Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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»Das Gebilde ist flüchtig und jedweder Deutung ausgesetzt«
                             (aus: Übungen jenseits der Möglichkeit, 11, Gert Neumann)

Eine Entgegnung von Lothar Struck
an »die Helden der Literaturkritik«

Die Erregungen um Peter Handkes sogenannte "Serbien"-Texte (es sind Erzählungen, Dramen und Essays) schwappen scheinbar in regelmäßigen Wellen durch den Feuilletonwald. Es begann 1996 mit der "Winterlichen Reise", bekam nach einer kurzen Pause 1999 mit dem NATO-Angriff auf die Bundesrepublik Jugoslawien neue Nahrung und erreichte ihren Höhepunkt 2006 mit dem außerliterarischen Ereignis des Besuchs Handkes auf der Beerdigung von Slobodan Milošević. Wer gedacht hatte, dass der Tiefpunkt der sogenannten Debatte 2006 erreicht war, wurde nun, 13 Jahre später, eines Besseren belehrt. Mit der Vergabe des Literaturnobelpreises an Peter Handke setzte ein Publizistensturm ein, der seines gleichen sucht.

Schon 2006 zählte das Werk Handkes nicht mehr. Die sicherlich diskussionswürdige Entscheidung, Miloševićs Beerdigung aufzusuchen (Handke selber drückt seinen Zweifel in seinem Notizbuch aus) überlagerte längst die literarischen Implikationen. Das ist 2019 noch mehr der Fall. Mit großem Aplomb wurden Verleumdungen auf Denunziationen geschichtet und Lügen verbreitet. Wer geglaubt hatte, dass das Niveau von 2006 nicht mehr unterschreitbar war, wurde eines Besseren belehrt. Auch jene, die sonst an jeder Straßenecke vor "Hate-Speech" und "Populisten" warnen, waren sich nicht zu schade, genau dies zu praktizieren. Thomas Melle hat in einem nüchternen Artikel in der FAS die Mechanismen aufgelistet. Er bleibt, was die Nebenfiguren angeht, diskret. Wer sie namentlich kennenlernen möchte, ist bei Lars Hartmann gut aufgehoben. Hier findet man unter anderem die Aussagen der Schriftstellerin (?) Jagoda Marinić, die sich nicht zu schade ist, eine Zeitung zu zitieren, die Handke ein sogenanntes Zitat unterjubelt, welches er nie aussprach. Frau Marinić glaubt, dass ihre Einschätzung, es handele sich um eine "seriöse Zeitung" genügt, dass sie verleumderische Aussagen weiterverbreiten darf. Das muß man eigentlich nicht mehr kommentieren. Zwei Spiegel-Journalisten "enthüllen" inzwischen diese dreiste Lüge. Um das Originalzitat zu finden, hätten sie eigentlich nur mein Buch auf Seite 136 aufschlagen müssen. Ob sie das gemacht haben, weiß ich nicht, da ihr Text hinter der Bezahlschranke liegt. Auch so eine Methode, die Aufklärung verhindert, weil Google das Ding nicht findet. 

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Einer der zu Beginn tonangebenden Figuren in diesem Schmierentheater ist der Schriftsteller Saša Stanišić, der unmittelbar nach der Nobelpreisverkündung im Halbstundentakt seine Twitter-Kloake gegen Handke mobilisierte - mit Invektiven, aus der Luft gegriffenen Mutmaßungen und Lächerlichkeiten. Als er dann den Deutschen Buchpreis zugesprochen bekam, entlud sich sein Hass in einer Rede. Die Jury schwadronierte in ihrer Begründung etwas von "Narrative[n] der Geschichtsklitterer", denen Stanišić angeblich mit seinem Roman etwas entgegensetzte. Stanišić betrachtete dies als Aufmunterung, sein Handke-Bashing in der Dankesrede zu entladen. Er bezichtigte Handke der Lüge. Er pickte sich eine Stelle aus dem "Sommerlichen Nachtrag" heraus und verknüpfte dies mit seinem persönlichen Schicksal. Als hätte Handke seine Familie bedroht und vertrieben. Als wäre Handke ein Tschetnik oder Massenmörder. Handke erwähne die Opfer nicht, sagt Stanišić und verrät damit, dass er die Bücher nicht gelesen hat. Er, Handke, sage, dass es unmöglich sei, dass diese Verbrechen verübt worden seien. Das ist eine Verkürzung von Handkes Gedankengang durch Stanišić. Das muss man Literaturklitterung nennen. Aber alles ist scheinbar hinnehmbar, um Recht und Applaus zu bekommen.

