Ein weiterer Band zu Walter Benjamin?
Die Titel der Reihe der
Europäischen Verlagsanstalt ad … wollen offenkundig an das Bändchen Ad
Carl Schmitt: Gegenstrebige Fügung erinnern, in dem Jacob Taubes 1987 auf
den umstrittenen deutschen Verfassungsrechtler Schmitt aufmerksam macht, mit dem
Walter Benjamin einen Briefwechsel führte. Das Buch von Wolfgang Kraushaar:
ad Walter Benjamin. Eine Verteidigung gegen seine Bewunderer kommt damit
darüber hinaus auch neben anderen Zeugnissen zu stehen, wie sie von Benjamins
Zeitgenossen abgegeben werden. Zwar ist Kraushaar kein Zeitzeuge Benjamins, dazu
ist er zu jung; wohl aber besitzt er das richtige Alter, um wie kaum ein anderer
die Benjamin-Rezeption innerhalb der studentischen Protestbewegung zu
überblicken. Kraushaar ist der Chronist des Protests und des linken Terrorismus
in Deutschland. Vor allem aber gilt: ihn treiben politische Fragen um.
Eine frühe Verhinderung als lebenslanger Zugang
In den fünf Texten geht
es so auch immer um biografische Motive in Kraushaars Beschäftigung mit
Benjamin. Kraushaar schildert, wie er über die „Suhrkamp-Kultur“ zu dessen
Texten kommt und es seinerzeit wagte, ein Dissertationsthema zu wählen, das mit
noch nicht herausgegebenen Texten Benjamins, nämlich denen zum Passagenwerk,
zu tun hatte. Hier beißt er bei dem Herausgeber Rolf Tiedemann frühzeitig auf
Granit. Tiedemann hatte sich selbst im Hinblick auf die Freigabe von
Manuskripten aus dem Frankfurter Archiv eine unumschränkte Priorität eingeräumt.
Dahinter mussten alle anderen Forschungsinteressen zurückstehen. Auch Kraushaar
durfte seine Arbeit über die politische Bedeutung des Fetischcharakters der Ware
im Passagenwerk nicht schreiben. Ihm wurde kein Einblick in die
Manuskripte gewährt, bevor Tiedemann 1982 seine Auswahl des Passagenwerks
entsprechend kommentiert und veröffentlicht hatte. Kraushaar nahm es mit Humor.
Er sagte sich: Wer weiß, wozu das gut ist und schrieb eine andere Doktorarbeit.
Das Projekt aber begleitet ihn weiterhin sein Leben lang. Davon handelt das
vorliegende Buch.
Produktive Bruchstücke einer politischen Rekonstruktion
Die biografische
Verbindung gesteht der Autor gleich im ersten Vortrag ein. Wie der
österreichische Autor Robert Menasse in seinem Roman Selige Zeiten, brüchige
Welt (1991) von seiner Hegellektüre, so berichtet Kraushaar zunächst von
seinen Erfahrungen mit der Lektüre Benjamins innerhalb der Studentenbewegung.
Und wie Menasse dann anschließend seinen Dissertationstext Phänomenologie der
Entgeisterung: Geschichte des verschwindenden Wissens (1995) als Nachschrift
veröffentlich, so schiebt Kraushaar nun sein Exposé der ungeschriebenen
Doktorarbeit hinterher. Die Leser erkennen: es hätte ein noch wichtigerer
Beitrag zum politisch verkannten Benjamin werden können und vielleicht auch
frühzeitig auf die Ordnung der Manuskripte Einfluss genommen. Das hätte sie
möglicherweise bereits auf der Ebene des Materials vor der Entstellung gerettet,
in der sie heute in der Publikation vorliegen.
Denn Kraushaar fokussiert konsequent
auf Benjamins rhapsodischen Politikbegriff, der auf eine Unterbrechung des
Bestehenden aus ist.
Der bedient sich bei den Anarchisten Sorel, Bakunin, bei Blanqui
und besitzt eine gewaltige Verwandtschaft mit Trotzki. Wie Kraushaar zeigt, ist
Benjamin Antihegelianer und mag auch dessen Begriffe der Vermittlung und der „Durchdialektisierung“
nicht, mit denen ihn dann Adorno in den Dreißigerjahren traktiert, seine eigenen
Überlegungen zur Dialektik systematisch zerstört und dort hintertreibt, wo
Tiedemann und die Seinen dann weitermachen. Kraushaar erkennt dagegen bereits,
dass Benjamin auf einen spontanen, nicht abgeleiteten Eingriff einer direkten
Aktion setzt. Der ist noch einmal anders als seine Bewunderer in der
Studentenbewegung dachten. Kraushaar weist überdies darauf hin, dass Benjamin
für die Studenten nach ihren Enttäuschungen mit Horkheimer und Adorno, die den
Vietnamkrieg der Amerikaner verteidigten, als der eigentliche Revolutionär der
Frankfurter Schule galt, der sich bereits mit dem Text „Zur Kritik der Gewalt“
von 1921, dann aber vor allen Dingen mit den Thesen „Über den Begriff der
Geschichte“ von 1940 an die Revolutionierung der Revolutionäre gewagt
habe.
