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Glanz&Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik

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Die menschliche Komödie als work in progress

Ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

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Die Sehnsucht
nach der Revolte

Komm-Pot

»Der kommende Aufstand« im Spiegel
des modernen Anarchismus

Von Gregor Keuschnig (Text als pdf-Datei)

Nach dem Zusammenbruch der bipolaren Welt 1989/90 kam es in vielen Regionen zu politischen, ethnischen, sozialen oder ökonomischen Konflikten. Aus den Residuen der Stellvertreterkriege entwickelten sich mitunter Bürgerkriege, die mit äußerster Brutalität geführt wurden und oftmals jeglicher Kontrolle entzogen waren. Dies zum Anlass nehmend, formulierte Hans Magnus Enzensberger 1994 seine »Aussichten auf den Bürgerkrieg« als ein globales Phänomen, welches entweder weit entfernt in Afrika oder Asien verortet wurde oder in Europa lokal begrenzt blieb (bspw. Baskenland oder Nordirland) bevor es mit den jugoslawischen Sezessionskriegen mit voller Vehemenz in das europäische Wohnzimmer einbrach. Enzensberger machte auch in den westeuropäischen Nationen Nester dieses »molekularen Bürgerkriegs« aus, konstatierte aber eher vorsichtig: »Man kann sich fragen, wie ernst der Gewaltkult der europäischen Avantgarden zu nehmen ist. Ihre Provokationen zeugen nicht nur von einem tiefen Haß auf das Bestehende, sondern auch von einem ebenso tiefen Selbsthaß. Wahrscheinlich dienten sie auch der Kompensation eigener Ohnmachtsgefühle und der Abwehr eines Modernisierungszwanges, der ihre Geltungsansprüche bedrohte.« Süffisant ergänzte er noch: »Außerdem wird man die Neigung zur Pose in Rechnung stellen müssen…«

Enzensberger hatte damals hellsichtig die globalen Bedrohungen durch den islamistischen Terrorismus vorweggenommen. Die wachsenden Unzufriedenheiten an und in den repräsentativen Demokratien Europas, die sich beispielsweise in den Unruhen in den Pariser Banlieues von 2005 zum ersten Mal in größerem Ausmaß zeigten, konnte er jedoch unmöglich vorhersehen. Diese Unruhen haben 2007 einige Autoren zu einer grundlegenden Schrift inspiriert, die den »kommenden Aufstand« nicht nur beschreibt, sondern in einem eigenartigen Stil zwischen Zynismus, Hochmut und Kälte logistische und bellizistische Anweisungen verbreitet. 2009 wurde das Buch um die Kommentierung der Ereignisse in Griechenland 2008 ergänzt. Diese Neuauflage liegt nun in der deutschen Übersetzung von Elmar Schmeda bei »Nautilus« vor.

Konspiration und Camouflage
Die Konspiration, die als essentiell für diese Form der politischen Auseinandersetzung beschrieben, ja beschworen wird, zeigt sich schon in der Benennung des Verfassers, die eine medial gelungene Anonymisierung darstellt: Ein »Unsichtbares Komitee« probt da den Aufstand. Nun kann entsprechend gerätselt werden, wer hinter dem Pamphlet steckt. Dabei dürfte es sich kaum um unterprivilegierte Transferleistungsempfänger oder die zornigen Jugendlichen von 2005 handeln. Auch die Terroristen des 11. September waren ja keine in Armut darbenden Unterdrückten. Diesen war lediglich die Claqueur-Rolle zugeschrieben.

Die Sprache des Buches camoufliert sich entweder aufgesetzt unintellektuell oder es handelt sich bei den Autoren um schlichte Gemüter. Rezensenten, die da eine neue linke Programmatik herauslesen und/oder eine intellektuelle Auseinandersetzung loben, haben ihre Projektionen gelesen, aber nicht dieses Buch. In Wirklichkeit wird kaum auf philosophische oder politische Werke Bezug genommen. Prominente Referenzen (beispielsweise die russischen Anarchisten oder auch Foucault) unterbleiben. Stattdessen werden Politikeraussagen aus dem Fernsehen erwähnt und zitiert. Der Aufständische als Couch-Potato - so ändern sich die Zeiten.

