Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme


Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 







Literarische Expeditionen ins »Innere Afrika«

Die Eigenart des Ästhetischen von António Lobo Antunes:
ein Resümee anläßlich seines 75.Geburtstages

Von Wolfram Schütte

Natürlich war es 1998 »ungerecht«, dass der damals 76jährige José Saramago den Literaturnobelpreis bekommen hat - & nicht sein jüngerer Zeitgenosse, der 1942 geborene António Lobo Antunes. Gewiss doch: es sind zwei gleichrangig große portugiesische Autoren. Nach dem Nationaldichter Luis de Comoes im 16. Jahrhundert &  Fernando Pessoa, der sich zu Beginn des 20. Jahrhundert hinter diesem & drei anderen Pseudonymen verborgen hatte & postum »entdeckt« wurde, hat erst am Ende des 20.Jahrhunderts die portugiesische Literatur wieder mit den beiden Romanciers weltliterarischen Rang erreicht. Aber António Lobo Antunes ist der originellere von beiden; nein, mehr noch: er ist mit seinen bislang rund 30 (!) Romanen ein weltliterarischer Solitär.

Sein Oeuvre liegt so gut wie vollständig in der Übersetzung Maralde Meyer-Minnemanns seit 2000 im Luchterhand-Literaturverlag auf Deutsch vor. Welche sprachliche Meisterschaft & Sensibilität dazu notwendig war, begreift jeder, der auch nur einmal einen dieser umfangreichen Romane vor Augen hatte. Lobo Antunes' »deutscher Stimme« verdankt der portugiesische Autor ebenso viel wie wir deutschen Leser.

»Stimme« trifft im Besonderen auf die ästhetische Eigenart dieses Romancier & seiner lyrischen Epik zu. Denn eher bestehen Lobo Antunes' Romane aus Inneren Monologen, sind sie wispernde Selbstgespräche, fragmentierte Beichten oder imaginäre Protokolle, in denen sich seine Personen entblößen, als dass sie jemals jene erzählten »Beschwörungen des Imperfekts«(Thomas Mann) wären, die uns aus der Romanliteratur aller Zeiten (wie auch z.B. von Saramago) bekannt & geläufig sind. Bei Lobo Antunes hat es den (auktorialen)  oder wenigstens den »unsichtbaren« Flaubertschen Erzähler nie gegeben. Der Autor fungiert gewissermaßen nur als »Katalysator« eines Panoramas von Stimmen.

»Alle Erinnerung ist Gegenwart« hat unser Frühromantiker Novalis behauptet. Das trifft ebenso wie die Umkehrung »Alle Gegenwart ist Erinnerung« auf die kolloquial simulierten Beschwörungen zu, aus denen die Romane des im Lissaboner Vorort Benfica geborenen Autors montiert sind. Ohne einleitende »Ouvertüre« oder verbindende, gar erklärende »Zwischenspiele« einer Erzählung setzen die Stimmen seiner Figuren einfach ein (oft sind sie sogar namenlos). Deshalb gleichen seine Romane eher Bachschen Kantaten  (wie mir schien, als ich seinem Oeuvre zum erstenmal begegnete). Wir Leser werden unterschiedlichen Rede- oder Bewusstseinsströmen ausgesetzt (wie der Psychoanalytiker den unbewussten Äußerungen seiner Patienten). Wir müssen uns im Laufe der Lektüre-Zeit darin orientierend zurechtfinden, indem wir im assoziativen Prosa-Strudel der Memorierenden zu navigieren lernen. Lesend blicken wir gewissermaßen als Zuhörer in sie alle hinein.

In der psychischen Innenwelt dieser Einsamen, Verlassenen, Isolierten oder Sterbenden flottieren die Weberschiffchen von Erinnerungen, Ängsten, Illusionen & Spekulationen. Es ist die phantasmagorisch-halluzinatorische Vorstellungskraft des Autors, der die Kunst des Romans damit von Grund auf veränderte. Indem Lobo Antunes den Roman vom beruflichen Grunderlebnis seiner psychoanalytischen Tätigkeit in der Lissaboner Nervenklinik Miguel Bombarda  aus entwickelte, ging er ästhetisch weit über den einzigartigen Inneren Monolog eines Geisteskranken hinaus, mit dem William Faulkner 1929 »The Sound and the Fury« eröffnete.

