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Pragmatische
Vision Die Feindschaft zum Staat als Repressionsinstanz, "Atomstaat", "Bullenstaat", als paternalistischer Akteur, Hüter fauler Kompromisse, verstellte den grünen Blick darauf, was (mit einem) geschehen würde, wenn man selbst zu dem gehörte. Der zivile Mut wollte immer über den Staat hinaus, zielte auf die Idee eines Gemeinwesens ohne Staat. Als dann rot-grün 1998 an die Regierung kam, waren die liberalen Vorstellungen von Gemeinwohl nicht mehr gegen, sondern mit dem Staat durchzusetzen. Auf diesen Schritt waren die progressiven Kräfte schlecht vorbereitet und sind es bis heute. Hart geht Robert Habeck, 41, Fraktionsvorsitzender der Grünen im schleswig-holsteinischen Landtag, mit der Linken im Allgemeinen und seiner Partei im Besonderen ins Gericht (womit die politische Richtung und nicht dezidiert die Partei "Die Linke" gemeint ist). Nach rot-grün, so Habecks These, habe das Land in einer Großen Koalition, die ihre Chancen leider (!) sträflich verpasst habe, vier Jahre verloren. Schwarz-gelb ist keinen Deut besser; die Lethargie spürbar, wobei er wohl richtig liegt, dass es diese Koalition für längere Zeit zum letzten Mal gegeben haben dürfte. Aber der dichotomische Lagerwahlkampf "rechts" gegen "links" bringt uns nicht mehr weiter. Die Welt ist komplexer geworden; Mechanismen, die in der Vergangenheit ihre Berechtigung hatten, greifen nicht mehr. Habeck begnügt sich nicht mit der Aufzählung der Fehler der anderen. Er wendet den Blick auf die rot-grünen Regierungsjahre, um aus diesen Fehlern zu lernen. Er war jemand, der sich einen gesellschaftlichen Aufbruch versprochen hatte; ein "Projekt". Elan und Enthusiasmus waren groß. Und verpufften so schnell. Früh stellte sich der Blues ein. Es gibt Gründe, die zu dieser Dialektik aus Versprechen und Enttäuschung geführt haben. Aber letztlich geht es um Aufbruch und nicht Rückblick. Dieser Aufbruch soll keine Fortführung einer Politik des kleineren Übel[s] werden. Ernüchternd aber korrekt die Feststellung, dass es keinen Fall in der jüngeren Geschichte gegeben hat, aus der die Linke als Siegerin hervorging. Robert Habeck propagiert nicht mehr und nicht weniger als eine Neuorientierung der politischen Linken, zu der er wie selbstverständlich die Grünen zählt.
Der "Geschmack des Abgestandenen"
Gemeinwohl und Fan Selbstredend, dass es nicht um eine Wiederbelebung nationalistischer Umtriebe geht. Patriotismus als Vaterlandsliebe lehnt Habeck ab. Ich wusste mit Deutschland nichts anzufangen und weiß es bis heute nicht heißt es arg nassforsch. Den Nationalstaat hält er für überholt. Auch einen Regionalpatriotismus (und sei es als eine Art "Überbrückung" zum Nationalstaat und sozusagen vorgeschaltet zu supranationalen EU) lehnt er als politisch rückständig schroff ab; allerdings nicht ohne zu gestehen, im Alltag gelegentlich selbst in diese Kategorie zu verfallen. Dennoch sieht er nicht mit linker Verachtung auf die patriotischen Wellen 1989/90 und anlässlich der Fußball-WM 2006 herab. Aus den Erfahrungen mit den beiden so unterschiedlichen Ereignissen versucht er, den Begriff des Patriotismus vom nationalstaatlichen Mief zu entkoppeln. Statt als Angehöriger eines Volkes solle man sich als Fan fühlen; ein nettes Gedankenspiel. Freimütig bekennt er:
War es noch in den
rot-grünen Jahren schick, sich in die patriotische Gleichgültigkeit
zurückzuziehen, ziehe ich jetzt einen anderen Schluss. Ja, ich bin der Meinung,
dass es genau jenes unaufgeklärte Verhältnis zum Gemeinwohl war, das das
rot-grüne Projekt so schnell müde und nach Verrat hat aussehen lassen. […] Wenn
wir nicht auch das nächste Jahrzehnt zu Nulljahren machen wollen, dann muss die
gesellschaftliche Debatte nun raus aus ihren Löchern. Dass Deutschlands
Geschichte über weite Strecken eine der Barbarei war, heißt nicht, dass man sich
darum nicht zu scheren braucht, dass Zivilcourage und Einsatz nichts nützen.