Existenz statt Leben
»Der kommende Aufstand« kommt zunächst als Anamnese der Gesellschaft in sieben Kreise[n] (Kapiteln) daher. Die Grundstimmung ist resignativ bis depressiv. Dabei überrascht, wenn einmal fast trotzig postuliert wird: Wir sind nicht deprimiert, wir streiken.

Die Erkenntnisse selber sind nicht neu. Die politischen Institutionen werden mit den sozialen, ökonomischen und ökologischen Problemen nicht mehr fertig. Die Politikkaste bildet eine Art Staat im Staate und hat es längst aufgegeben, die Wirtschaft zu bändigen oder zu zähmen. Sie besteht aus Hampelmännern, die sich im Palaver ergehen. Der Parlamentarismus wird zu sechzig Jahren demokratische Anästhesie erklärt. Ein Jahrhundert lang, so in fossilem Duktus, habe die Demokratie…bei der Hervorbringung faschistischer Regime den Vorsitz geführt. Das Volk wird derweil mit Konsum und allerlei Ablenkung ruhiggestellt. Wo dies nicht mehr funktioniert, werden die Bullen eingesetzt oder gleich die Armee. Dabei ist nicht die Gesellschaft in der Krise – die Krise ist diese Gesellschaft. Und Krise ist - Krieg.

Die Gegenwart ist ausweglos - dies ist die Quintessenz, die bereits im ersten Satz vorweggenommen wird (es wird nicht entwickelt, sondern deklamiert). Der Wohlfahrtsstaat wird in Anführungszeichen gesetzt; seine Auswirkungen sind furchterregend. Die Menschen wurden ihrer Sprache enteignet durch den Unterricht, unserer Lieder durch die Schlagermusik, unserer Körperlichkeit durch die Massenpornografie, unserer Stadt durch die Polizei, unserer Freunde durch die Lohnarbeit. Statt zu leben existieren sie nur noch. Immer wieder setzt das Komitee die als mechanisch und oktroyiert empfundene Existenz einem nicht näher definierten freien Leben gegenüber (Hobbes' Naturzustand?). Die Gesellschaft besteht nur noch aus Patienten, die zusammen zittern. Auch die Prothesen des Ich, der Individualismus, vermögen dies nicht aufzuhalten. Im Gegenteil: Der dumme Glaube an die Dauerhaftigkeit des Ichs verstärkt nur noch unser Gefühl der Haltlosigkeit. Der Individualismus soll nicht gezähmt, sondern abgeschafft werden. Gegeißelt wird die grausame…Individualisierungsarbeit einer Staatsgewalt, die von der Schule an ihre Subjekte benotet, vergleicht, diszipliniert und trennt.

Anarchistischer Anarchismus
Natürlich assoziiert man anarchistisches Gedankengut - sowohl was die Diagnose angeht als auch im dann entwickelten Aktionismus. Schnell erkennt man allerdings die erste fundamentale Differenz zum Großteil des zeitgenössischen politischen Anarchismus. Der israelische Aktivist Uri Gordon hat in seinem in diesem Jahr ebenfalls bei »Nautilus« erschienenen Buch »Hier und Jetzt« die unterschiedlichen Strömungen aktueller anarchistischer Bewegungen behandelt. Dabei steht der Individualismus in nahezu allen Strömungen gar nicht zur Disposition (es sei denn, er richtet sich gegen andere Individuen). Und in einem anderen Punkt unterscheidet sich die Schrift auch von den gängigen Bewegungen: die umfassende, globale, über Internet oder andere Kommunikationsmedien mögliche Vernetzung untereinander – für Gordon ein wichtiges »anarchistisches« Kriterium - wird in der französischen Aufstandsschrift abgelehnt. Zu gefährlich sei das Risiko des Aufspürens und Enttarnens. Man favorisiert das gute »alte« private Treffen, möchte keinen zentralistischen Überbau, will Milieus meiden (sie sind alle konterrevolutionär, weil ihre einzige Beschäftigung darin besteht, ihren schlechten Komfort zu bewahren), lehnt herkömmliche Organisationsformen ab (Organisationen sind ein Hindernis dabei, sich zu organisieren) und plädiert stattdessen für offensive Komplizenschaften. Das Komitee präferiert kleine, zellartige Strukturen, die – oh Wunder - Kommune genannt werden. Sie bestehen aus »Partisanen«, die natürlich im Krieg sind. Dann möchte man auch wieder die verschmähte Macht: Alle Macht den Kommunen!

