem schottischen Dichter nicht nur mit dem biologischen Unglück der dominant-solitären Chris synchronisiert, sondern auch mit dem Glaubensverlust des religiös fanatisierten Pastors, mit dem sie – scheel von der bigotten Gemeinde der leibfeindlichen Presbyterianer betuschelt – ihr zweites Kind gezeugt hatte. Am Ende seiner letzten Predigt, in der er die gescheiterte Weltrevolution als Apokalypse des Christentums deutet, stirbt der gesellschaftlich isolierte Pfarrer von Seggett, dem Christus auf einer Landstraße erschienen war, an einem Blutsturz auf der Kanzel.

Zwischen solcher Melodramatik & satirischer Drastik, mit der Grassic Gibbon die »bessere Gesellschaft« der schottischen Kleinstadt & Provinz darstellt, spannt er in »Wolke und Wolkenlicht« den Erzählbogen des Romans – nicht zu vergessen aber auch ist die subtile sprachliche Evokation von Natur & Wetter bis in zarteste Nuancierungen.

Zur bislang unentdeckten Qualität des linksradikalen schottischen Romanciers der Zwischenkriegszeit gehört der häufige ironisch-groteske Perspektivwechsel der Erzählung. Besonders originell scheint mir zu sein, wie die auktoriale Erzählung immer mal wieder die Position eines kollektiven »wir« einnimmt & damit den Rumor der bürgerlichen Gesellschaft einnimmt & abfällig über »die Spinner« oder den allzu christlichen Prediger herzieht. Ebenso eigenartig für das Romanwerk des Schotten ist die subtile Charakterisierung der Personen & Klassen durch ihre unterschiedliche Sprache. Man könnte sich vorstellen, dass es diese komplexe Sprachwelt war, welche die Übersetzerin besonders affiziert hat. Was sie im Deutschen als Adäquanz gefunden hat – Plattdeutsch & eine neologistische Dialekterfindung -, ist allerdings nicht immer so einleuchtend wie ihre gelegentlich phonetische Schreibweise.

Der außergewöhnliche schottische Erzähler Lewis Grassic Gibbon aber ist Dank der enthusiastischen Initiativen einer Übersetzerin & eines Kleinverlegers für deutschsprachige Leser, soweit als nur möglich in allen seinen Eigenarten gerettet, übertragen worden. Chapeau!


Artikel online seit 12.01.22
 

Lewis Grassic Gibbon
Wind und Wolkenlicht
Roman
Aus dem schottischen Englisch von Esther Kinski
Guggolz-Verlag
341 Seiten
26,00 €
978-3-945370-32-2

 

 


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