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Denkschrift aus der Welt der Mörder

Ernst Jüngers subversive Abhandlung »Zur Geiselfrage« aus dem Jahre 1941/42

Von Peter V. Brinkemper

Ernst Jüngers »Zur Geiselfrage« ist ein instruktiv-subversives Mischprodukt – eine Dokumentation zwischen Zurückhaltung und Konfrontation. Das unter Verschluss gehaltene Auftragswerk für den Deutschen Militärstab in Paris ist eine defensive Apologie. Sie beleuchtet die brutalen und völkerrechtswidrigen Maßnahmen, die die deutsche Nazi-Führung und die Wehrmacht und die SS im eingenommenen Paris und dem besetzten Teil Frankreichs 1941/42 mehr oder minder uneinig durchpeitschten. Man kann diese Schrift als Provokation mit Jüngers Pariser Tagebüchern aus dem Zweiten Weltkrieg vergleichen. Beide Werke beinhalten komplementär ergänzende Angaben und nur geringfügige Überschneidungen. Die sich in den Tagebüchern abzeichnende subjektive Aufgewühltheit des immer noch nicht ganz bekehrten Besatzungsoffiziers, Abenteurers und Kulturtouristen Jünger bringt anlässlich der dienstlich verfassten »Geiselfrage« die Zerrissenheit in der objektiven Lage und die falsche Repräsentanz am richtigen Ort erst voll zum Ausdruck. Beide Quellen kommentieren sich gegenseitig recht aufschlussreich.

Geiselschrift und Pariser Tagebücher

In den Tagebüchern, Paris, 7. Juni 1942, bemerkt Jünger, der hellsichtige, von der französischen Kultur weiter faszinierte, ästhetische Beobachter: »In der Rue Royale begegnete ich zum ersten Mal in meinem Leben dem gelben Stern, getragen von drei jungen Mädchen, die Arm in Arm vorbeikamen. Diese Abzeichen wurden gestern ausgegeben (...) Nachmittags sah ich den Stern dann häufiger. Ich halte derartiges, auch innerhalb der persönlichen Geschichte, für ein Datum, das einschneidet. Ein solcher Anblick bleibt nicht ohne Rückwirkung - so genierte es mich sogleich, dass ich in Uniform war.« Was bringt hier den Offizier und Autor der Tagebücher so in Verlegenheit? Wo er doch jederzeit Äußeres und Inneres kunstvoll zwischen Alltag, Beobachtung und Verklärung zu verweben, zu erklären oder zu verschleiern und zu transponieren imstande ist, auch im Ernstfall großer Katastrophen, wie dem längst eingeleiteten Holocaust? Nach diversen Kennzeichnungen wurde der einheitliche gelbe Judenstern im besetzten Polen und in Osteuropa ab August 1941, in Deutschland ab September 1941 und im besetzten Frankreich ab Juni 1942 durchgesetzt, während das Vichy-Regime sich zunächst, trotz judenfeindlicher Politik, gegen diese Zwangskennzeichnung bis zur schließlichen deutschen Okkupation im November 1942 wehrte.

Die Geisel-Abhandlung ist zunächst von großer Zurückhaltung gegenüber jeder Form von Betroffenheit gekennzeichnet: Sie geriert sich in einer versachlichten Verwaltungssprache zwischen neutraler Erzählung, beschreibender Kriminalistik, harter und glasklarer Erörterung der Konsequenzen, rücksichtslos gegenüber dem vermuteten Umfeld der unbekannten Täter vorzugehen. Und sie suggeriert die paternalistische Herablassung der Besatzer angesichts solider und respektvoller deutsch-französischer Ko-Administration im besetzten Frankreich und die beflissene Kollaboration der Vichy-Regierung. Schrittweise verschiebt sich die Perspektive in einen offenen Tumult: Der Beginn der Anschläge auf deutsche Soldaten, Offiziere und Verwaltungsträger wird minutiös, was die Taten betrifft, rekonstruiert. Sogleich geht es um möglichst direkte und gezielte Vergeltung – und hier öffnet sich der Spagat: entweder nach Pariser oder Berliner Methode: durch exemplarische Einzel-Tötung letztlich beliebig ausgewählter Geiseln oder gar der massenweisen Liquidation einer von Fall zu Fall ansteigenden Vergeltungsquote von bereits in Gefängnissen und Lagern sitzenden oder aktuell dorthin verbrachten Franzosen.

