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»Von der Postkarte bis zum Atomschlag« Carlo Masalas realistisches Szenario »Wenn Russland gewinnt«
Von Gregor Keuschnig |
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Wenn Russland gewinnt geht inzwischen in die 5. Auflage und ist, als dieser Text entsteht, Platz 1 der Spiegel-Beststellerliste "Taschenbücher Sachbuch" und vom Verlag nicht lieferbar. Das liegt natürlich vor allem an der Prominenz seines Autors, Carlo Masala. Der Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr ist seit dem russischen Überfall auf die Ukraine in den Medien omnipräsent. Es ist unbestreitbar Masalas Verdienst, dass er die Notwendigkeit geopolitischen Denkens als existentiell wichtigen Teil einer Außenpolitik in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt hat. Sein 2022 überarbeitetes Buch Weltunordnung zeigte die Verwerfungen und Irrtümer des "Westens" der letzten dreißig Jahre auf. Deutschland wurde daran erinnert, sich seiner eigenen Interessen bewusst zu werden. Masala befürwortete von Beginn an finanzielle Unterstützung, politische Westbindung und umfassende Waffenlieferungen für die Ukraine. Das Land sollte derart unterstützt werden, das für Russland die Kosten für eine Weiterführung des Krieges zu hoch und dadurch Verhandlungen auf Augenhöhe möglich wären. Den Einsatz von Atomwaffen durch Russland schätzte er eher gering ein. Im Gegensatz zu vielen Auguren und Experten sprach er allerdings meines Wissens nie von einem "Sieg" der Ukraine über Russland – wohl wissend, dass dies illusorisch wäre. Parallel plädiert Masala für eine bessere Ausstattung der Bundeswehr und sah im "Zeitenwende"-Sondervermögen erst einen Anfang. Hier kam einem der Vergleich mit dem später recht kontrovers diskutierten Christian Drosten während der Corona-Pandemie in den Sinn (Masala lehnte den Vergleich ab). In den sozialen Netzwerken zeigte sich Masala bisweilen als Hitzkopf (was auch der Autor dieser Zeilen miterleben durfte). Nach mehr als drei Jahren Zermürbungskrieg, der von Russland nicht nur auf dem Schlachtfeld sondern auch gegen die ukrainische Zivilbevölkerung geführt wurde und dem Präsidentenwechsel von Biden nach Trump scheint die Lage für die Ukraine schwieriger denn je zu sein. Die USA stellen nicht nur ihre militärische Unterstützung ein, sondern drohen auch mit dem Entzug der logistischen Hilfe (wie etwa Starlink oder Geheimdienstinformationen). Es fehlt an Nachschub von Munition. Bisweilen liest man, dass die bereits gelieferten Systeme wie Abwehrraketen von den USA "abgeschaltet" wurden und nur noch eingeschränkt nutzbar sind. Die Unterstützung, die von den USA in der Vergangenheit geleistet wurde, ist durch Europa nicht adäquat zu kompensieren. Mittelfristig droht die Verteidigungsunfähigkeit der Ukraine. Die Folgen wären katastrophal. Russland könnte sich ermutigt fühlen, weitere Territorien des Landes anzugreifen. So droht seit geraumer Zeit durch eine Eroberung Odessas die Ukraine vom Seezugang abzuschneiden. Die Frage, die Masala aufwirft, was passieren sollte, wenn Russland gewönne, ist also durchaus realistisch.
Szenario März 2028 In Masalas Szenario regiert 2028 in Frankreich ein Kandidat der Front Nationale. Die Wirtschaftslage ist in vielen Industrienationen prekär. Aber kurz scheint es so, als könne sich das Verhältnis zu Russland bessern. Putin war nach dem "Frieden von Genf", den er in seiner Sichtweise als Sieg verbuchte, zurückgetreten. Neuer Präsident wurde der 47jährige Volkswirt Oleg Obmantschikow (natürlich ein fiktiver Name), der ein wenig in Gorbatschow-Manier auf den Westen zugeht und beispielsweise neue Rüstungskontrollverhandlungen anregt. Die kriegsmüden Europäer (darunter die deutsche SPD) nehmen dies gerne zum Anlass, um die Verteidigungsanstrengungen in Zeiten knapper Kassen zu überprüfen und teilweise zurückzunehmen.
