»Some of these days« heißt ein Song von Shelton Brooks, der in dem
existenzialphilosophisch angewehten Sartre-Roman »Der Ekel« im Blick auf die
jeweilige Gestimmtheit eine erhebliche Rolle spielt, und man kann nach der
Lektüre des neuen Buches von Marie Rotkopf und Markus Steinweg existential
gestimmt seufzen »Some of these books«. Ich vermag nach dem Lesen leider nicht
zu sagen, ob das ein Kompliment ist oder keines. Und ich vermag leider für meine
Rezension auch nicht zu sagen, was ich von dem Buch halten soll: Ist es
verschroben? Ist es Un-Sinn oder verspielte Leichtigkeit der sich ins Unendliche
schraubenden Assoziationen? Die Leidenschaft zumindest will mich nach der
Lektüre nicht anwehen.
Ich will es mit einer Anekdote beginnen: Ich erinnere mich in Hamburg, Anfang
der 1990er Jahre, an jenen Professor in Germanistik, der uns
literaturtheoretisch wie auch philosophisch Adorno, Derrida, Heidegger und Lacan
beibrachte, wohlwollend und mit der Freude am Text, keine Ranküne gegen den
sogenannten Poststrukturalismus und auch nicht gegen Heidegger, weil Nazi und
solchen Reduktionismus, um sich vor der gedanklichen Auseinandersetzung mit
dieser Philosophie zu schützen. Egal wie: als der gute Mann nach einer
Habilitationsanhörung mir erzählte, wie dieser Vortrag derartig lacanös und
unverständlich war und jenseits nicht nur von Gut und Böse, sondern auch
jenseits der herkömmlichen Anforderungen an einen wissenschaftlichen Vortrag und
dass man eigentlich, um es mit ähnlicher Münze, gleichsam mit Falschgeld,
zurückzugeben, dem Vortragenden in genau dem gleichen Sound des Unverständlichen
hätte antworten müssen, so dass dem Kandidaten ganz und gar nicht klar wäre, ob
er nun angenommen oder nicht vielmehr abgewiesen sei. Eine quasi in die Prosa
Kafkas versetzte Situation, und mit der Referenz auf Kafka und Beckett liegt man
bei dem an der Staatlichen Akademie für Bildende Kunst in Karlsruhe lehrenden
Philosophen Marcus Steinweg nicht falsch.
Was will und macht dieses Buch mit dem Titel »Fetzen. Für eine Philosophie der
Entschleierung«? Von zwei Autoren verfasst.
Fetzen können das sein, was an Fleisch oder Stoff hängen bleibt, wenn etwas
zerrissen wurde, ein Vorhang, ein Fetisch, Stoff oder Körper – das
Dionysos-Motiv taucht leider meines Wissens in dieser Korrespondenz nicht auf,
was schade ist, jener (wiedergeborene und wieder zerteilte) Dionysos-Zagreus und
der von den Mänaden-Weibern zerfetzte Gott des Rausches: solch ein Spiel aus
Fleisch, Begehren, Rausch und gegenseitigem Zerstören hätte ich mir zwischen
beiden Autoren gewünscht. Jedoch: hemmungslos und den tatsächlichen Körper
bedrohend und traktierend geht es in diesem Buch nur am Rande zu – wenn Rotkopf
auf die Elftausend Ruten und die Heilige Ursula samt den 11.000 Jungfrauen kurz
anspielt oder ein in Prosa phantasiertes Sexspiel (mit imaginierter
Geschlechtswandlung) in einem Hotelzimmer, das eine Stunde zuvor noch von Didier
Eribon und seinem Gefährten bewohnt war und wo die Erzählerin die Servicekraft
bat, die Lacken nicht zu wechseln.