Das Drama der imaginären und realen staatlichen Eskalation

Eine kafkaeske Spannung liegt in der absurden Selbstverständlichkeit, mit der die Voraussetzungen und Auswirkungen solcher gleich massiver, nicht begründeter Verhaftungen und in der Folge beabsichtigten öffentlichen Vergeltungsmaßnahmen skizziert werden. Schon die bekannt gemachte Absicht der beliebigen Tötung einer bald beträchtlichen Anzahl von Franzosen – ohne oder mit Nennung der Namen – löst Panik aus. Schnell wird das Drama von Angst und Klage in der Bevölkerung laut, angesichts der Plakatierung, Androhung, Aufschiebung und Durchführung erster Erschießungen. Die Franzosen fühlen sich an die eigene Terreur erinnert, während die zivilen Errungenschaften der Französischen Revolution nichts mehr gelten: individuelle Freiheiten und Rechte, Verfassungskonformität, Gewaltenteilung, seriöse Ermittlungen, die Logik von Alibi und angemessener Bestrafung sowie das Prozessrecht und der Respekt vor einer kritikfähigen Öffentlichkeit. Stattdessen verbreiten sich Rechtsunsicherheit, Repression und Sippenhaft, Kompetenzchaos, Willkür, Pöbelherrschaft, Geheimnistuerei und Brachialgewalt, in Verbindung mit gefälschten Berechnungen der Zahl der Liquidierten und untergeschobenen Stellvertreter-Deportationen von Juden in die Vernichtungslager nach Osteuropa. Von Mal zu Mal werden der Widerstand und der Unmut der französischen Bevölkerung zwischen Paris und Vichy immer weiter angefacht. Die Darstellung bewegt sich tief unter den heute ausdrücklichen Fragen von Gesinnungsethik und Verantwortungsdruck, Jurisdiktion, Gerechtigkeit und Politik. Und doch wirft sie in breiten Passagen einen dunklen Schatten auf alle diese Gebiete. Sartres Existentialdilemmata und die bis heute anhaltende Diskussion um Kollaboration und Résistance erhalten ihr offiziöses faschistisches Gegenstück. Dazu kommt der Nihilismus des sich abzeichnenden Verfalls des alten preußischen Offiziersadels, eine Entwicklung, die sich in Jüngers Pariser Kriegstagebüchern wie eine Plage durch die Fassade der prunkvollen Szenarien des französischen Großstadtlebens frisst. Man könnte Jünger die schlangenförmige Anschaulichkeit, den parabolischen und diabolischen Charakter der Geisel-Schrift vorwerfen, in der das Skandalon der Camouflage des eigenen unhaltbaren Standpunktes immer stärker zu Tage tritt: in der behutsam erzählten Kette aufschreckender Attentate, dem von Berlin befohlenen Ultimate Punishment, dem Stress des deutschen Kommandos vor Ort und im Telefonat mit dem Oberkommando und der Reichskanzlei, den erörterten unterschiedlichen Kriterien und verschleppten Reaktionen, dem von den Franzosen verlangten Kadavergehorsam und den militärischen Exekutionen, der Friktion zwischen den Okkupatoren, den französischen Behörden und der drakonischen Befehlsspitze Hitlers zwischen hartnäckiger Erbarmungslosigkeit und propagandistischer Gelegenheitsgnade.

