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Variationen von Zuversicht

In seinen neuen Erzählungen entführt Frank Jakubzik die Leser
in
alltägliche Situationen, die aber der Realität stets um ein
entrückt sind.


Von Lothar Struck
 

Vor drei Jahren erschienen mit "In der mittleren Ebene" 17 Erzählungen von Frank Jakubzik. Sie seien, so der Untertitel, "aus den kapitalistischen Jahren" und handelten von "Saleslemmingen" und "klinkenputzende(n) Nomaden", evozierten mit großer Genauig- und Behutsamkeit die Melancholie der zu Verkaufsautomaten degradierten Angestellten, die auf der Autobahn, in muffigen Hotelzimmern oder sterilen Konferenzräumen agieren müssen und den Noch-Enthusiasmus ihrer Chefs, oft genug Mittdreissiger, die, sich selbst berauschend an ihrem eigenen Businesssprech, aushalten müssen.

Mit "Gefühlte Zuversicht" ist jetzt ein neuer Erzählungsband von Jakubzik mit 15 Geschichten erschienen (zwei davon waren in früheren Fassungen in Zeitschriften publiziert worden). Das Themenfeld ist erweitert, der Kapitalismus und dessen Deformationen spielen nur noch teilweise eine Rolle. Auch die Schauplätze sind unterschiedlich. Mal wird von einem "Martin der Kühne" erzählt, einem Büchersammler aus Mainz, der große Stapel von Büchern, allesamt von der Stadtbibliothek ausrangierte Leihexemplare, in herkulischer Anstrengung unter seinen Achseln durch den beginnenden Regen nach Hause trägt (und dabei fast eine Verabredung verpasst). In einer anderen Erzählung erkennt man Kassel. Es gibt Jugenderinnerungen aus der deutschen Provinz. Oder Menschen sitzen im Zug nach Frankfurt oder Portland/USA. Nils Remming, ein pensionierter Angestellter, fliegt in ein kleines Land, in dem selbst die Naturkatastrophen "zu bescheiden" sind, um in den Weltnachrichten vorzukommen, mit 837.000 Euro im Handgepäck ("Die Freiheit") – und erlebt eine Überraschung. Die letzte Erzählung – "Zwei japanische Fabeln" genannt - spielt in Tokio, der Leser lernt Herrn und Frau Koshimori kennen, denen allnächtlich etwas fabel- und wunderhaftes widerfährt (das Ende ist wahrlich rührend).

Nicht nur in der Erzählung aus Tokio verschwimmen die Erzählungen zunächst fast unscheinbar, dann immer wilder die Grenzen zwischen Realität, Zauber und, bisweilen, Horror. Da wird eine Zugfahrt abwärts und "in Bocksprüngen" erfahren und selbst "der Lokomotivführer" weiß keinen Rat mehr. Trotz Chaos aber Zuversicht: Der Ich-Erzähler (einer der wenigen; meist verwendet Jakubzik den Auktorialen oder Allwissenden) versucht schließlich Zeitung zu lesen, sorgt sich schließlich sogar einzuschlafen und den Anschluss nach Frankfurt zu verpassen (den es wohl nie geben wird). Oder es wird von einem "Pendlerzug nach Portland" in atemlosen, kleistlangen Sätzen erzählt, von einem zunächst streitlustigen, dann messerzückenden 35jährigen Fahrgast und dessen Verstörung.

In "Anderswo" stellt ein Mann samsaartig plötzlich fest, dass die Frau, die neben ihm im Bett liegt, eine Unbekannte ist, die Wohnungseinrichtung nur seiner ähnelt und auch sonst stimmt nichts mit seinem bisherigen Leben überein. Er taumelt durch eine Welt, die er nicht kennt, während die anderen so tun als sei alles beim alten. "Man könnte natürlich verrückt werden vor solchem Geschehen, man könnte es aber auch lassen", so die Bilanz nach einigen Tagen. "Es ist nicht sein Leben…aber es ist ein Leben" und der Mann, dem so geschehen ist, richtet sich im Gedächtnis einen "kleinen Altar" ein, der "feierlich" bezeugt, dass dies sein falsches Leben ist – und dadurch indirekt seinem "ehemaligen" Leben gedenkt.

Am gelungensten sind die Erzählungen, die zwischen den diversen Wahrnehmungswelten changieren wie in der eines Ich-Erzählers (wieder einer) über Nevoglio, dem "Gedankenkünstler", der tingelnd durch die Lande zieht, vor 15 oder auch einmal 50 Personen  eine Symphonie aufführt oder vielleicht auch ein Gebäude entwirft. Niemand weiß es genau, denn der Gedankenkünstler bleibt stumm, seine "Aura entfaltet sich im Raum" und "[s]einem Gesicht ist nicht anzusehen, ob er schon angefangen hat". Es ist "gezeichnet von einer großen, erheblichen Konzentration auf etwas ganz Bestimmtes, Unsichtbares, unserer Wahrnehmung Entzogenes". Nur "Wahrnehmungswilligen" erschließt sich dies. Andere, zumeist Feuilletonisten, so der Erzähler, halten es für Scharlatanerie. "Liebedistas" nennen sich die Anhänger der Gedankenkünstler, eine winzige Gemeinschaft (die die Scharlatane sicher enttarnen können). Man möchte, dass dieser Text gar nicht mehr aufhört.