Am infamsten ist er allerdings dann, wenn er die Nobelpreisgewinnerin Olga Tokarczuk gegen Handke ausspielt. Die Mischung zwischen gönnerhafte Geste und Schmeichelei ist ein Anfall von Größenwahn. Immerhin, so Melle, hörte Stanišić von da an auf, seinen Kreuzzug gegen Handke fortzusetzen. Er hatte ja die Jury überzeugt, ihm als Betroffenen einen Preis zukommen zu lassen. Aber keine Sorge, Saša Stanišić, ich versichere Ihnen, dass ich Ihre Literatur immer von Ihrer Person trennen werde, wenn ich denn irgendwann Ihre Bücher einmal lesen möchte. Und inzwischen bejammern Sie ja Ihr Schicksal auf Twitter, so als hätte Handke Sie angegriffen und nicht umgekehrt.

* * *

Der slowenische Philosoph (?) Slavoj Žižek machte aus Handke von Beginn an einen "Apologeten des Völkermords". Klaus Kastberger nannte diese Anschuldigung, die den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllt, eine "Schweinerei". Žižek sei, so Kastberger, ein Ideologe, und denen käme es nie auf die Wahrheit an.

Žižeks Diktum wurde von der hierzulande vielleicht doch ein wenig zu sehr verehrten New York Times und dem Guardian – um nur einige zu nennen - übernommen und weitergesponnen. (Linksammlung hier.) All das natürlich ohne jegliche Textkenntnisse. Belege: Fehlanzeige. Wie auch, möchte man sagen, denn die "Winterliche Reise", 1997 ins Englische übersetzt, wird aktuell bei Amazon für 999 Dollar angeboten. Weitere Serbien-Bücher Handkes wurden erst gar nicht übersetzt.

PR-Agenturen wie Ruder Finn, Jefferson Waterman oder als Anwaltskanzleien agierende Lobbygruppen wie Barnes & Thornbourg oder Alston & Bird (um nur einige zu nennen; mehr hier in meinem "Quellenband", die seit Anfang der 1990er Jahre für kroatische, bosnische und kosovarische Institutionen (oder Privatpersonen) die US-amerikanische Öffentlichkeit bearbeiten, haben einen guten Job gemacht. Ihr Gift ist noch da, wird von Kommentatoren aufgenommen und ungeprüft in die Welt gespritzt.

Auf CNN leitete die Journalistin Christiane Amanpour ihre Sendung ein, in dem sie Handke zunächst nicht namentlich erwähnte, sondern als "guy" bezeichnete, "who is beeing accused to be a apologist of…" Neben der Moderatorin, die vorher schon twitterte, was sie "wusste", saß mit Peter Frankopan jemand, der bisher nicht durch Handke-Lektüre aufgefallen war. Da stand der andere Gesprächspartner, der Handke-Biograph Malte Herwig, auf verlorenem Posten.

* * *

Zurück nach Deutschland. Hier ist das Lesen der Primärtexte zu einer eher seltenen, fast exotischen Ausnahme geworden. Eugen Ruge appelliert in der FAZ: "Leute, lest doch einfach mal seine Texte! Nehmt euch die Zeit – oder haltet den Mund." Stattdessen schreiben nicht nur Journalisten die Interpretationen aus Sekundär- und Tertiärtexten einfach ab, garnieren mit ihrer Meinungssahne und verkaufen dem Rezipienten dies als Wahrheiten. Es ist bezeichnend, dass der Literaturkritiker Jan Drees darauf hinweisen muss, dass man zwar ein Buch "querlesen" kann, aber dies für eine Rezension nicht ausreicht. Selbstverständlichkeiten werden zu Erkenntnissen.