Die einzelnen Kommunen bzw. deren Mitglieder sind in den sozialen Interaktionen den islamistisch-terroristischen Schläfern nicht unähnlich. Sie sollen sich mit lokaler Sozialhilfe und einem angelegten Gemüsegarten für einige Zeit tarnen. Letzteres trägt zur von einem Staat unabhängigen, autarken Versorgung bei und führt zum »autonom werden« als erste Stufe der sozialen Subversion. Dies bedeutet lernen, auf der Straße kämpfen, sich leere Häuser anzueignen, nicht zu arbeiten, sich wahnsinnig zu lieben und in den Geschäften zu klauen. Wirft ein Beruf nützliche Erkenntnisse für die Partisanentätigkeit ab, ist auch dieser gestattet. Sportliche Aktivitäten wie Boxen sind auch sinnvoll (Boxeraufstand!). Die einzelnen Kommunen agi(ti)eren dabei selbständig und unkoordiniert. Nicht einmal von der im Anarchismus so essentiellen »Dezentralisierung« kann man da sprechen, weil diese immerhin eine Struktur voraussetzt. So ruft das Komitee zu Betrügereien, Aneignungen (statt Plünderungen) und zu Brandschatzungen auf. Und arbeitende Kommunarden können Sabotageaktionen und Zerstörungen in den Unternehmen vornehmen.

»Dogmatismus der Infragestellung«
Die Metropole schafft, so das Komitee, kybernetische Einsamkeiten. Sie muss zerstört werden. Natürlich ist Geld nur Schmiermittel, damit der »Betrieb« aufrecht erhalten werden kann. Es gehört langfristig ebenfalls beseitigt. Familie ist die infantile Hingabe an eine flaumige Abhängigkeit. Ein Paar ist Autismus zu zweit. Mit der Totalität des sozialen Raums wird diffus ein Gefühl der Vereinnahmung ausgedrückt. Schon zu Beginn wird verkündet, dass es keine soziale Lösung geben kann. Was das genau bedeutet, bleibt undeutlich. Wie so häufig in diesem Buch sieht man einen Blitz und muss den Donner erahnen.

Zuweilen sind die Beschreibungen der Zustände mit überraschenden Schlussfolgerungen verknüpft. So zum Beispiel, wenn es heißt, dass sich der Okzident als spezifische Zivilisation geopfert [hat], um sich als universelle Kultur durchzusetzen. Der westliche Imperialismus heute, das ist der des Relativismus, des »Das ist deine Ansicht«, das ist der kleine Seitenblick oder der verletzte Protest gegen all das, was dumm genug, primitiv genug oder selbstgefällig genug ist, um noch an etwas zu glauben, um noch irgendetwas zu behaupten. Dies könnte sowohl Mohammed Atta als auch ein italienischer Neofaschist gesagt haben. Angeklagt wird hier nicht mehr und nicht weniger als der Pluralismus einer wie auch immer organisierten Gesellschaft – scheinbar zu Gunsten einfacher Wahrheiten. Die Welt ist eben unübersichtlich geworden. In der Moderne erkennt man den Dogmatismus der Infragestellung gepaart mit einem Imperalismus des Relativen und erklärt dem überraschten Leser, dass keine gesellschaftliche Ordnung…auf Dauer auf das Prinzip gründen kann, dass nichts wahr sei. Im Dunklen bleibt, wer die Wahrheiten definiert, also die Frage nach Legitimation.  

Und konsistent ist man auch nicht, wie sich im Kapitel über die ökologische Katastrophe zeigt, die in Wirklichkeit nicht berührt. Und das sei gerade die Katastrophe, so das Komitee. Es folgt dann eine für diese Schrift typische Volte: Es gibt keine Umweltkatastrophe. Es gibt diese Katastrophe, die die Umwelt ist. Die Umwelt ist das, was dem Menschen übrig bleibt, wenn er alles verloren hat. Biolebensmittel werden produziert, um noch produzieren zu können. Der grüne Kapitalismus sei, so das Komitee, gescheitert - eben weil er letztlich weitermacht, wenn auch mit geringerer Intensität. Ökologie ist die neue Moral des Kapitals. Falsch ist das nicht. Aber so geht »Infragestellung« von allem: Die Katastrophe ist die Chance; in einer apokalyptischen Atmosphäre organisiert sich hier und da (sic!) ein Leben neu. Beispiele sind ein Mietshaus, in dem der Strom ausgefallen ist oder das zerstörte New Orleans, in dem die Selbstverständlichkeit der Selbstorganisation wieder aufkeimt. Dass das reichlich idealistisch und verkürzend ist, kann man in Kleists Novelle »Das Erdbeben von Chili« nachlesen und in Nordkorea anschauen.