Der Portugiese hat gesprächsweise erklärt, ihn interessiere weder die Intrige noch der »Plot« bei seinen Romanen – also gerade das, was sozusagen die Grundausstattung allen Erzählens ist, das die Leser mit Spannung, Realismus & überraschenden Wendungen der Geschichte oder der Charaktere bei der Stange hält. All das ist längst geschehen, bevor ein Lobo-Antunes-Roman beginnt: als Oratorium memorierender, einander sich überlagernder Stimmen. Das erlaubt ihm in der Literatur etwas zu erreichen, was genuin musikalisch ist: (thematische) Polyphonie, bzw. Gleich-Zeitigkeit, Deshalb wollte er nicht bloß gelesen werden, sondern dass man, in engster Kommunikation mit seinen Stimmen & deren assoziativem Rausch, das Buch erlebt. Deshalb ist auch adäquater in musikalischer als in literarischer Terminologie von der Eigenart seines Ästhetischen zu sprechen.

Schamloses Wildern in der eigenen & in fremden Biographien

Die Lobo-Antunes-Lektüre verlangt aber auch (wie die lyrische Poesie) eine nahezu kriminalistische Aufmerksamkeit für die minimalsten sprachlichen Feinheiten seiner Monologisten. Diese Prosa ist – so kolloquial & spontan sie erscheint – in jedem Moment gestaltet. Z.B. durch Wort-& Satzwiederholungen, die sich zu rhythmisierten Delirien der Erinnerung steigern; oder mit den Montagen übereinander geschobener Erlebnispartikel & Angstphobien oder ritornellhafter, wie ein Grundthema  durch alle Monologe wandernder metaphorische Zitate. Dieser musikalisch »komponierte« Redefluß wird skandiert von rätselhaften Geräuschen der Fauna & Flora, welche die memorierenden Figuren in paradoxen oder synästhetischen Metaphern beschworen – eine stilistische Politur, die im Laufe der Entwicklung seines Oeuvres fast ganz verschwunden ist.

»Ich betreibe keine Literatur«, hat António Lobo Antunes seinen ignoranten portugiesischen Kritikern entgegen gehalten, die seine frühen Romane aufgrund erkennbar autobiografischer Anleihen als persönliche Geständnisse missverstanden hatten, sondern: »Ich betreibe Mythologie«. Will sagen: scham- & rücksichtslos wildert die Phantasie dieses Autors & vor allem seine entfesselte Einbildungskraft in der eigenen & in fremden Biografien, in Gesellschaft, Geschichte & Orten Portugals.

Seine oft von ihm als traumatische Obsession beschriebene literarische Produktivität hatte sich im Laufe der Zeit weitgehend an die Stelle seines gelebten Lebens gesetzt & dieses quasi manisch ersetzt – ganz ähnlich der »Arbeitswut« Arno Schmidts, den der Portugiese einmal als eines seiner Vorbilder benannte.

So hat der dreiundsechzigjährige (!) Lobo Antunes alle jene Briefe publiziert, die er als neunundzwanzigjähriger Militär-Arzt (!) fast täglich aus Angola seiner ersten Frau geschrieben hatte. Der Titel – »Leben, auf Papier beschrieben« – könnte in seiner Mehrdeutigkeit sehr gut seine existenzielle Dialektik von Leben & Literatur andeuten. Ganz abgesehen davon, dass diese nachträgliche Literarisierung seiner persönlichsten Lebenszeit, bevor er 1979 (nach der »Nelkenrevolution«) gleichzeitig  mit 3 Büchern als Schriftsteller debütierte, gewissermaßen aller Welt annoncierte, dass er ein Literat schon war, bevor er sich als Romancier offenbarte.

Das dreifache Debüt rechnete stofflich-thematisch mit dem Kolonialkrieg, der klinischen Psychiatrie & der gescheiterten Ehe in leidenschaftlicher Offenheit ab: satirisch, grotesk-komisch, melancholisch & radikal. Hierbei wurden unverkennbar autobiografische Materialien des 37jährigen Autors literarisch verbrannt: während seines wiederholten »Einblicks in die Hölle« des katastrophalen portugiesischen Alltags jener Jahre, als das kleine Land am äußersten westlichen Rand Europas mit der Hilfe pazifistischer Militärs sich in einer unblutigen Revolution von seiner jahrzehntelangen Diktatur & seinem maroden Kolonialreich befreite & für einen historischen Moment in aller Munde war.                                                