Es sind die Schlagzeilenfetischisten, die den feuilletonistischen Populismus der Denunziation bei ziemlicher Ahnungslosigkeit pflegen. Parallel wundert man sich dann über den Bedeutungsverlust von Medien. Ja, warum wohl?  

Wie groß die Lesefaulheit ist, zeigt sich an einem praktischen Beispiel. Am 17.10. erschien online mein Text "Kein Bewohner des Elfenbeintums" über die Causa Handke im österreichischen Wochenmagazin "DIE FURCHE". In dem Text hatte ich geschrieben, dass Handke das Massaker von Srebrenica weder relativiert noch geleugnet habe, sondern es als das schlimmste Verbrechen nach dem zweiten Weltkrieg bezeichnet hatte. Der Literaturwissenschaftler Jan Süselbeck twitterte daraufhin die Frage, ob dies den Tatsachen entspreche.

Da es sich bei meinem Text nicht um einen wissenschaftlichen Text handelt, gab es natürlich keine Fußnoten. Aber Süselbeck bemüht sich scheinbar nicht, die Textstelle selber zu suchen. Er fordert so etwas wie eine Beweislastumkehr: Man muss offensichtlich beweisen, dass es "entlastende Stellen" gibt. Statt von den Anfeindern Belege zu fordern, sollte ich dies tun. Obwohl ich ohne stationäres Internet war, wies ich auf die Süddeutsche Zeitung vom 31.05.2006 hin und nannte ihm die Seitenzahl aus der Winterlichen Reise. Der Text der SZ ist im Netz unter einem Datum von 2010 zu finden (was vermutlich technische Gründe hat), aber man kann ihn finden, wenn man will.

Süselbeck antwortete einen Tag später, dass die GSA dies anders sehe und verlinkte einen Text von zwölf Zeilen der "German Studies Association" in englischer Sprache, in denen der übliche Unsinn über Handkes Texte verbreitet wird. Statt die genannten Quellen nachzuprüfen oder vielleicht einmal – es klingt verrückt, ich weiss – die "Winterliche Reise" zu lesen, wird als "Gegenargument" ein solches Posting hervorgeholt.
Ist es Ignoranz, Perfidie oder doch schlicht Faulheit?

                                        
* * *

Und auch der Text des Altmeisters Wolfram Schütte soll hier ein wenig befragt werden. Dabei ist es mir fast unangenehm, aus dem Nähkästchen zu plaudern, denn Schütte hatte mich vor einigen Jahren angeschrieben, ob ich nicht helfen könne, sein zerrüttetes Verhältnis zu Handke zu kitten. In der Sache, so führte Schütte aus, bleibe er bei seiner ablehnenden Meinung zu den Texten Handkes von damals, aber es geht um eine spezielle Äußerung, im Affekt geschrieben. Ich musste sein Ansinnen ablehnen, da ich ein derartiges Verhältnis zu Handke nicht hatte (und nicht habe); ein Besuch bei ihm befähigt mich nicht, als Vermittler tätig zu werden.

Schütte schreibt jetzt wieder über Handke. Er, Handke, habe "sich politisch auf die Seite der Serben & deren Führer Milosevic öffentlich (& zwar literarisch!)" gestellt. Eine – nur eine! – Textstelle, in denen Handke dies getan hat? Vergeblich. Schüttes Aussage ist Interpretation, Exegese. Sie ist nicht gestützt auf das, was Handke geschrieben hatte. Gab es denn, so möchte man fragen, die von Handke festgestellte einseitige Berichterstattung in den Medien nicht? Gab es nicht die neue Verfassung des kroatischen Staates, in denen die Krajina-Serben diskriminiert wurden? Hat sich Handke das nur ausgedacht? Hat Schütte auch nur ein historisches, halbwegs neutrales Buch über Entstehen und Entwicklung der Jugoslawien-Kriege gelesen?