Manches ist in seiner paranoiden Verquastheit einfach nur komisch. Da ist von einer Pappkultur die Rede und Literatur in Frankreich sei der Raum, den man für die Unterhaltung der Kastrierten souverän bewilligt hat. Nahezu alles wird von diesem Komitee abgelehnt, weil natürlich nahezu alles zur Erhaltung des bestehenden Systems dient (auch keine gänzlich neue Erkenntnis). Da bleiben Ungereimtheiten nicht aus. Mal wird beklagt, dass die Alten für schändliche Preise den Hintern abgewischt bekommen, um diese Alten dann wenig später als lustgierige Rentnerhorden zu beschimpfen. Natürlich arbeiten die extremen Rechten längst mit der politischen Linken (die nur weiter verwest) und den Gewerkschaften zusammen. Frankreich, das Land der Verschwörungen: Das Ich ist nicht das, was bei uns in der Krise ist, sondern die Form, die man uns aufzudrücken versucht. Das sagen welche, die das »Ich« als Rückzugsraum für ihren revolutionären Aufstand erheben und entsprechend pflegen. Die gelegentliche aufblitzende Komik im Buch ist eher rustikaler Natur, etwa wenn der Ausdruck »brandneu« in Bezug auf neue Einkaufszentren die ganze Bestimmung beinhalten soll. In Deutschland weiß man, wie die Karrieren von Kaufhausbrandstiftern weitergingen.

Reflexionen aus dem modernen Anarchismus werden entweder ignoriert oder bis zur Unkenntlichkeit radikalisiert. Zunächst lehnt man jegliche Form von Herrschaft (»Macht über« nennt dies Gordon) ab. Durch rhizomartige Strukturen von voneinander unabhängigen Einzelkommunen erscheint eine Koordination unter den diversen Gruppen (»Macht mit«) tatsächlich zunächst entbehrlich. Man kann auch zu dem Schluss kommen, dass das Komitee fürchtet, dass die problematischen Formen von Macht, die sich im Kapitalismus zeigen, in anarchistischen Strukturen nicht so »abwegig« sind, wie man dies leicht selbst-idealisierend annimmt und vertagt daher das Thema. Aber die wilden, unkoordinierten »direkten Aktionen« (Gordon), erheblich weitergehend als bloßer ziviler Ungehorsam, gehören irgendwann miteinander verknüpft. Selbst »Welt-Anti-Systeme«, die das Leben in kleinen, autarken stammesähnlichen Strukturen vorsehen, implementieren irgendwann einen übergreifenden, »universell gültigen Gesellschaftsvertrag«.

Ergebnisoffenheit
Ein anderer wichtiger Punkt der neueren anarchistischen Theorien wird (unbeabsichtigt?) übernommen: »Die Erwartung eines revolutionären Abschlusses eines Kampfes« ist, so Gordon, nicht mehr implizit im anarchistischen Handeln vorgesehen. Er verwendet für dieses Verfahren den Begriff der «Ergebnisoffenheit«: Man interessiert sich ausdrücklich »nicht für utopische Entwürfe einer 'postrevolutionären' anarchistischen Gesellschaft«. Aufstand oder Revolution existieren aus sich heraus bereits; sie genügen in ihrer Ausbildung als kontinuierlicher Prozess (dem »Kampf«) als Entwurf einer neuen Gesellschaftsordnung. Außer einigen phrasenhaften Formulierungen fehlen in der Komitee-Schrift ebenfalls detaillierte Perspektiven wofür man eintritt noch wird eine systematische Methodik entwickelt. Einiges schwingt jedoch zwischen den Zeilen mit. So wird physische Gewalt auch gegen anwesende Personen nicht ausgeschlossen. Es gibt keinen friedlichen Aufstand. Gordons moderner Definitionsversuch von Gewalt (»Ein Akt ist als Gewalt zu bezeichnen, wenn ihn derjenige, gegen den er sich richtet, als Angriff oder absichtliche Gefährdung erlebt«) wird untergraben. Stattdessen werden Polizisten und andere Staatsrepräsentanten entpersonalisiert (Fick die Polizei). Das weckt Parallelen zu einschlägigen linksterroristischen Pamphleten der 70er Jahre (bspw. der »RAF«). Bei Al-Qaida sind schließlich pauschal alle westlich orientierten Personen »schuldig«, unabhängig von ihrer Funktion. Waffen werden vom Komitee goutiert. Aber man soll alles tun, um ihren Gebrauch überflüssig zu machen und tunlichst nicht einsetzen. Die Ausführungen dieses a priori Pazifismus sind interessant und erinnern an die Abschreckungsszenarien während des Kalten Krieges. Die Armee (vulgo: staatliche Gewalt) ist politisch zu besiegen, aber gegen die regelmäßige Rückkehr des Molotow-Cocktails bestehen dann doch keine Vorbehalte.