»Fetzen«, zumal in einem Dialog, kann freilich auch »Streiten« bedeuten: Polemos,
Widerstreit: Küsse und Bisse, das reimt sich, wie Kleist in der »Penthesilea« zu
dichten wusste und was für Achill nur bedingt gut ausging. Leider ist von einem
Streit der Stimmen wenig zu vernehmen; allenfalls ein Entschleiern – freilich
auf eine nicht allzu sinnliche Weise. Es ist ja auch Philosophie, kann man dem
voyeuristischen Blick des Rezensenten entgegen, zumindest in dem, was Markus
Steinweg macht. Womöglich bringt es, was die Lektüre des Buches betrifft, diese
Textstelle auf den Punkt: »Vielleicht erschließt sich ein Buch erst durch das
Wagnis, es nicht zu verstehen.« Was als Nebensentenz im Reigen von Aphorismen im
Blick auf Philosophie und Dichtung auftaucht, funktioniert hier vielleicht ganz
gut als Leseanleitung auch für »Fetzen«: »Vielleicht muss, wer zu lesen beginnt,
den Mut zum Nichtverstehen aufbringen. Um das Risiko des Orientierungsverlusts
auf sich zu nehmen.« Es sind Sätze, die in diesem Reigen über vier Seiten mit
einem »Vielleicht« anfangen und eine Hilfe für die eigene Lektüre sein können:
unsere alltäglichen Verstehensvollzüge aufzubrechen, gleichsam eine
antihermeneutische Hermeneutik und Hermetik zugleich. Lektüre und Texte, die
sich, wie es auch die Dichtung macht, ins Offene halten. Darin mag jene
Philosophie (der Entschleierung) liegen. Tastend und vermutend. Text ist hier
nicht unbedingt Sex, wenn der Leser ans Motiv der Enthüllung und des
verdeckenden Fetischs aus Wäsche und Stoff denkt. Erschließen heißt zunächst
einmal lesen und sich womöglich nicht als Hermeneutiker des Sinns zu
vergewissern, um seiner habhaft zu werden, sondern sich dem, was im Buch steht,
zu überlassen. Dies allerdings fiel mir bei meiner Lektüre, je länger ich im
Buch las, zunehmend schwer.
Machen wir es also anders. Was steht in dem Buch? Es gibt einen Briefwechsel
zwischen den Autoren und eine Reihung von philosophischen Aphorismen,
Gedankenspiele, Notizen, Fragmente, Gedichte und Erzählungen. Es sind Gespräche,
Zwiegespräche, Monologe: über das Begehren, über Literatur, über Lacans
Spiegelstadium. Wir lesen Texte und Sentenzen über unsere Verstrickungen ins
System, in die Gesellschaft des Spektakels, den Neoliberalismus und eine
Gesellschaft, die uns frisst, auffrisst, was auch immer. Es sind Phantasien über
Sex, wenn die im Kopf von Marie Rotkopf sprechende Protagonistin, mal Mann (in
die Rolle Didier Eribons schlüpfend), mal Frau, masturbiert und sich
weiblich-männliche Orgasmen phantasiert. Die Idee ist witzig, aber in der
kompositorischen Durchführung innerhalb des Buches reicht es mir nicht. Man kann
solche Passagen als Assoziation und Punctum des Augenblicks mit den Mitteln der
Phantasie fassen, wenn man es wohlwollend liest. Manches von Rotkopf erinnert
vom Furor hier an ihr »Antiromantisches Manifest« von 2017. Doch der Wille zur
steilen These wird zu oft ruiniert durch das Überschießende des Gedankens.
Übertreibungen können eine Sache anschaulich machen. Sie können aber ab einem
bestimmten Punkt auch nerven.
Rotkopf schreibt gegen die deutsche Hybris und die Geschichtsvergessenheit –
wobei ich beim Lesen mir denke, dass in kaum einem anderen Land derart die
eigenen Verbrechen thematisch wurden, so dass mancher in der Schule bereits
gähnte. Zudem ist diese Hybris womöglich gar nicht so deutsch. Und auch solche
Sätze, im Blick auf die Shoah, sind einer Vergröberung geschuldet: »Die
Europäische Union verwischt die deutsche Geschichte nicht, im Gegenteil; sie
erbaut die Germania Magna.« Hinzu kommt, was Rotkopf in ihren manchmal
poetischen, manchmal leider nur haarsträubenden Assoziationen übersieht, nämlich
die Dialektik der Nationen: Sie sind nicht nötig, wenn man den neoliberalen
Strom der Waren und der Arbeitskräfte will, aber ein Sozialstaat, ein Staat, der
gegen Neoliberalismus und den Abbau der Sozialsystem installiert ist, ist bisher
und nach gegenwärtigen Maßgaben nur als Nationalstaat denkbar. In diesem Sinne
kann man Rotkopfs Wut als heilsames Korrektiv zwar nehmen, um mittels
Thymos-Energien eine Utopie anzusinnen, aber man sollte sie in der Sache
weiterdenken.