Jakubzik widersteht der Versuchung, den Gedankenkünstler als bloßen Witz mit dumpfer Pointe zu schildern, wie etwa Thomas Bernhard dies einst in einer kleinen Erzählung über eine "Kammermusikvereinigung" machte, die den meisten Beifall bei einem Konzert in der "Taubstummenanstalt" erhielt. Er lässt die Möglichkeit dieser Kunstform zu. Die Erzählung erhält dadurch nicht nur eine allegorisch-symbolischen Bedeutung (gibt es ein solches Gedankenkünstlertum nicht auf einer anderen Ebene durchaus?), sondern behält auch ihrerseits diese mystische Aura, die die Atmosphäre der erzählten Aufführungen plötzlich nacherlebbar macht. Und dem Leser geht auf, worin die "gefühlte Zuversicht" hinführt. 

Ganz anders zeigt sich die lange Erzählung "Die Bestimmung", in der in drei Episoden die Jugend von Mark, einem vielleicht 14- oder 15jährigen Jungen in den 1970er/80er-Jahren in einer Neubausiedlung geschildert wird. Mark ist häufig "pleonastisch gestimmt" und kann die Ödnis seines Umfelds besser im Alleinsein als zum Beispiel beim sonntäglichen Familienausflug ertragen. "Die Jugend war eine schreckliche Zeit des unerfüllten Wartens", rekapituliert ein bisschen altklug der allwissende Erzähler. Erzählt wird aber auch vom Fernsehschauen als "Vatermuttersohn"-Gemeinschaft, einer aufdringlichen Cousine und, das sind die schönsten Momente, eben jenen Wonnen von schweigenden Zimmern. Auch hier wartet man – glücklicherweise – vergeblich auf eine Verkauzung der Hauptfigur.

Manchmal wird es allerdings auch heiter, aber ohne Zeigefinger. Etwa beim Schicksal des bereits angesprochenen Auswanderers mit seinem Geldkoffer (man hat Mitleid mit ihm). Oder der launige, essayistische Text über die Hochzeit ("gewiß der größte Moment im bürgerlichen Leben") und das Heiraten ("eine Demütigung"). Oder ein Handelsvertreter schwänzt in der Suche für ein Geschenk für seine Frau seine Termine, weiß nicht einmal mehr, was er vertritt und genießt diesen Tag des "köstlichen Nichtwissens" (wobei ihm später, als das Leben wieder einfällt, klar wird, dass er die Geschäftstermine nachholen muss). Noch ein "oder": Sanft gleitet die Geschichte des Burkhard Schlesinger (die Namen!) und seiner "Mürrischkeit" über die Tatsache, dass es immer regnet, wenn er aus dem Haus geht, ins erotische, wenn er sich unverhofft bei Jutta wiederfindet, die dem Verheirateten in ihrer Wohnung Schutz vor dem Regen gewährt.

Immer wieder finden sich wunderbar erzählte, einzelne Szenen, die dann aufleuchten und die man, sollten sie einem selber passieren, von nun an anders sehen wird. Etwa wie eine Uhrenverkäuferin ein Exponat aus der Vitrine holt. Oder die bereits angedeuteten schweigenden Zimmer, die jede Tristesse aufhebt. Das sisyphoshafte Lesen der aufgesammelten Bücher, welches das Leben doch nicht ändern wird (aber wer weiß?). Die "tickende Moderne auf Weltniveau" am Frankfurter Hauptbahnhof.

Ja, Frank Jakubzik bietet schon ein Kontrastprogramm an. Variationen von Zuversichten, die sich nicht immer erfüllen. Oder vielleicht doch, und man hat nur eine falsche Vorstellung davon? "Inbegriffe einer haltlosen Ewigkeit" konstatiert der Beobachter von "Zur Hochzeit" wenn er ein Brautpaar sieht. Frank Jakubzik erzählt von Ewigkeitssuchenden und -süchtigen, den falschen Versprechungen der individualistischen Moderne, der Müdigkeit ihrer Protagonisten, die ausbrechen – sei es als Messerangreifer, Zugfahrender, Uhrenkäufer, Liebedista, Leser oder wahnsinnig Gewordener. Figuren, die "etwas über die Welt, in die [sie] hineingeworfen wurden" erfahren wollen, die "Puppenmeisters Schnüre" neu knüpfen oder es zumindest versuchen möchten.   

Ein Trostbuch? Vielleicht. Aber gleichzeitig mehr.

Artikel online seit 25.09.19
 

Frank Jakubzik
Gefühlte Zuversicht
Erzählungen
edition suhrkamp 2758
158 Seiten
ISBN: 978-3-518-12758-2

Leseprobe

 

 


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