Die Botschaft ist eine permanente Destruktion bis hin zur Ent-Zivilisierung der bestehenden Gesellschaft. Ist diese Form eines pragmatischen Schweigens zur Zukunft nicht letztlich Ausweis einer frappierenden Visionslosigkeit oder nur ein »Fehlen aller Überzeugungen«, welches Enzensberger schon 1994 beim westlichen Bürgerkrieger feststellte? Jedenfalls versucht der moderne Anarchist mit dem offensiven Verzicht jeglicher politischer Entwürfe aus der Not eine Tugend zu machen, während das Komitee gegen Ende nur die Vokabel Kommunismus in den Ring werfen wird.

Der Zweck heiligt nicht die Mittel
Im neuzeitlichen Anarchismus ist es in den letzten Jahrzehnten zu einer wichtigen und bedeutsamen theoretischen Erkenntnis gekommen: Der revolutionäre Prozess ist nicht mehr von seinem angestrebten Ergebnis zu entkoppeln. Der Zweck heiligt nicht mehr die Mittel. Bewegungen, die mit autoritären Strukturen von oben nach unten ihre Ziele verfolgen (und sei es auch nur der unendliche Prozess des Aufstands oder der Revolution), werden selbst in autoritären Strukturen münden. »Sobald man sich ganz darauf konzentriert, lediglich die Macht im Staate zu erobern und deshalb an autoritären Organisationsstrukturen festhält, während man den Aufbau einer freien Gesellschaft auf 'nach der Revolution' vertagt, ist der Kampf schon verloren«, so Gordon. Ein »Macht kaputt, was Euch kaputt macht« führt letztlich zu einer Pervertierung dessen, was man anstrebt: Eine Herrschaft wird nur durch eine andere ausgetauscht. Hiervon in der Komitee-Schrift kein Wort.

So wird der Verzicht eines neuen Weltbildes – in Anbetracht der großen drei gescheiterten Ideologien des 20. Jahrhunderts (Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus) ein vermutlich absichtsvolles Unterfangen – der »Flugschrift« zum Verhängnis, weil sie ihre Werte und Ziele nicht systematisch ausformuliert, sondern sehr allgemein Sabotageakte, wilde und gewalttätige Demonstrationen und das Abfackeln von Straßenzügen befürwortet. Es ist Krieg; man ist aus der klassischen Politik desertiert. Tatsächlich sind die Verfallserscheinungen demokratischer Gesellschaften durch eine zunehmend autistisch agierende politische und ökonomische Klasse deutlich zu spüren. Aber solange keine halbwegs massenkompatible Alternative entwickelt wird, dürfte der krude Radikalismus des Komitees für die breite Bevölkerung nicht attraktiv genug sein.

Kropotkins Urenkel sind da längst weiter. Gordon fasst das griffig zusammen: »Ein Aufstand der Massen mag…unter bestimmten Umständen immer noch Erfolg versprechend sein, doch ist er auf eine sehr tragfähige Basis in der Bevölkerung angewiesen« und befürwortet einen höchstens sparsamen Umgang mit gewalttätigen Aktionen. Ansonsten besteht die Gefahr einer elitären, ja terroristischen Aufstands-Kamarilla. Abermals ist das Komitee der Entwicklung weit zurückgeblieben.

