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Glanz
&Elend
Literatur und Zeitkritik

 



Vom Heimischwerden im Spazierengehen

Esther Kinskys
erzählt von ihren Wanderungen »Am Fluß«

Von Lothar Struck




 

Vordergründig erzählt Ester Kinsky in "Am Fluß" rund neun Monate, die eine Ich-Erzählerin am River Lea, nordöstlich von London, verbringt. Es ist eine bizarre, streckenweise verwilderte Landschaft, verfallende Gewerbegebiete, leere Fabriken, Gebäuderuinen und bröckelnde Wohnhäuser. Die Menschen, die dort leben, sind Versprengte und kommen aus nahezu aller Welt: chassidische Juden (deren Kinder sind "blaß und fremdenscheu"), Hutmacher, eine Perückenmacherin, Markthändler und Gastwirte, kurdische Taxifahrer, Waschfrauen, Araber, Russen, Ukrainer, Asiaten, ein Kroate mit einem Trödelladen, Lumpensammler, mit einem dreibeinigen Hund als "Zunfttier". Sie sieht "Restehungrige" vor einem Fischladen, vernimmt das Sprachengewirr in einem Lebensmittelladen mit osteuropäischen Spezialitäten und hört erzählenden Männern im Bus im ostlondoner Dialekt zu, "in dem Silben und Konsonanten auf ewig zum Schweigen gebracht von den Worten abbrachen". Man lebt mehr neben- als miteinander; zu Konflikten kommt es nicht. Immerhin scheinen alle die Feiertage der anderen zu begehen. Zu Beginn wird von einem "König" aus einem fernen Land erzählt, der bei meditativen Übungen beobachtet wird. Dennoch sind die Personen in diesem Buch fast immer nur Kulisse für die Landschaft. "Am Fluß" ist auch (vor allem?) eine Ortserzählung; eine Art Niemandsbucht an der Londoner Peripherie oder, wie es einmal heißt, ein "Zwischenland".

Die Erzählerin zieht zu Beginn in eine Wohnung "nicht weit von Abney Park Cemetery. Ihre Einrichtung bestückt sie aus dem Laden des Kroaten. Und sie erschließt sich das Land: "Die Tage folgten immer der gleichen Richtung: Flußabwärts und zurück. Ich brachte Bilder mit und kleine Fundstücke in Gestalt von Federn, Steinen, Samenhülsen, verwelkten Blumen. Die Wohnung füllte sich nach und nach mit der Flußlandschaft… […] Der Fluß selbst wäre womöglich erstaunt gewesen." Bekannt- oder gar Freundschaften plätschern nur an der Oberfläche; die Leute kommen und gehen. Mit einer alten, fast defekten Polaroid-Kamera fotografiert sie die Landschaft; die Bilder stellt sie in die Wohnung. Im Buch sind einige davon abgedruckt, was eine dichte und authentische Atmosphäre erzeugt.        

Die Spaziergänge durch dieses "Land, das sich der Nützlichkeit verweigerte", verlaufen "langsam und planlos", aber mit allen Sinnen und Aufmerksamkeiten. Ausgiebig werden Windvarianten, Lichtkonstellationen, Felsformen, Ziegelfarben (das Cover!) und Verwahrlosungsgrade von Gebäuden erzählt. Die Erzählerin "erlernte" "die Gerüche der Stadt" und "besuchte Märkte", die sie zu "Randzonen" erklärt. So genau ihre Wahrnehmungen sind, so ausufernd mäandernd ihre kunstvollen Sätze.   

Wer kann sollte das Buch im Rhythmus der Jahreszeiten, von August bis April, lesen. Obwohl die Eindrücke von den Spaziergängen den Kern des Buches bilden, bleibt es nicht dabei: "Ich schaute und horchte und suchte Erinnerungen". Diese Erinnerungen sind eingeflochten, sei es in separaten Kapiteln oder auch gelegentlich ruckhaft als Assoziation. Sie beginnen mit einer wunderbaren Erzählung vom Rhein, dem Fluß ihrer Kindheit. Später erfährt der Leser von einem Urlaub an der Themse und einem Besuch der Heranwachsenden bei einer Tante in Kanada. Dennoch bleibt die Erzählerin als Person unnahbar. Man erfährt etwas über ihren Vater. Und sie ist gelegentlich als Übersetzerin tätig; eine Anstellung bei der BBC wird allerdings eher orwellhaft erzählt.

