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 Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik



Petits riens (39)
Von Wolfram Schütte

    


© R. Reifenrath

Zombi Als ich las, dass man sich in der Umgebung des russischen Dissidenten Nawalny  Hoffnung macht, mit Hilfe der Ärzte in der Berliner Charité dem mutmaßlich vergifteten russischen Politiker das Leben zu retten, erinnerte ich vage Filmsequenzen möglicherweise aus Jacques Tourneurs beunruhigenden Horrorfilmen, die ich wohl vor einem Halbjahrhundert auf einer Retrospektive gesehen hatte. Ich stellte mir vor: das finale Ziel des von der russischen politischen & ökonomischen Nomenklatura verhassten Oppositionellen & Kritikers sei gar nicht dessen Ermordung. Die wurde früher von den klassischen Geheimdiensten als Verkehrsunfall oder drgl. aufwendig inszeniert, so dass die Täter verborgen, unbekannt blieben. Auf jeden Fall war die verwünschte Person dadurch liquidiert!

Die modernere  Variante a la russe, sozusagen die »putineske«, die dem ehemaligen KGB-Agenten auf dem Zarenthron entspricht, bestünde darin, statt wie bislang eng personenbezogen & eindimensional zu agieren, sich in schillerndem Zynismus multiperspektivisch oder mehrdimensional zu entfalten.

Da der jeweils erwünschte Mord ohnehin heutigen Tags nicht mehr vertuschbar wäre, wird er, wie bereits öfter geschehen, vor aller Augen ausgeführt – was ja noch furchteinflößender ist als ein geheimer Tathergang. Ja, man lässt, sogar, wie im Falle Nawalny gerade exemplifiziert, scheinbar großzügig zu, dass das Opfer in die Hände westlicher Ärztekoryphäen gelangt, die seine Vergiftung öffentlich testieren, wenn nicht gerade sie es gar sollen.

Wichtiger als ein ermordeter Nawalny ist ein gesundheitlich maroder; nachhaltiger als ein toter Dissident funktioniert öffentlich  ein Zombi, der sowohl nicht mehr geistig-gesundheitlich in der Lage ist, seine Oppositionsarbeit fortzusetzen, als auch aller Welt abschreckend zu demonstrieren, zu welchem untoten Wrack eine »putineske« Vergiftung (auch noch mit »westlicher« Arzt-Hilfe!) führen kann.                                   
                                         *

Fröhlicher Selbstmord – In seiner letzten Polemik wider Alfred Kerr (»Der kleine Pan stinkt noch«) zitiert Karl Kraus vollständig eine längere Invektive Kerrs gegen sich & beginnt dann seine eigene Polemik  mit dem Satz: Das »ist das Stärkste, was ich bisher gegen Herrn Kerr  unternommen habe«. D.h. es genügte dem Satiriker, den Gegner mit dessen eigenen Worten sich blamieren zu lassen. Ein großer Teil von Karl Kraus´ Polemik & Satire bestand ohnehin darin, nur zu zitieren, aber seine aufgefundenen, aufgelesenen wörtlichen Fundstücke nach allen Regeln der satirisch-philologischen Kunst zu zerlegen, in den Worten Walter Benjamins: »so liebevoll wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet«.

Die analytische Mühe der »Zurüstung« braucht sich ein heutiger Satiriker nicht mehr zu machen. Seine literarisch-intellektuelle Meisterschaft, dem Zitat – wie der Psychoanalytiker den Assoziationen seiner Patienten – den geheimen & verborgenen Sinn zu entlocken & zu entziffern, ist gewissermaßen sogar kontraproduktiv: denn das einst Verdrängt-Verborgene wird, seit Donald Trumps »Umwertung aller Werte« (nachhaltiger als Nietzsches vollmundiger moralischer Wunschtraum) de facto weltweite Kreise zieht, in aller Offen- & Öffentlichkeit geäußert & zwar folgenlos – wie z.B. in diesem Beispiel:

In einem ungewöhnlichen Fernsehspot sprechen sich sechs Geschwister des republikanischen Kongressabgeordneten aus Arizona, Paul Gosar, für seinen demokratischen Gegner, Dr. David Brill, aus. Als Antwort darauf twittert Gosar: »Wie alle Linken stellen sie die politische Ideologie über die Familie. Stalin wäre stolz.« (Gosar, ein ehemaliger Zahnarzt, ist davon überzeugt, dass George Soros, jüdischer Überlebender des Holocaust, Neonazi-Gruppen finanziert und deren Kundgebung in Charlottesville  persönlich mitorganisiert habe, um die Anti-Immigrationsbewegung in Verruf zu bringen. In jüngsten Umfragen liegt Gosar weit vor Brill.) - & wurde gewählt, ergänze ich diese kleine Geschichte aus »Trumps Amerika«. Sie gehört zu dem jüngst auf Deutsch vorgelegten Essay-Band Eliot Weinbergers (»Neulich in Amerika«).