Augenfällig ist die Diskrepanz zwischen beiden Autoren: Rotkopfs Stärke ist das
Erzählen, aber nicht die Philosophie oder die (wenigstens halbwegs) konsistente
Gesellschaftskritik. Steinwegs Stärke ist das Assoziieren und das Spielen und
Kombinieren mit Theorien, mit Philosophie und Literatur: Marguerite Duras ist
eine seiner zentralen Referenzen, zumal wenn es um das Zusammenspiel von
Fiktivem und Tatsächlichem und um den Reigen der Bilderproduktion geht. Seine
Gedankensprünge, Aphorismen und Sentenzen sind manchmal inspirierend, aber
leider häufig auch so, dass ich mich frage, worauf diese Sätze hinauswollen. Der
Funke springt oftmals leider nicht über – anders als in anderen Büchern von
Steinweg. Das Begehren, das immer wieder thematisch wird, ist zuweilen ein
trockenes Ding: klar, Philosophie, da wird es nicht immer feucht, auch nicht in
der Bilderproduktion, aber ich dachte dann doch an Kants Satz, dass Begriffe
ohne Anschauungen blind seien. Interessant wird es bei Steinweg da, wo er
Philosophie und Literatur in eine Konvergenz bringt, wo er spekuliert, so etwa,
wenn er darüber nachdenkt, was Adorno mit Heiner Müller verbindet: nämlich
Chaosbejahung: »Im Schatten Nietzsches soll das Chaos einen tanzenden Stern
gebären. Es unterläuft die Ordnungen = die Lügensysteme, die man Ideologien
nennt. Das ist seine aufklärerische Funktion.« Das Begriffslose eben mit den
Mitteln des Begriffs aufzutun. Das aber ist zugleich, so würde ich ergänzen,
Chaosbannung. Man muss vielleicht die Passagen der Autoren dialogisch lesen und
ihnen die Stimme des Widerspruchs hinzufügen.
Nicht empfehlen kann ich das Buch all jenen, die klare Texte oder etwas
»Wesentliches« schwarz auf weiß gerne nach Hause tragen. Zu empfehlen ist das
Buch allen, die gerne poetisch-ästhetisch und auf Ab- und Aberwegen der krummen
Art denken. Dialektik ohne Dialektik, so kann man dieses poetische Verfahren von
Steinweg vielleicht bezeichnen. Spannend ist, dass hier zwei unterschiedliche
Stimmen, deren Tonart man bereits am Stil des Schreibens meist erkennt, ihre
Bekenntnisse ablegen und sich entschleiern. Das mag auch eine erotische
Komponente haben, wenngleich es im Diskurs des Begehrens zwischen den beiden
Stimmen eher zu fremdeln scheint und die meisten Texte eher neben- und nicht
miteinander laufen. Und ich würde zudem sagen: um mit dem Ton dieses Buches
sowie dem Stil ihres Denkens bekannt zu werden, ist ratsam, ein paar andere
Bücher von beiden vorher zu lesen. Von Rotkopf das »Antiromantisches Manifest:
Eine poetische Lösung« aus den Nautilus Flugschriften. Es ist dieses Buch eine
Erregungssteigerung mit Beobachtungen, Fiktionen, Frechheiten. Man muss darin
nicht alles teilen, aber der Verve und die Vehemenz amüsieren stellenweise –
nicht Houellebecq, aber immerhin in Deutschland eine schimpfende Frau.
Von Steinweg zu empfehlen ist die »Philosophie der Überstürzung« (bei Merve) und
um in seine auch in den »Fetzen« angespielte Quantenphilosophie hineinzugelangen
das gleichnamige Buch bei Matthes & Seitz, 2021 erschienen.
Am Ende, so mein Eindruck, gibt das Buch zu verstehen, dass es nichts zu
verstehen gibt. Es hätte auch »Enthauptung« oder »Freispiel« heißen können. Warm
geworden bin ich beim Lesen nicht. Aber vielleicht funktioniert das Buch wie
jene Kastanienwurzel, die Sartres antiheldischer Held Roquentin da im Park auf
der Bank betrachtet: Bewusstsein von Sinnlosigkeit, der wir doch immer wieder
einen Sinn geben wollen: sei es in der bildenden Kunst, mittels Dichtung oder
Philosophie. Und manchmal eben erreicht uns etwas nicht.
Artikel online seit 20.03.22
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Marie Rotkopf, Marcus Steinweg
Fetzen
Für eine Philosophie der Entschleierung
Matthes&Seitz, Berlin
Fröhliche Wissenschaft
Bd. 186
205 Seiten,
Klappenbroschur
15,00 €
978-3-7518-0523-0
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