Ihre Erinnerungen beziehen sich auf Reisen nach Kanada, Israel, Indien, Jugoslawien, Ungarn und Polen. Auch diese Stationen sind fast immer Un-Orte, die man normalerweise versuchen würden, hinter sich zu lassen. Esther Kinsky schaut nicht nur hin, sie zelebriert das sich ihr Zeigende.

Bis auf die Kanada-Reise bleiben die Motivationen für die Reisen weitgehend im Dunklen. Größere und kleinere Lebenskrisen deuten sich an. Immer spielt Wasser, ein Fluß, eine zentrale Rolle. Die Reiseerinnerungen bleiben hinter den London-Betrachtungen zurück; zu deutlich ist ihnen anzumerken, etwas erzählen zu wollen. Irgendwann beginnen diese Reminiszenzen fast zu stören, weil sie den Wahrnehmungsfluß des River-Lea-Panoramas unterbrechen. Es ist ein seltsamer Sog, der von dieser weiten und gleichzeitig klaustrophobischen Landschaft ausgeht, in die die Erzählerin zunehmend eintaucht und mit der sie am Ende fast zu verschmelzen scheint. Stets wird dabei auch das Abseitige, Schäbige, Ekelige entdeckt und gewürdigt: "Ich unterquerte die Hochbahn fast täglich, kannte das widerhallende Rattern der Züge über dem Tunnel, das von den Backsteingewölben zurückgeworfene Echo der Polizeisirenen, den Dunst der Pinkelstellen der Obdachlosen, die um die zugige Halle vor dem Fahrkartenschalter auf der Straßenebene lungerten, und den beißenden Geruch des Taubenkots in den weniger befahrenen Unterführungen, die Schwingungen, in die die stets gurrenden Taubenkehlen alles ringsum versetzten, das leise sirrende Sausens des Schleiers aus unablässig herabrieselnden besudelten Taubenfedern."

Kinsky ist topographisch äußerst präzise: Man kann den Wanderungen (ihren Wanderungen?) mit Google Earth nachspüren; selbst die Verirrungen der Erzählerin: Springfield Park ("zwischen Marschland und Erlenbruch"), Walthamstow Marshes ("Eisenbahndämme, Dornengestrüpp, und Sumpfland"), Hackney Marsh ("aus dem wie rätselhafte Gestelle Fußballtore und in der Ferne die Strommasten ragten"), Hackney Wick ("ein liegengebliebenes, von den Zeiten und Läuften hin- und hergeschubstes, zerfleddertes Gelände mit seinen eigenen Regeln der Leere und Verwilderung"), sogar die Kneipe Rosemary Branch kann man sich anschauen ("Man ging zur Theke und bestellte ein noch nie gekostetes Getränk, das immer anders schmeckte, als man sich vorgestellt hatte"). So ist es möglich, die Erzählerin zu begleiten und doch wird man enttäuscht sein, weil die Sprachmacht Kinskys stärker ist als die Fotografien im Netz dies ausdrücken können. Dabei liegt die Ernüchterung nicht darin, dass es sich um im landläufigen Sinn hässliche Orte handelt, sondern dahingehend, dass die Hässlichkeit auf den Bildern nicht sichtbar ist, während sie im Erzählen präsent und, das ist der Kern des Buches, gleichzeitig verwandelt wird.

Das Heimischwerden im Spazierengehen wird sprachgewaltig und doch still inszeniert, gelegentliche Manierismen inklusive. Der Leser wird gefordert und muss sich schon bemühen um verwundert, und, das ist eine glückliche Folge dieses Buches, für Augenblicke selber verwandelt zu werden. Schließlich bedauert man die (naturgemäß nicht begründete) Abreise einer Protagonistin, die irgendwie doch eine "Bekannte" geworden ist - eine unbekannte Bekanntschaft. "Am Fluß" ist hermetisch und gleichzeitig luftig, wunderbar oszillierend zwischen Idyll und Trostlosigkeit. Ein beeindruckender und hinreißender Roman, kurz: großartige Literatur. 

Artikel online seit 15.12.14
 

Esther Kinsky
Am Fluß
387 Seiten, gebunden
Matthes&Seitz Berlin
11 Abbildungen
978-3-95757-056-7
22,90 € / 31,80 CHF

 


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