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© R. Reifenrath |
Kurage -
In einem Brief Walter Benjamins während seines französischen Exils 1936,
beschreibt der mittellose depressive Philosoph, nach einem ermutigenden
Spaziergang, den »Augenblick,
bei dem man, trotz alledem ganz froh ist, noch vorhanden zu sein. Auf dem
Rückwege aber mangelt dann oft die Kurage, die Schwelle des unbezahlten Hotels
zu überschreiten«.
Massenerfahrungsbad - Kürzlich habe
ich mir das Vergnügen gemacht, ein paar von den gigantischen Rockkonzerten
anzusehen & anzuhören, die seit einiger Zeit alljährlich einen ganzen Tag lang
in 3sat gezeigt werden. Manchmal (z.B. bei »Rolling Stones«-Konzerten) wird die Bühne erweitert durch einen Steg, der ins Publikum hineinreicht wie z.B. auf dem Starnberger See ein Holzsteg, auf dem man rund 100 Meter in der Wasserlandschaft flanieren kann, Bei den Musikveranstaltungen hat dieser Steg die Funktion, die Künstler einzeln ihr «Bad in der Menge« nehmen zu lassen. Durch diesen zungenhaften Auswuchs haben mehr Teile des Publikums die Aussicht, einzelne Künstler, die quasi über ihren Köpfen sich (schweißnass & tänzelnd: Mick Jagger) bewegen, aus nächster Nähe zu sehen, will sagen: »hautnah« bewundern zu können.- ohne sie doch zu fassen zu bekommen! Denn die haptische Aggression der dionysisch fanatisierten »Fans« ist unverkennbar in diesem Lärm erfüllten Raum vorhanden.
Von den einzelnen Songs, die auf diesen »Konzerten« gespielt (& oft vom Publikum
bereits nach wenigen Akkorden erkannt & beifallsumrauscht begrüßt) werden, ist
schon kurze Zeit später kaum noch etwas zu hören, Sie verschwinden in einem
ohrenbetäubenden Lärmbrei, der sich aus riesigen Lautsprechern auf der Bühne
über das Publikum ergießt, begleitet vom konvulsivischen Zucken der Akteure, die
nicht selten Ohrstöpsel tragen – sei´s um die gerade produzierte Musik überhaupt
identifizierbar zu hören, sei´s um die Ohren vorm allgemeinen Lärm zu schützen,
während sie in ihr Handmikrophon singen. Es ist ganz offenbar so, dass weder die auf der Bühne noch ihr Publikum zu diesen Massenversammlungen zusammen gekommen sind, um Musik in diesem Augenblick produzierend entstehen zu lassen & sie »live« hörend zu genießen. Die Musiken sind jedem, der dort ist, bekannt, wenn nicht gar längst »in Fleisch & Blut« übergegangen. Deshalb können die Bands oder Solisten auf der Bühne mehrfach das Publikum zum Mitmachen auffordern & selbst phasenweise schweigen. Alle hören dann sich selbst zu. Es ist der intimste Moment ihrer lustvollen Kommunikation. Dabei sieht es manchmal so aus, als seien die Musiker selbst erstaunt darüber, wie ihnen massenweise aus Publikumskehlen entgegenkommt, was sie einst von sich aus in die Welt geschickt hatten. Kommunikation? Oder nicht doch viel mehr: a- oder irrationale Kommunion? Ohne die religiöse Anmutung, die die mystische Einheit aller hier zu rituellen Handlungen Versammelten herbeiführt, ist das dionysische Massenphänomen einer kollektiven autosuggestiven Trance nicht verstehbar. Was die »Priesterkaste« auf der Bühne mit dem Publikum, der »Gemeinde«, zu ihren Füßen emphatisch vereint, ist die beiderseitige, gemeinsame Identifikation mit der Musik & deren »reale Gegenwart«. In den Pop-Konzerten, deren Zelebration ich da sah, feierten Fan-Gemeinden Gleichgesinnter & Gleichgestimmter ihre gemeinsame Existenz – strukturell vergleichbar der Heiligen Katholischen Messe oder politischer Massenveranstaltungen von fanatisierten Publika (z.B. NSDAP-Reichsparteitage oder Goebbels' »Sportpalast-Rede«). Der irrationale, das menschliche Subjekt auslöschende Transzendieren der »good-feel«-Veranstaltungen, das Kollektive der rhythmisch geschwenkten Arme – kurz: der dionysische Archaismus, den ich als darunter verborgenes vorzivilisatorisches Urmuster unbewußt assoziiere, macht mir den Anblick zweifellos euphorischen Glücksempfindens en masse zutiefst zweifelhaft. Kommt das durch das Tabu gedächtnisloser Naivität im Blick auf Massenphänomene - nach dem Zivilisationsbruch des Holocausts? Ist es »nur« die Angst des Intellektuellen, der dessen conditio-sine-qua-non - die Subjekthaftigkeit -, schützen & erhalten will: vor deren Hin- oder Aufgabe oder gar »Überwältigung« sowohl durch Musik als auch durch das Kollektiv? * Schall & Rauch - Vor Jahren, erinnere ich mich, bei der Lektüre vermutlich später Erzählungen Alfred Anderschs, Kopf schüttelnd gelesen zu haben, wie der Autor versucht hatte, unterschiedliche Farbnuancen durch namentlich zitierte Farbennamen zu fixieren. Es handelte sich um Farben, die professionellen Malern bekannt & womöglich geläufig sind, dem Laien & selbst dem Kunstliebhaber jedoch nicht. Vermutlich wurde der Autor von der Arbeit seiner zweiten Frau, der Bildenden Künstlerin Gisela Andersch, dazu angeregt. Möglicherweise aber entsprach der Impetus der genauesten Wirklichkeitswiedergabe seiner Ästhetik. Allerdings war das ein Irrtum. Farben vermag Literatur nur ungefähr, vage & grob zu evozieren – indem die beschworenen im Vergleich einer allgemein bekannten (wie Rot, Gelb oder Grün) lokalisiert werden. Der jeweilige Name auf einer Skala (z. B. von Rot) dient nur den Professionellen zur Orientierung.