Narwa und Hiiumaa Bis auf einen Ausflug in Mali werden im weiteren Verlauf die politischen Aktivitäten und Beratungen der beteiligten Parteien aus Washington, Brüssel und Moskau geschildert. Während der US-Präsident (Trump wird nicht namentlich erwähnt) und etliche südeuropäische Länder zusammen mit Frankreich und Ungarn erst einmal die weitere Entwicklung abwarten wollen, verständigt man sich in Moskau auf "Kontrolle und Eskalation". Eine Aktion über finnisches Gebiet wird verworfen. Stattdessen setzt Russland als weiteres Zeichen auf der unbewohnten und vegetationslosen Hans-Insel, die lange ein Streitobjekt zwischen Kanada und Dänemark/Grönland war und hisst dort eine russische Flagge unter Mithilfe eines atombetriebenen U-Bootes, was natürlich für Aufsehen gesorgt hatte. Das Kernstück der Buches ist die Begegnung eines russischen Spitzendiplomaten mit dem Nationalen Sicherheitsberater der USA in Washington, wenige Stunden nach den Besetzungen. Masala suggeriert hier, dass die reine Bekräftigung des russischen Emissärs, "um jeden Preis" ihre "im Ausland lebenden Landsleute vor Verfolgung und Unterdrückung" zu beschützen, genügt, dass in der später erfolgenden NATO-Versammlung Estland gezwungen wird, ihren Antrag auf Beistand zurückzuziehen. Die Schilderung dieser Zusammenkunft ist der zweite Höhepunkt des Szenarios. Mit den hier entwickelten militärisch möglichen Eskalationsszenarien, wenn etwa die in Estland stationierten US-Soldaten eingreifen würden, ist die Entscheidung eindeutig: Für Narwa und eine Insel begibt man sich nicht in das Risiko, einen Dritten Weltkrieg an.
Postkarte Zweifel an der Bündnistreue der USA wurden immer wieder thematisiert. Ich erinnere mich an eine Episode aus Henry Kissingers Buch Staatskunst. Das passive Verhalten zu ihren Verbündeten während der Suez-Krise ließ die Skepsis von Konrad Adenauer in Bezug die Zuverlässigkeit der USA wachsen. Es war an Henry Kissinger, dem Alten unter vier Augen "die Zuverlässigkeit der amerikanischen Nukleargarantie" zu erläutern und seine Ängste zu zerstreuen. Ein paar Jahre blieb Adenauer überzeugt. Ob man wirklich mit letzter Kraft für West-Berlin eingetreten wäre, bleibt glücklicherweise eine offene Frage. In Wenn Russland gewinnt gibt es eine Szene aus den Beratungen aus Moskau, in der das Risiko thematisiert wird, dass man, sollte die Strategie scheitern, wie "der Schwächling Chruschtschow damals 1962 in der Kuba-Krise" nachgeben müsse. Die Antwort gab man sich schon vorher, als der Westen als "schwach" bezeichnet wurde. Geht es nach Masala, bleibt die russische Drohung ein Bluff. Das kann man als die Botschaft dieses zuweilen im Brecht'schen Stil verfassten Szenarios ansehen. Im Kalten Krieg galt es als ausgemacht, dass ein atomarer Erstschlag einen umgehenden, vermutlich stärkeren Zweitschlag zur Folge hätte. Von den Großmächten ausgehende aber regional begrenzte Konflikte wurden ohne direkte Konfrontation geführt; wenigstens eine Konfliktpartei war ein "Stellvertreter". Nur einmal, 1951 im Korea-Krieg, erwog der amerikanische General MacArthur den Einsatz einer Nuklearwaffe. Er wurde nicht zuletzt deshalb von Präsident Truman abgesetzt. Wenn inzwischen die reine Drohung, in einem regionalen Konflikt eine strategische Atomwaffe einzusetzen, verfangen sollte, dann werden Atommächte künftig ihre imperialen Interessen relativ einfach damit durchsetzen können. Wenn derart das Recht des Stärkeren gilt, dürften sich Regionalmächte verstärkt genötigt fühlen, in den Besitz von Atomwaffen zu kommen.