Und was ist so schlimm daran, wenn einer – einer! – über den Markt von Belgrad geht? Sicher, anderswo wird geschossen und gemordet. Handke thematisiert das selber und sinniert, ob es "nicht unverantwortlich sei mit den kleinen Leiden in Serbien daherzukommen, dem bißchen Frieren dort, dem bißchen Einsamkeit, mit Nebensächlichkeiten wie Schneeflocken, Mützen, Butterrahmkäse, während jenseits der Grenze das große Leid herrscht, das von Sarajewo, von Tuzla, von Srebrenica, von Bihać, an dem gemessen die serbischen Wehwehchen nichts sind?"  Er überlegt, ob ein "derartiges Aufschreiben nicht obszön ist, sogar verpönt, verboten gehört – wodurch die Schreibreise eine noch anders abenteuerliche, gefährliche, oft sehr bedrückende (glaubt mir) wurde, und ich erfuhr, was 'Zwischen Scylla und Charybdis' heiß". Er kommt letztlich zu dem Ergebnis, dass es darum nicht gehe. Es geht nicht um ein Aufrechnen, ein gegenseitiges Vorhalten. Die Arbeit des Dichters "ist eine andere. Die bösen Fakten festhalten, schon recht. Für einen Frieden jedoch braucht es noch anderes, was nicht weniger ist als die Fakten." Was ist daran jetzt "überlegen", Herr Schütte? Wo ist die seherische Geste? Wo beansprucht Handke hier für sich Deutungshoheit? Wo liegt hier eine "ontologische Selbst-Nobilitierung" (was immer das genau auch sein soll)?

Noch mehr Fragen? Ja, einige. Warum schreiben Sie von zwei Reisebüchern Handkes und meinen die "Winterliche Reise" und den "Sommerlichen Nachtrag". Beide erschienen 1996. Und die Bücher danach? "Unter Tränen fragend", "Die Tablas von Daimiel" (hier besucht Handke Milošević – und ist gelangweilt von dessen Vorträgen), "Die Kuckucke von Velika Hoca" (fast eine Reportage aus einer serbischen Enklave im Kosovo) – um nur einige zu nennen? Und noch eine wichtige: Warum dieser pejorative Ton, dass sich Handke "gerne" auf die slowenische Herkunft seiner Mutter berufe? Handke hatte sich im Laufe der 1980er Jahre dem "Slawentum" seiner Ahnen mütterlicherseits zugewandt. Sein Großvater hatte 1920 für ein Südkärnten in Jugoslawien statt in Österreich gestimmt. Handke hatte sich mit dem Widerstand der Kärntner Slowenen beschäftigt.  Das ist dokumentiert – in seinem Werk vor allem. Schütte suggeriert, Handke benutze dies nur.

Ach, lassen wir's dabei. Die Referenz zu Hölderlin (der als Irrer im Turm landete – ja, ich verstehe schon), zum Stalinisten Stephan Hermlin. Ganz zu Anfang muss natürlich Grass bemüht werden. Ein schiefes Bild gebiert das nächste; das erinnert an Loriot.

                                     * * *

So oft ich die Helden der Literaturkritik, die sich auf Twitter verbreiten, nach ihren konkreten Lektüren von Handkes Büchern frage, ernte ich – Schweigen. Keiner antwortet. Aber jeder verlangt von Handke Antworten. Antworten auf Fragen, die sich mit der Lektüre beantworten ließen. Danach könnte man andere Fragen stellen, Fragen, die in eine ernsthafte Diskussion münden könnten. Aber daran sind sie alle (!) nicht interessiert.


Artikel online seit 23.10.19

»Wer mehr darüber erfahren möchte, was Handke tatsächlich über Jugoslawien gesagt hat, dem empfehle ich Lothar Strucks Ausführungen in »Der mit seinem Jugoslawien«. Peter Handke im Spannungsfeld zwischen Literatur, Medien und Politik.«
Henrik Petersen, Mitglied des Nobelpreiskomitees 2019














Lothar Struck
»Der mit seinem Yugoslawien«

Peter Handke im Spannungsfeld
zwischen Literatur, Medien und Politik
Strucks Analyse stellt die bequemen Urteile über Handkes Äußerungen zu Jugoslawien infrage und öffnet so den Weg zu einer Neubewertung. Dabei wird gezeigt, wie Biographie, Sprachkritik und Politik einen Dreiklang bilden, in den Handke seine Stellungnahmen für ein Jugoslawien bettet, das für ihn zu einem Ideal eines möglichen Europa wurde, eines Europa, »wie es sich gehört hätte oder wie es hätte werden können«.
Verlag Ille & Riemer


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