Unvergessen & damit gegenwärtig sind in dem danach kontinuierlich entfalteten literarischen Oeuvre vielstimmiger, assoziativ verflochtener Memorabilien: die politisch-gesellschaftliche Vergangenheit & Gegenwart der vierzigjährigen Salazaristischen Diktatur, die grausame, nie aufgearbeitete Geschichte der PIDE (des Geheimdienstes), die paternalistische Dominanz & die sexistische Gewalt provinziellen Großgrundbesitzer, der machistische Rassismus der Kolonialisten, die klandestinen Putschversuche von reaktionären Militärs & das nachhaltig präsente Trauma des Kolonialkriegs.

Schreiben als Sinnstiftung des eigenen Überlebens

Doch alle angesprochenen, aufgerufenen Realien der portugiesischen Sozial- & Mentalitätsgeschichte des letzten Jahrhunderts – in deren Dunstkreis sich seine Helden & Heldinnen befinden – sind nur die Prolegomena für eine sowohl pessimistische als auch karnevalistische Weltsicht. Herzzerreißende Melodramen der vergeblichen Liebe wurden von ihr ebenso barmherzig umfasst wie apokalyptische Himmel- & Höllenfahrten des Grotesk-Phantastischen, die Lobo Antunes mit sarkastischem Humor inszenierte.

Da »das Schreiben« für ihn immer mehr das Leben ersetzte & seine literarische Kreativität primär, bzw. grundsätzlich zur Sinnstiftung seiner Existenz wurde, geriet Lobo Antunes in ein Dilemma, das auch dem deutschen »Solipsisten in der Lüneburger Heide« nicht fremd war: der Stoff der Realwelt wurde fadenscheinig & die einmal solitäre Darstellungstechnik serialisierte sich. (Der alte Henry James wusste schon, warum er in ganz Europa die Partys der Upperclass als Augen-& Ohrenzeug abgraste: auf  Futtersuche fürs Narrative). 

Während der deutsche »Wortmetz« Arno Schmidt den realen Erfahrungsverlust durch die semantischen Mythologeme seiner komödiantischen Wort-Wurzelbehandlungen wettzumachen versuchte, um im Stationären polyphonen Zugewinn zu generieren, entwickelte der portugiesische Stimmenimitator des »Inneren Afrika« (Freud) den literarischen Ehrgeiz, zum solipsistischen Vergnügen eine immer komplexere polyphone Wort-& Gedankenmusik seiner Figuren zu entfalten. (Wie bei manchen anderen Spätwerken, z.B. Bachs & Beethovens, dominiert das Raffinement & ästhetische Wagnis der Verarbeitung das thematische Material oder den Stoff.)

Das führte dazu, dass etwa ab 2000 die Figuren & ihre Kombination seiner Romane allegorisch werden & die assoziative Form der individuellen Beschwörungen zum darstellerischen Schematismus & zu thematischen Wiederholungen tendierten. (Merkwürdigerweise werden ihre imaginären autosuggestiven Monologe z.B. in »Ich gehe wie ein Haus in Flammen«, als »Niederschriften« ausgegeben, ohne es doch formal zu sein - eine unverständliche Volte zurück in kruden Realismus, aus dem doch die innere ästhetische Entwicklung seines Oeuvres herausgeführt hatte.)

Am 1. September wird António Lobo Antunes, dem die lesende Welt die Entdeckung & Kartographierung einer Neuen literarischen Welt verdankt, 75 Jahre alt.

Artikel online seit 31.08.17
 

António Lobo Antunes
Buch der Chroniken

Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann
Sammlung Luchterhand
Taschenbuch, Klappenbroschur
10,00 €
978-3-630-62086-2

Zweites Buch der Chroniken
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann
Sammlung Luchterhand
Taschenbuch, Klappenbroschur
10,00 €
978-3-630-62087-9

Drittes Buch der Chroniken
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann
Sammlung Luchterhand
Taschenbuch, Klappenbroschur
11,00 €
978-3-630-62167-8

António Lobo Antunes
Portugals strahlende Größe
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann
Roman
Sammlung Luchterhand
Taschenbuch, Broschur
12,00 €
978-3-442-73628-7

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Filme   Impressum - Mediadaten