Symbolpolitik statt Strategie Viel zu wenig wird die mangelhafte Strategie der Regierung Biden untersucht, die womöglich nicht daran dachte, die Ukraine zu unterstützen. Als die Russen ihre Invasion begannen, bot Biden Selenskyj und seinem Kabinett die Möglichkeit eines gesicherten Abzugs an. Dieser lehnte mit dem ikonisch gewordenen Satz "I need ammunition, not a ride" ab. Später gab es die Versicherungen, die Ukraine zu unterstützen "as long as it takes". Aber es blieben eingeschränkte Unterstützungen. Man vermied einen vollends auf Konfrontation gerichteten Kurs. Entgegen allem Maulheldentums kam dies den Europäern entgegen. Die verschanzten sich größtenteils hinter den USA und reagierten nur (die Ausnahme bildeten die Balten und Polen). Als kurz nach Kriegsbeginn Draghi, Scholz und Macron im Zug nach Kiew fuhren, hatten sie nicht Zusagen für dieses und jenes Waffensystem im Gepäck, sondern zeigten stolz einen Zettel, der (in einer unbestimmt gehaltenen Zukunft) der Ukraine eine EU-Mitgliedschaft in Aussicht stellte. Das war exemplarisch für eine Symbolpolitik, die auf einem Schlachtfeld keinen Nutzen hat. Unendliche Male klopfte man danach Selenskyjs Schultern, aber man behandelte ihn wie einen Patienten, dem man die lebensrettende Operation nicht zumuten wollte und stattdessen Globuli verschrieb. Eine Einigkeit auf niedrigstem Niveau waren der NATO bzw. der EU im Zweifel wichtiger, als die Formulierung einer robusten Strategie, die dann konsequent hätte umgesetzt werden müssen. Länder wie Ungarn und die Türkei spielten Katz und Maus mit den europäischen Mittelmächten. Die NATO wollte aus verständlichen Gründen nicht als Kriegspartei erscheinen. Vielleicht hätte man eine informelle Gruppe außerhalb der bestehenden Strukturen schaffen müssen. Die Sanktionen gegen Russland hatten/haben gewollte Schlupflöcher. Wenn in Talkshows im russischen Fernsehen Atombomben auf Berlin, London oder Warschau fliegen ist der friedensbewegte Boomer schockiert und sucht in Wahlen bei Putin-Apologeten Schutz. Bei öffentlichen Auftritten variiert Masala zuweilen sein Szenario. Es könnten auch, so seine Überlegung, wie bei der Besetzung der Krim 2014 "kleine grüne Männchen", also keine regulären Soldaten, über die estnische Grenze ihre russischen "Landsleute" "beschützen" wollen. Möglich ist das. Hier wäre das Resultat vermutlich identisch. In einem anderen, von den beiden Generälen a. D. John R. Allen und F. Ben Hodges und dem Publizisten Julian Lindley-French 2021 publizierten Buch Future War wird von einem russischen, konventionellen Überraschungsangriff auf die baltischen Staaten, unter anderem mit Hyperschallraketen erzählt. Mit parallel stattfindenden Cyberattacken würden zeitnah Verteidigungssysteme der NATO-Staaten ausgeschaltet. Dieses Planspiel wird für 2030 entwickelt. In dreizehn Tagen hätte hiernach Russland das Baltikum erobert; eine Verteidigung der NATO bliebe fast vollständig aus und es gibt keine nukleare Entgegnung. Die drei Autoren erklären dezidiert, wie die NATO sich aufzustellen hat, um einer solche Entwicklung vorzubeugen. Die zentrale These des Buches lautet, "dass eine solide nationale Verteidigung angesichts der künftigen Kriegsführung ein neues, umfassendes Sicherheitskonzept erfordert, bei der individueller Sicherheit und nationale Verteidigung im Einklang stehen".
Der deutsche Wohlstandspazifismus Bleibt die Frage, wenn, wie Masala mutmaßt, die Verteidigungsbereitschaft im Bündnis derart gering sein sollte: Warum gibt es dann überhaupt noch die NATO in dieser Konstellation? Und ist dann eine Verbesserung der konventionellen Aufrüstung in Europa und speziell in Deutschland überhaupt sinnvoll? Zumal, wenn ein großer Teil der deutschen Bevölkerung daran wenig oder gar kein Interesse hat? Während die Esten, Litauer oder Polen für ihr Land und ihre Freiheit kämpfen würden, erreichen in Deutschland Bücher, die sich explizit der Verteidigungsbereitschaft des Landes widersetzen, Bestsellerstatus. Zudem ist die Bundeswehr praktisch von Beginn ihrer Gründung 1955 an eine gesellschaftlich eher unbeliebte, bisweilen als überflüssig deklarierte Institution. Der Akt der Verweigerung des Grundwehrdienstes galt immer als besonders progressiv. Dass die Bundeswehr als Verteidigungsarmee konzipiert wurde, blendete man entweder aus, oder lehnte eine solche rundherum ab. Aus diesem Personenkreis formieren sich diejenigen, die der Ukraine die Kapitulation nahelegen. Der breit verankerte Wohlstandspazifismus Deutschlands ist ein über Jahrzehnte, absichtsvoll gezüchtetes Produkt eines Exorzismus des National- und vor allem des Freiheitsgefühls. Noch heute gelten vielerorts die deutsche Fahne und Hymne als Provokation. Als 2010 versuchsweise ein gewisser Robert Habeck für einen neuen, linken Patriotismus warb, wurde er aus den eigenen Reihen kritisiert und zum Teil rüde beschimpft.
Carlo Masalas Szenario zeigt, dass nicht nur das gesellschaftliche Klima sondern
auch die Politik des Westens eskapistisch geworden ist. Die Friedensdividende
hat müde gemacht. Das zeigt sich auch in den Verharmlosungen der islamistischen
Bedrohungen. In Deutschland hat es eine gewisse Tradition, sich politischen
Verhältnissen anzupassen: Kaiserreich, Nazi-Diktatur, SED-Einheitsstaat. 1989
war die Ausnahme, die viele bis heute glauben lässt, man brauche nur ein paar
Versammlungen, um eine Diktatur zu stürzen. |
Carlo Masala |
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