Vom Erfahrungsverlust zum Ausnahmezustand
Der folgende Aufsatz zum
Erfahrungsbruch nimmt einen weiteren Faden des liegengebliebenen
Dissertationsprojekts auf. Er beginnt mit Motiven der Unterbrechung und des
Innehaltens in Benjamins Physiognomie und im Text, um sich dann einer Dialektik
des Erfahrungsverlust und der Verlusterfahrung zuzuwenden. Dessen politische
Implikationen zeichnet Kraushaar instruktiv nach und aktualisiert sie nicht
allein im Hinblick auf die Achtundsechziger-Bewegung, sondern verfolgt sie bis
heute.
Von dieser Aktualisierung handeln auch die letzten beiden Texte zum
Ausnahmezustand. Was die damaligen Studenten und die politischen Denker bis
heute besonders interessiert, sind Benjamins entsprechende Überlegungen, die er
Anfang der Zwanzigerjahre zusammen mit Carl Schmitt und gegen diesen anstellt.
Schmitt – Verteidiger der Morde des sogenannten Röhm-Putsches 1934 und der
Nürnberger Rassegesetze 1935 – war zu der Zeit noch Anhänger des Reichskanzlers
von Papen. Er befindet sich aber bereits auf dem Weg zur eigenen Faschisierung:
hatte er der doch wichtige Texte zur Kritik des Parlamentarismus, der Diktatur
als Regierungsform und der Politischen Theologie veröffentlicht. Er war längst
Anhänger Mussolinis und einer nationalen Revolution, als welche er auch
die Oktoberrevolution von 1917 in Russland erkennen wollte. Benjamin, der aus
der Jugendbewegung kam und auch dort von einer anderen Gemeinschaft als die der
Nazis und ihrer „Volksgemeinschaft“ ausging, besitzt dennoch einige
Berührungspunkte mit Schmitt. Diese „gefährlichen Beziehungen“ (Susanne Heil)
hatten dazu geführt, dass sein Briefwechsel mit dem NS-Juristen – der 1936 bei
den Nazis selbst in Ungnade fällt, aber weit über dessen Ende hinaus ihren
Angriffskrieg weiter glühend verteidigt – von Adorno und Scholem aus dem ersten
Band der Briefe Walter Benjamins ausgeschlossen worden war.
Walter Benjamin und der bewaffnete Kampf
Der Ausnahmezustand war
nun als Notstand etwas, was auch die Studenten von 1967/68 interessierte.
Und so finden sich in der Zelle von Andreas Baader in Stuttgart-Stammheim nicht
nur Ausgaben von Benjamins Geschichtsthesen, sondern auch von Carl
Schmitts Werk über den Partisanenkampf im Nachkriegsdeutschland von 1963.
Schmitt denkt die Herbeiführung des Ausnahmezustands von rechts, was Andreas
Baader ebenso interessierte. Die Nazis hatten bekanntlich am 28. Februar 1933
den Ausnahmezustand ausgerufen und ihn von selbst nie wieder beendet; er war die
Voraussetzung ihrer Politik und endete erst 1945. In gewisser Weise setzte das
Viermächteabkommen diesen Status fort. Das galt besonders für Berlin und besitzt
ebenfalls noch Auswirkungen bis heute.
So wurden die Bundesrepublik und später die DDR nach 1945 zum Tummelplatz für
Aktionen der US-Army, der CIA, der Roten Armee und des KGB, vertreten auch durch
die lokalen Dienste wie MAD und BND im Westen und die Stasi im Osten. Diese
heuerte ihrerseits 1958 unter anderem Ulrike Meinhof (bereits 1956 ihren Mann
Klaus Rainer Röhl) als Agenten an und gewährte später abgetauchten
RAF-Mitgliedern im Osten unterschlupf.
Kraushaar erinnert daran, dass diese Überlegungen für die Studenten zwischen
1968 und dem „Deutschen Herbst“ 1977 wichtig wurden, nämlich zwischen den
Aktionen des SDS gegen die Notstandsgesetze und der Entführung von Hanns Martin
Schleyer durch die Rote-Armee-Fraktion. Nicht ohne Grund befürchteten die
Studenten 1967, dass der Bundesrepublik ähnliche juristische Maßnahmen wie der
Weimarer Republik an ihrem Ende ins Haus standen, an denen Schüler von Carl
Schmitt wiederum in Amt und Würden maßgeblich beteiligt waren. Dass in der alten
„Bunzeplik“ (Martin Walser) der Rechtsradikalismus nicht außen in der NPD,
sondern hauptsächlich innerhalb der legalen Institutionen anzutreffen war, ist
bereits 1968 kein Geheimnis. So ist das Bundesverfassungsgericht noch Jahre über
diese Periode hinaus mit entsprechenden Leuten besetzt. Kraushaar, der damals
der Asta-Vorsitzende der Universität war, schreibt: „Der Adorno Schüler und
führende Kopf im Frankfurter SDS, Hans-Jürgen Krahl […] vertrat die Ansicht,
dass sich der Staat damit den Faschismus als Handlungsoption für Krisenzeiten
inkorporiert hätte.“ Das war also eine Motivation für die Studenten, Benjamins
Lesarten des „wirklichen Ausnahmezustands“ dagegenzusetzen.