»Der autistische Charakter der Täter und…ihre Unfähigkeit, zwischen Zerstörung und Selbstzerstörung zu unterscheiden« machte Enzensberger als Merkmal der molekularen Bürgerkrieger fest. Hierin könnte ihre Gefährlichkeit liegen, die weit über eine Sorge um ein neu zu ordnendes Gemeinwesen hinausreicht. Am Ende erfährt man zwar, dass der Kommunismus das Ziel ist und dass man weiß, dass dies ein Begriff ist, den man mit Vorsicht gebrauchen muss. Aber man definiert ihn nicht. Die Parallelen zum jakobinisch-terroristischen Pol Pot-Regime Kambodschas der 1970er Jahre sind evident. Die Roten Khmer deportierten die Einwohner der Hauptstadt Phnom Penh, zwangen die städtische Bevölkerung zur landwirtschaftlichen Zwangsarbeit, planten einen ruralen, autarken Bauernstaat, schafften das Geld ab und brachten missliebige oder für missliebig gehaltene Personen um. Zwar fehlten der Roten Khmer jedoch der typische kommunistisch-ideologische Überbau: Glaube an die Geschichte als Fortschritt, Technikaffinität, Planwirtschaftsdenken (so Boris Barth). Stattdessen hatte Pol Pot als Student in Frankreich wohl ausgiebig Rousseau gelesen.

Auch Vergleiche mit der Komitee-Schrift zu Maos »Kleinem rotem Buch« (»Die Wurzeln der extremen Demokratisierung [sind] in der kleinbürgerlichen individualistischen Undiszipliniertheit zu suchen«) stellen sich ein. Die Helden des Komitees sind die Praktiker der Pariser Kommune von 1871 und die griechische Erhebung von 2008. Sie sind die Vorbilder. Immerhin ist die Perspektive einer Stadtguerilla irakischer Art mehr zu fürchten als zu wünschen, aber nur weil sie sich ohne Möglichkeit zur Offensive festfahren würde. Eine Prise Clausewitz.

»Der kommende Aufstand« bietet in zwangsoriginell-angestrengten Sätzen einen eklektizistischen Cocktail aus obskurem »Anarcho-Primitivismus«, grobschlächtigem Kommunismus und Pol Pot an. Sozusagen »Komm-Pot«. Und das ist nicht lustig. (Gregor Keuschnig)

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem Buch «Der kommende Aufstand« des »Unsichtbaren Komitees«.

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Unsichtbares Komitee
Der kommende Aufstand
Original: L’insurrection qui vient,
La fabrique éditions
Aus dem Französischen übersetzt von Elmar Schmeda
Edition Nautilus
Deutsche Erstausgabe
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€ (D) 9,90, € (A) 10,20 / sFr 17,50
ISBN 978-3-89401-732-3


Die Grenze des Nützlichen
»Jeder Mensch wird eines Tages einstehen müssen, dass nützliche Verhaltensweisen an sich überhaupt keinen Wert haben, dass einzig und allein das gloriose Verhalten dem Leben Licht verleiht, um die eigenen Umtriebe zu enfalten.«

Georges Bataille
Die Aufhebung der Ökonomie
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Matthes & Seitz Berlin
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ISBN 978-3-88221-225-9, € 29,00

Die Hölle sind immer die Anderen
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Matthes & Seitz Berlin
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Trotzdem - Pourtant
Während Jean-Paul Sartre eine gesellschaftliche Revolte, die im historischen Ziel des Kommunismus gipfeln sollte, präferierte, war für Camus die Revolte ein permanenter Prozeß, der nie zu einem letzlichen Ziel würde führen können. Im ewigen wieder & wieder Aufstehen bleibt dem absurden Menschen nur sein höhnisches »Trotzdem« als Schlachtruf.

Albert Camus - Der Mensch in der Revolte
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978-3-499-22193-4

Ein Buch wie eine Waffe
Kein anderer deutscher Autor hat seinen Zorn über die kaputten Verhältnisse in den Großstädten der frühen 70er Jahre so radikal artikuliert und damit ästhetisch wie inhaltlich einen zentralen Nerv seiner Zeit getroffen, wie R. D. Brinkmann. Man müßte »Rom, Blicke« und seine »Erkundungen« ins Französische übersetzten und den kids in den banlieues dort schenken, damit sie sehen, daß ihr Zorn eine Geschichte hat, die über ihren Horizont hinausreicht. HD

Rolf Dieter Brinkmann
Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand:
Träume. Aufstände. Gewalt. Morde
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Taschenbuch, 416 S., 19,00 €
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