Verfall des preußischen Offiziersadels, Anpassung und Widerstand

Das auf die Geisel-Schrift und die Tagebücher verteilte ‚Kerngeheimnis’ lautet: Der innerste Kreis des Pariser Militärbefehlshabers, erst Otto von Stülpnagel (Auftraggeber zur »Geiselfrage«, der sich später vom Kommando entbinden ließ) und dann sein Nachfolger und Cousin, Carl-Heinrich von Stülpnagel, scheint aus relativ liberalen preußischen Aristokraten, einer »Farbzelle« im »Inneren der Militärmaschine« bestanden zu haben, - ‚innere Emigranten’, die in Paris ein provisorisches Operetten-Leben, scheinbar außerhalb von Deutschland, genossen, und die doch auch ein Stück weit ihren Job als gehorsame Exekutoren, Zurechtfälscher und Deportatoren ausübten. Zugleich waren sie Mitwisser und Mitglieder des mühsam sich formierenden Widerstandes, zermürbte Endzeit-Figuren im Hotel Majestic nahe dem Arc de Triomphe, die durch den Gesamtdruck der Ostfront und der allgegenwärtigen Vernichtungsaktionen und Todeslager merkten, dass die Ära des Besatzungsvergnügens zwischen Picasso und Pigalle vorbei war, während sich eine tiefgreifende Umgestaltung auch der Wehrmacht zu einer Todes-Apparatur von willfährigen und urteilslosen »Lemuren« und Zuträgern vollzog. Beide von Stülpnagel starben unter desaströsen Umständen zwischen Selbstmord, Otto von Stülpnagel in Pariser Gefangenschaft 1948, und Hinrichtung, Carl-Heinrich von Stülpnagel als in Berlin verurteilter Putschist, weil er am 20. Juli 1944 die SS und den Sicherheitsdienst in Paris verhaften ließ, als Stauffenbergs Plan, Hitler zu töten und in Berlin die Macht zu übernehmen, noch aufzugehen schien. Es kamen zweifellos, wie die Briten meldeten, auch im Westen zunehmend »polnische Verhältnisse« auf. Terroranschläge gegen deutsche Soldaten und Verwaltungsträger sollten tendenziell selbst in Paris und Umgebung mit Geiselnahmen nach dem Muster des Vernichtungskriegs im Osten beantwortet werden, wonach willkürliche Verhaftungen und Exekutionen französischer Staatsbürger gerade quantitativ zu eskalieren seien. Nach Verdachts- und Minderheitenkriterien bemächtigte man sich im großen Umfang und präventiv angeblicher Widerständler, Gaullisten, Anarchisten, Kommunisten, darunter Jugendliche, Arbeiter und Abgeordnete, Gewerkschaftler, Freischärler, Nationale Frontkämpfer, einbeinige Veteranen, Schwerverbrecher und Juden, um gegebenenfalls über Objekte der von der Berliner Regierung dekretierten Erschießung oder Liquidierung im Verhältnis 1:5, 1:50, 1:100 oder 1:1000 zu verfügen. Bei derart erhöhter Schmerzdosis mussten der Widerwille in der Bevölkerung und die erneute Gegengewalt besonders Ermutigter weiter anwachsen. Die öffentlichen Plakatierungen der Angstszenarien trugen maßgeblich zum düsteren Image Otto von Stülpnagels bei.