Deshalb produzierten diese Farbsetzungen kein farbliches Vorstellungsbild. Eher
wirkten sie in der Literatur künstlerisch prätentiös, als stolziere der Autor
mit seinen malerischen Kenntnissen vor einem wie ein (seltener) Goldfasan mit
seinem prächtigen Gefieder. In beiden literarischen Fällen sieht sich der Leser mit Autoren konfrontiert, die ihm gewissermaßen demonstrativ vorführen, welche speziellen sprachlichen Kenntnisse sie besitzen. Es gibt bestimmt Leser, die sich von dem Arkan-Wissen solcher Autoren gedemütigt zu fühlen meinen - & deshalb die mehrwissenden Autoren hassen. Aber zwischen der farblichen »Angaben« Anderschs & der floralen Benennungen Kinskys gibt es einen Unterschied ums Ganze – wenn auch beide sich durch diese ausgewiesenen Kenntnisse den Lesern unmissverständlich »überlegen« zeigen. Andersch tut so, als könnte die semantische Zitierung allgemein nicht gebräuchlicher Namen die Vorstellung einer spezifischen Farbe erwecken oder qua Fantasie vors imaginäre Auge des Lesers stellen. Das ist aber nicht der Fall. Kinsky demonstriert durch die meist unbekannten Namen zum einen, dass sie die von ihr beschriebene Gegend des Friauls bis ins Kleinste erforscht hat & zum anderen: indem sie z.B. eine Vielzahl von Namen dort vorkommender Unkräutern erwähnt, dass sie sich auf diesem Gebiet auskennt. Zugleich »würzen« die (deutschen) Namen durch ihre poetische Qualität (z.B. »Männertreu«) die Nüchternheit der Beschreibungsprosa. Die historischen Namen des Unkrauts verwandeln sich in diesem sprachlichen Umfeld zu Metaphern einer Märchenwelt. * Chronik eines angekündigten Todes – So viel & oft auch dieser Tage & Wochen über einen militärischen Angriff Russland auf die Ukraine gemutmaßt, spekuliert & öffentlich reflektiert wurde: nicht einer hat dabei den doch sehr zutreffenden, sprichwörtlich gewordenen Titel assoziiert, den Gabriel Garcia Marquez seinem vor 40 Jahren erschienenen, auf Anhieb weltberühmten Kurzroman gegeben hatte. *
Spätfolgen? – Je älter ich geworden
bin, desto mehr habe ich an mir beim Betrachten eines Kinofilms eine bis zum
Ekel gewachsene Aversion gegen den detaillierten Naturalismus von Gewalt-&
Todesdarstellungen bemerkt. Es ist nicht die Pyrotechnik, die mich abstößt. Gegen derlei spektakuläre Veranstaltungen im Kino (ob als Krieg oder Spaß) habe ich so wenig wie gegen ein Feuerwerk im Sommer am Main. Es ist im ersten Fall das bewusste ästhetisch-psychologische Kalkül, den Schrecken durch den Kontrast von erotischer Faszination & Zerstörung eines schönen weiblichen Körpers zu intensivieren, was mir an der Sequenz missfällt. Die Schönheit des weiblichen Körpers wird als Begehren beim betrachtenden Zuschauer gereizt, damit die Zerstörung umso nachhaltigere Wirkung entfaltet. Im zweiten Fall wird das zarteste &, zentralste Organ der menschlichen Spezies buchstäblich auf die brutalste Art »in die Luft gesprengt«. Die Gewalt, die beide Male hier inszeniert wird, zielt nur auf die Psyche des Kinobesuchers, um mit der Entzündung von Angst-Lust einzig seinem Zeitvertreib zu dienen. In der demonstrativen Fixierung von tödlicher Gewalt gegen menschliche Körper empfinde ich buchstäblich einen ästhetischen Sadismus im Dienst des Unterhaltungs-Konsums.
Diesen sadistischen Genuss an der demonstrativ ausgeübten Gewalt am menschlichen
Körper ist das Zentrum der Ästhetik Tarantinos. Je eindeutiger böse das Böse
auftritt, desto mehr psychologischen Genuss animiert es: zuerst durch
identifikatorische Angst-Lust mit der infernalisch Bösen, dann mit dessen
möglichst demonstrativ qualvollerer Vernichtung. Dabei ist der Kopf ein
besonders von Tarantino geschätzter Gegenstand sadistischer Begierde. Oder trifft auch hier schlicht zu, was das Sprichwort meint: »Im Haus des Henkers spricht man nicht vom Strick?«
Artikel online seit 20.02.22 |
»Petits
riens«, |
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