Der 1949 in New York geborene mehrsprachige Übersetzer, Chinakenner & Essayist wird in Deutschland seit Jahren von dem Berliner Berenberg-Verlag verlegt, wo auch diese Sammlung von punktuellen Schlaglichtern erschien ist, mit denen der brillante Autor die USA unter George Bush & Donald Trump ausleuchtet.

Weinberger hat mit diesen Kurztexten kaum etwas anderes getan, als quasi unbewegten Gesichts a la Buster Keaton den politisch-moralischen Slapstick der Spottgeburten dessen zu versammeln, was das einst ehrenhafte Wort vom »konservativen Denkens« heute grundsätzlich depraviert hat: durch schamlos dummen, denkfernen Flachsinn & ressentimentalistischen Irr-& Schwachsinn.

Weil dieser Flächenbrand in Trumpland »unermessliche Ausmaße annimmt«, wird er, nach einer Warnung Brechts vor der Ansteckungsgefahr der Dummheit, gewissermaßen »unerkennbar«. Denn kein Politiker hat die umfassende Realitätsverleugnung bisher so weit betrieben wie Donald Trump. Nur der späte Hitler im Führerbunker könnte dem derzeitigen amerikanischen Präsidenten in dieser Hinsicht das Wasser reichen. Allerdings geschah das bei ihm aus nackter Verzweiflung vor dem absehbaren persönlichen Ende, während Trump dergleichen von allem Anfang an systematisch für die Nachhaltigkeit seiner Machtergreifung ins Werk setzte.

Die Lächerlichkeit & Lachhaftigkeit der sozialpolitischen Realität in den USA & des Größenwahnsinnigen an ihrer Spitze ist so virulent  & überwältigend, dass einem selbst als Betrachter das Lachen im Halse stecken bleibt, überwältigt von der Schande, ohnmächtiger Zeuge dieses fortgesetzten fundamentalen Angriffs auf Vernunft & Menschenverstand zu sein  (& wäre man auch nur ein europäischer Weinberger-Leser)!

Da es sich auf den mehr als 250 Seiten von »Neulich in Amerika« um zahllose Variationen des immer Gleichen handelt, erlahmt man als Leser immer wieder bei der Lektüre, die aber jede mögliche Schadenfreude im Keim erstickt. Obwohl der Satiriker als  Sammler sich Mühe gibt, den tristen Stoff durch minimale stilistische Erzählstrategien ein wenig abwechslungsreicher zu gestalten, fühlt man sich von dieser »unendlichen« Sammlung gesellschaftlicher Bosheit wie erschlagen. Ja, der Akt der nackten Sammlung bekommt selbst den prekären Anschein einer obsessiven Fixierung  des Autors, der ja doch »bloß« das skandalöse Material akkumuliert hat – ein Rezeptionsphänomen, das sich auch schon bei Reinhard Lettaus: »US-Täglicher Faschismus. Amerikanische Evidenz aus 6 Monaten« von 1971 (!) einstellte.

Ob der US-Autor das Vorläufer-Buch des literarischen Freunds Herbert Marcuses gekannt hat? Oder hat Eliot Weinberger heute in Trump-Land deshalb den gleichen literarischen Weg eingeschlagen, weil ihm ob der Masse & der Offensichtlichkeit des Materials, wie damals dem Satiriker Reinhard Lettau, einzig die Rolle der Zeugenschaft als Historiker noch möglich schien?

Jedenfalls werden »Die letzten Tage der Menschheit« gewiss von keinem Eliot Weinberger  fortgeschrieben,  sondern eher in den USA von einer Fleisch gewordenen Erfindung Jonathan Swifts inszeniert werden. Ein Schelm, wer glaubt, Donald Trump ließe sich etwa gar durch eine verlorenen Wahl vom Präsidentenstuhl vertreiben & in Pension schicken – nachdem er mit einem Wahlergebnis zum republikanischen Präsidentschafts-Kandidaten gewählt wurde, das erreicht zu haben man selbst in den »Volksdemokratien« nur auf dem Höhepunkt des Stalinismus zu behaupten gewagt hätte. Dass es jedoch, im Gegensatz zu fast allem, was aus dem Mund Trumps kommt, leider kein fake ist, gehört zu den traurigsten & unheilvollsten  Botschaften, die uns in diesen Tagen aus den USA erreicht haben.

Artikel online seit 28.08.20
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen dieser flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

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