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Glanz
&Elend
Literatur und Zeitkritik

 



Ein Leben voller Ellbogen

Fatma Aydemirs Debütroman zeichnet das Leben einer jungen Türkin,
die eines immer sucht und niemals findet: Halt. Nicht in Deutschland, nicht in der Türkei.

Von Katharina Stuch

 

Hazal ist wütend. Wütend auf ihren Vater, der sie verprügelt und sich nicht für seine Familie interessiert. Wütend auf ihre Mutter, die in ihrem Leben kaum mehr macht als zuzusehen. Sei es, wenn ihr Mann ihre Tochter schlägt, oder bei den türkischen Serien, die jeden Nachmittag in der Zweizimmerwohnung in Berlin laufen. Wütend auf die Kartoffeln, die so viel mehr zu haben scheinen, so viel besser zurechtzukommen scheinen als sie. Von innen und außen spürt sie Ellbogen, die sie schubsen und pieksen, und sie darauf drängen, in eine bestimmte Richtung zu gehen. Trost und Zuflucht findet sie bei ihren Freundinnen, Elma, die Taffe oder Gül, die Tussi. An Hazals 18. Geburtstag will sie ausbrechen, endlich feiern gehen, wie all die anderen, frei sein und tanzen. Doch der Türsteher weist die drei Freundinnen ab. Alle drei sind frustriert aufgrund des ruinierten Abends, doch für Hazal ist das mehr als eine verpasste Gelegenheit zu feiern. Ein betrunkener Student birgt die perfekte Chance, ihre Wut auszulassen – am Ende ist er tot. Hazal flieht nach Istanbul, die Stadt, von der sie sich so viel erhofft, zu einem Mann, der sie „Baby“ nennt und den sie kaum kennt.

Die Struktur des Buches ist der Handlung angepasst in drei Lebensabschnitte unterteilt: Das Leben in Berlin, die Anfänge in Istanbul und … ja, und was? Der Abwendung von beidem? Einem Neubeginn?

„Diese Stimme hat gefehlt“ meint die Autorin Jana Hensel in ihrem Vorwort zum Buch. „Und sie [die Autorin Fatma Aydemir] schont auch ihre Leser nicht.“ Mit beidem hat Hensel Recht: Hazals Stimme ist die einer Generation, deren Eltern nie so ganz gingen und nie so ganz blieben. Migranten, die ihren Sommerurlaub in der Heimat ihrer Eltern verbrachten und in Deutschland lieber „unter sich“ blieben. Ihre Stimme ist gefangen zwischen Tradition und dem Wunsch nach Moderne, bis sie sich irgendwo zwischen Trotz und Resignation einpendelt. Diese Stimme ist von Anfang an nicht leicht zu ertragen und haut den Leser ein ums andere Mal um.

Die Thematik der Handlung, die Tabus, die angesprochen und gebrochen werden, für all das war es längst Zeit. Für das unausweichlich Traditionelle, das in vielen Migrantenfamilien noch gelebt wird, für die Wut und das Gefühl der Ausgrenzung, für die Darstellung der Auswirkungen des Erdogan-Regimes für alle Türken auch außerhalb der Türkei. Aber genau hier liegt das Problem: Es wird alles angesprochen. Und verhallt als Echo. Ebenso ist es mit den Figuren: Es gibt nicht wenige, doch kaum eine wird genauer dargestellt, sie tritt immer wieder auf und verschwindet klanglos wieder. Wie ein Bühnenbild, das immer wieder Verwendung findet, auch entscheidend für die Handlung ist, aber doch nicht so gewürdigt wird, wie es vielleicht nötig wäre. Vielleicht ist es gewollt – schließlich wird Hazal von ihrer Freundin vorgeworfen, dass sie sich sehr gerne nur um sich selbst dreht.

Fatma Aydemirs Erzählweise und ihre Sprache sind sehr dicht, offen, schnell – es passt hervorragend zu den Lokalitäten Berlin und Istanbul. Das Tempo versetzt den Leser mitten in die riesige Stadt Berlin, in die hektischen Gassen Istanbuls.

Es entsteht ein wahres Bedürfnis, die 271 Seiten in einem Zug durchzulesen. Hazals Geschichte zieht in den Bann, der Wunsch, sie zu durchschauen, wächst mit jeder Seite. Nicht etwa, weil sie einem sympathisch wäre, diese Hazal, die selbst so ungern verurteilt wird und doch eigentlich immer die ist, die am schnellsten urteilt. Sondern weil so vieles angeschnitten wird, zu dem man sich mehr wünscht, mehr Tiefe, mehr Gespräche, mehr Informationen. Und gerade, weil der Erzählstil so stimmig ist, bleibt man etwas ratlos zurück.

Artikel online seit 10.06.17

 

Fatma Aydemir
Ellbogen
Roman
Hanser Verlag
Fester Einband
272 Seiten
20,00 €
ISBN 978-3-446-25441-1
ePUB-Format
ISBN 978-3-446-25595-1

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