Erstens würde man damit das Land nur erneut den Barbaren ausliefern, zweitens
würde man eine völkische Denkweise übernehmen, nämlich dass es so etwas wie den
Geist einer Nation gibt. Intellektuelle Redlichkeit zwingt zum Bemühen um einen
linken Patriotismus. Die ganze trotzige Haltung des Protests und der
Konfrontation ist heute eher ein Hindernis zu echtem Engagement. Ausdrücklich bekennt sich Habeck zum Kapitalismus und für das Ziel einer neuen, moralische[n] Art des Wachstums. Beides sei politisch und ökologisch auszugestalten. So wird von einem lokalpolitischen Projekt mit dem CDU-Ministerpräsidenten berichtet, in dem er mit diesem und im Konsens mit Bürgerinitiativen und Investoren ökologische Standards und ökonomischen Nutzen zusammengeführt habe, ohne "faule Kompromisse" eingegangen zu sein. Antikapitalismus sei dumm. Demokratie funktioniere ohne Markt nicht (umgekehrt – siehe China – übrigens durchaus). Die Wirtschaft brauche Effizienz und Wettbewerb. Für Herstellung von Solidarität sei allerdings die Politik verantwortlich, nicht die Wirtschaft, die originär andere Ziele verfolge. Habeck zeigt anschaulich, wie die ideologische Pervertierung des Begriffs der "Freiheit" durch marktliberale Kräfte seit Anfang der Achtziger Jahre (für ihn ist das sogenannte "Lambsdorff-Papier" der Auslöser gewesen) voranschritt (leider verwendet er den inkorrekten Begriff "neoliberal" hierfür mehrfach). Die Alternative schlanker vs. schwacher Staat hält er für falsch und führt dies beispielhaft für eine reduktionistische, auf Slogans fixierte, affektgesteuerte Politik auf (wobei er abermals die eigene Partei nicht schont). Sein Unwort des Jahrzehnts lautet alternativlos. Ausdrücklich muss immer jede Entscheidung für sich gesehen werden. Mal kann es sinnvoll sein, dass sich der Staat zurückzieht, mal ist es unumgänglich, dass er strenge Vorgaben macht oder gar das Ruder übernimmt. Sehr interessant, wie er die falsche, linke Industriepolitik der letzten Jahrzehnte kritisiert, die mit ihren Hilfen für Kohletagebau [und] Autoindustrie entgegen aller Beteuerungen letztlich Konzernpolitik war. Dazu hätte man gerne mehr gelesen, zumal Habeck ausdrücklich für einen sanften Paternalismus eintritt, der zwar die Erziehung des Menschen zum "richtigen" Verhalten ablehnt, aber sehr gezielt in entscheidenden Situationen Anreize setzen möchte.
Ungenauigkeiten im Mittelteil Und wenn Habeck für ein gerechteres Steuersystem mit verlangsamter Progression eintritt, welches den "Mittelstandsbauch" beseitigen soll, kommt vollends Konfusion auf. Wenn er einerseits moniert, dass man (ohne Kinder) bereits mit einem Jahreseinkommen von 50.000 Euro den Spitzensteuersatz bezahlt, dann bedarf es der Erläuterung, warum eine Seite später ein neues Steuersystem skizziert wird, welches etwa bei einem Einkommen von 3500 (sic!) die Grenze für einen besser/schlechter Schnitt sieht. Vermutlich ist in einem Fall das Bruttojahreseinkommen, im anderen Fall das Nettomonatseinkommen gemeint – aber das hätte man durchaus präziser erläutern müssen (eine der Situationen, die nach einem Lektor rufen lässt [eine andere ist, wenn DBI steht und BDI gemeint ist]). Allerlei weitere kleine Ungereimtheiten entdeckt der aufmerksame Leser. Das steigende Lohnniveau in Großbritannien zu preisen ist eine Sache – zu ergründen, woher dies kommt und welche sozialstaatliche Absicherung damit eigenfinanziert werden muss, eine andere. Die Ökonomisierung bzw. Monetarisierung der Gesellschaft wird durchaus beklagt, aber andererseits als "Kosten" für Kindererziehung das pauschale von-der-Leyen-Diktum zitiert (wie ein Einfamilienhaus - welche Lage darf denn das Haus haben).
Emphatisch tritt Habeck
für eine Gleichsetzung der Sozialsätze von Erwachsenen und Kindern ein
(eigentlich möchte er sogar mehr für Kinder). Hierfür nennt er sehr gute Gründe,
allerdings auch den, dass man den stärkeren modischen Interessen von Kindern
nach Markenprodukten Rechnung zu tragen habe. Damit ist er dann plötzlich
vom an anderer Stelle so heftig kritisierten Sozialromantizismus nicht weit
entfernt. Und wie seltsam von ihm plötzlich zu hören, der Staat sollte sich
gesellschaftspolitisch zur Idee von Individualität bekennen und
beispielsweise das Ehegattensplitting, die kostenlose Krankenmitversicherung
oder eben auch die Bedarfsgemeinschaften im Hartz IV-Bezug, abschaffen.
Jeder dieser Punkte kann zwar für sich durchaus gut begründet werden, aber ein
wenig konterkariert Habeck hier seinen Gemeinwohlappell, in dem er sowohl die
pekuniären wie die gesellschaftlichen Folgen von überindividualisierten
Entitäten gänzlich ausblendet.
Bildungsgeld als "bedingungsarmes Grundeinkommen" Auch wenn Details noch nicht bis ins Letzte ausformuliert sind, lässt sich der Leser hier gerne vom Enthusiasmus des Autors anstecken. Leider bleiben jedoch seine Ausführungen hinsichtlich der Reorganisation des Bildungswesens ein bisschen eindimensional: Abschaffung des Bundesbildungsministeriums und der Kultusministerkonferenz unter gleichzeitiger Stärkung der Autonomie der jeweiligen Bildungseinrichtung (Schule, Universität), der Wunsch einer Reform der Oberstufe und das Plädoyer für weniger Frontal- und mehr Teamunterricht (der Lehrer als Helfer) - das ist alles nicht mehr ganz neu und bedürfte detaillierterer Ausschmückung. Weiterhin wird die Möglichkeit skizziert, dass Schüler ihre Zensuren selber verwalten könnten. Wo Habeck in Anbetracht der vorliegenden Studien "Streber"-Schulen ausmacht (anhand des sogenannten Turboabiturs soll dies abgeleitet werden), bleibt diffus. Desweiteren werden die Ursachen für die Gleichgültigkeit gegenüber Bildung in breiten Bevölkerungsschichten ignoriert. Hier wäre man sehr interessiert, mehr über seine Anreize zu erfahren.
Solide und anregende Diskussionsgrundlage
Die
kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch. |
Robert Habeck
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