Die Totalisierung der Geiselnahme

Die in Kauf genommene Verdrängung von Verantwortung, Risiko und Recht auf Seiten der Besatzer beruhte auf dem progressiv in Europa vordringenden deutschen Staatsterrorismus: Entgegen den offiziellen Verlautbarungen von stabilem Frieden und Freundschaft zwischen zwei Nachbar-Völkern, wurden vor allem in der Unübersichtlichkeit der Städte die französischen Bürger zur Geiseln durch Ghettoisierung und Ausgangssperren, Verhaftungen und Todesdrohungen, nach einem irrationalen Masterplan gegen den Widerstand ohne Hirn und Verstand. Die Militärgouverneure und ihre französischen Partner-Behörden praktizierten zunächst gruppenspezifische, im Ganzen aber auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitete Kollektiv-Sühne und -Rache. Diese exterminatorische Politik ließ von einer edlen Entrüstung des deutschenfreundlichen französischen Volkes gegenüber den Attentätern nicht viel übrig. Marschall Pétains Angebot, sich im Laufe der Eskalation selbst als Geisel zu stellen, ist in diesem Lichte zu verstehen. Wenn er, der Vertreter des noch freien Frankreichs, sich zur Geisel meldete, dann waren auch alle angeblich freien Franzosen dazu fähig. Diese Handlung wurde als destabilisierende Geste des Aufstandes ausgeschlagen. Es ist erstaunlich, wie rasch es dennoch zur völkischen Gesamtverdammung von oben kam. In einer offiziellen Verlautbarung heißt es: »Die Feigheit derjenigen, die sich im Dienste von Moskau zu solchen Anschlägen hergeben, ist niederträchtig. Die Folgen ihrer Verbrechen drohen auf die Gesamtheit einer unschuldigen Bevölkerung zurückzufallen, die so die durch den Kreml angeordneten Taten sehr schwer bezahlen muss. Auch gefährdet sie die Rückkehr unserer in Deutschland weilenden Gefangenen.«

Im fraglichen Zeitraum 1941/42 notiert der Diarist Jünger in seinem Pariser Tagebuch den Niedergang des aristokratischen Offiziersgeistes und  das Eintreffen grauenhafter Botschaften des eiskalten Massentötens oder des lustvollen Abschlachtens von der Ostfront, während er im prekären Paris wie ein aus dem Internat entlaufener Schuljunge auf »heimlichen Wegen« wandelt, um sich mit literarischen und künstlerischen Größen zu treffen und den dunklen Weltlauf stundenweise zu vergessen. So erhält auch die »Geiselfrage« durch zeitgleiche Tagebuchpassagen Jüngers ihren tieferen Sinn: als Strategie der halbierten und um so deutlicher entlarvenden Aufarbeitung der ungeschminkten Funktion der deutschen Besatzer in Paris, einer Funktion, die weit über ihr eigenes geschöntes Selbstverständnis hinausging, nämlich Geiseln der Berliner Führung und ihres Ostkriegswahnsinns zu sein.

Jünger hat 36 Abschiedsbriefe von Geiseln, die im Zusammenhang des Attentats von Nantes im Oktober 1941 ausgewählt und erschossen wurden, übersetzt. Lauter Stimmen, zwischen 58 und 17 (der junge Guy Môquet), die von Mut und Liebe, Trauer und Trost kurz vor ihrem erwarteten Tod künden, meist ohne jede testamentarische Schwerfälligkeit kraft eines bis dahin glücklich empfundenen Lebens, mit persönlichen und politischen Idealen, auch über das absurd-gewaltsame Ende hinaus. Einer von ihnen, Raymond Laforge, schreibt: »Bekümmert Euch nicht. Das kann nichts nützen. Wir werden zum letzten Mal zusammenarbeiten, wie der Jäger und das Wild. Ich werde dir nicht sagen, ob es Schmerz bereitet, wenn man so wie wir ermordet wird.«
 









Ernst Jünger
Zur Geiselfrage
Schilderung der Fälle und ihrer Auswirkungen
Klett-Cotta
160 Seiten
19,95€

Leseprobe



Siehe auch unseren Beitrag:

Blätterwald
mit röhrendem Hirsch
Was gibt es über Ernst Jünger noch zu sagen? Welches Bild lässt sich mit seinem Namen auf die Leinwand der Gegenwart zeichnen? Ernst Jünger in der Kritik der deutschen Presse seit 1946.
Artikel lesen
Recherchiert und kommentiert von Jürgen Nielsen-Sikora

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