Im Deutschen Herbst 1977 fanden die Gesetze um den Paragraf 34 Grundgesetz
tatsächlich Anwendung gegen die Rote-Armee-Fraktion, wie es Kraushaar,
der nicht nur der durchaus kritische Chronist der Studentenbewegung, sondern
auch des linken Terrorismus in Deutschland ist, und sich dabei einen nüchternen
Ton angeeignet hat, genau nachzeichnet. Ob Andreas Baader, der Benjamins VIII.
These über die „Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes“ in einem
Kassiber zitiert, Benjamin wirklich missversteht, wie es Kraushaar auch mit
Bezug auf Irving Wohlfarth meint, bleibt dahingestellt. Eine genaue Lesart von
Benjamins Text „Zur Kritik der Gewalt“ von 1921 zeigt bei diesem eine
verschlüsselte, aber gleichwohl vorhandene Verteidigung des Tyrannenmordes als
direkte politische Aktion – und eben keine romantische „messianische Aufgabe“.
Das eine bestand im andern.
Eine falsche Inanspruchnahme
Kraushaar betont die
falsche Inanspruchnahme Benjamins durch die RAF mit der These, dass die
Bundesrepublik zu einem faschistischen Staat geworden sei. Dadurch wäre eine
eigene Notwehr im Sinne des „wirklichen Ausnahmezustandes“ mitnichten
gerechtfertigt. Auch spricht er sich gegen Giorgio Agambens reduzierte Lesart
aus und hält ihm, wenn er aus Benjamins Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ seine
Figur des homo sacer ableiten will, eine falsche Universalisierung und
mangelnde Trennschärfe vor. In seinem letzten Text legt Kraushaar dann erneut
Rechenschaft ab, diesmal über seine Methode und seine Rolle als Historiker und
Chronist der Revolte vor dem Hintergrund der Benjamin‘schen Geschichtsthesen.
Walter Benjamins „wirkliche politische Physiognomie“
Insgesamt erscheint hier
also ein politischer und aktualisierter Benjamin, der von Kraushaar mit Verve,
aber auch mit Trennschärfe und wichtiger Distanz zu einer allzu forschen
Vereinnahmung für entsprechende Revolutionstheorien kritisch in Stellung
gebracht wird. Benjamins Politikbegriff werde in der Rezeption oft genug
entweder verharmlosend mit Messianismus gleichgesetzt oder seine Radikalität
politisch hypostasiert, lautet sein Urteil. Hinter Benjamins Vorstellung stehe
zuallererst die politische Idee einer umfassenden Gerechtigkeit.
Wie selten sonst in den vielfältigen Schriften über den deutsch-jüdischen
Philosophen tritt hier Benjamins „wirkliche politische Physiognomie“ in ihren
Umrissen hervor, wo sie an anderer Stelle zur verspiegelten Projektionsfläche
eigener Vorstellungen geworden ist. Im unübersichtlichen Meer der
internationalen Benjamin-Bewunderer ist nur bei Chrysoula Kambas eine ähnliche
Insel der Nüchternen zu finden, wie in Kraushaars Buch.
Am Ende von dessen Exposé zur ungeschriebenen Dissertation heißt es denn auch:
»Gegenüber
einer Auffassung, der Benjamins
Passagenwerk
als „kulturhistorisch interessant“ erscheint, gilt es den bislang verborgen
gebliebenen revolutionstheoretischen Sinn seines Hauptwerks und die Wirksamkeit
des darin entwickelten Begriffsinstrumentariums unter Beweis zu stellen.
Vielleicht werden sich dann die Feuilletonisten, die bei der Nennung seines
Namens glänzende Augen bekommen, dieselbigen endlich zu reiben beginnen.«
Die Aufgabe besteht immer noch, Kraushaars Ansatz hat sich
nicht überlebt. Freilich wird auch hier eine falsche Dichotomie zwischen
Feuilleton und Politik deutlich. Kraushaars Buch sei dennoch jedem empfohlen,
der sich mit einem Benjamin auseinandersetzen will, der bis heute nicht nur in
politischer Hinsicht kaum verstanden worden ist.
Artikel online seit 05.10.22
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Wolfgang
Kraushaar
ad Walter Benjamin
Eine Verteidigung gegen seine Bewunderer
EVA
202 Seiten
18,00
978-3-86393-141-4
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