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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 



Baum ohne Blätter: Blade Runner 2049

Zu Denis Villeneuves Filmfortsetzung von Philip K. Dicks Roman

von Peter V. Brinkemper

 

Wie feiert man ein filmisches Jubiläum? Nicht mit einem unoriginellen Remake. Höchstens mit selbstständigem Reboot, durchdachtem Sequel, kreativer Hommage. Kommentar oder Randnotiz gefällig? – Mit 35 Jahren Abstand und fast drei Stunden Länge ist Denis Villeneuves »Blade Runner 2049«, Oktober 2017, für die Möglichkeit einer bloßen Marginalie zu Ridley Scotts Klassiker »Blade Runner«, 1982, eindeutig zu einsam, zu prononciert und zu lang geraten.

Selbst das Lob für Scotts ersten Film, als Roman-Verfilmung und als »autonome« Kinoproduktion war und ist nicht unumstritten. Scotts Auteur-Status bei »Blade Runner« ist aus der Krise geboren. Verbunden mit dem Trauma repressiver Produzenten ergab sich eine Kette von verschiedenen Versionen zwischen Kinofassung, mit Harrison-Fords-gequältem-Voice-over, und endlosen Director’s Cuts, die in ihrer Langatmigkeit die temporeichere Fassung 1 verschlimmbesserten.

Der Kniefall der Kritiker und das Wohlgefallen der Macher des neuen, ähnlich langgezogenen Films wecken Misstrauen. Es geht um Kriterien und Maßstäbe des zeitgemäßen filmischen Erzählens. Auch um die Beurteilung des von Marvel dynamisch dominierten Marktes, dem Warners orthodoxes DC Universum trotz »Wonder Woman« (2017) schwerfällig hinterherwankt.

Wie steht es um das Verhältnis zwischen Scotts Erst- und Villeneuves Zweitwerk und dem prallen, ambivalenten, schizo-logischen Schelmen-Geist von Philip K. Dick? Sein Roman ist Vision und Pulp, der die Menschen zwischen Heute und Morgen bedrohlich verdinglicht und die künstlichen Apparaturen ironisch euphorisiert.

Dicks Schreibstil könnte mit Oszillation oder oszillierendem Schreiben charakterisiert werden. Dicks Menschen denken nicht »einfach« menschlich, sondern auch mechanisch; und Dicks Androiden reden nicht »nur« mechanisch, sondern sogar humanoid. Jede Figur, jeder Charakter, jede Situation oszilliert bei Dick vielschichtig, ausdrücklich oder unausgesprochen, im Modus der Überbietung selbst in unscheinbaren, alltäglichen Momenten, changierend zwischen mehreren Punkten und Perspektiven.

In Scotts »Blade Runner« schlägt an bestimmten Stellen die Oszillations-Nadel maximal aus, sie zittert hin und her. Charaktere, Szenen, Höhe- und Wendepunkte sind in unübertroffener Prägnanz und Dichte ambivalent dargestellt. Die Dramatik der Handlung, die Komposition der Bilder lässt die eindeutige Erklärung hinter sich. Der Film öffnet sich zum multiperspektivischen Text, parallel zu den besten Stellen des Romans.

Dagegen schlägt die Nadel bei Villeneuves Film nur selten und sehr schwach aus. Die Erzählung bleibt fassbar, eindeutig, auch dann, wenn sie an den Rändern ihrer Welt auf der Suche nach mehr Tiefe ist oder ihre Ambivalenz deutlich ausstellt.

»Blade Runner 2049« ist ein beeindruckendes und doch seltsam unvollständiges, matt leuchtendes Destillat, ein stummer hölzerner Baum ohne Blätter, ein Koffer mit nummerierten Knochen und Vielwisserei, ein prätentiöses Denkmal, ein Parsifal mit langen theatralischen Monologen, dürren epischen Verzweigungen und Rissen, die aus lauter minimalistischen Absichten und zaghaften Interpretationen zusammengesetzt sind, ohne dass diese in kraftvoller Weise wie im ersten Film mit dem Roman ebenbürtig konvergieren.

Denkmal und Oszillation

»Blade Runner 2049« fügt weder dem alten Film noch seiner legendären Vorlage, Philip K. Dicks Sci-Fi-Roman mit dem Originaltitel »Do Androids Dream of Electric Sheep?« (1968), eine signifikante Bedeutungsebene hinzu. Alles was noch zu sagen war, steckt im Roman, und Ridley Scotts Verfilmung funktioniert, heute immer noch, auch in der literarischen Dimension, ohne Dicks Kniffe völlig zu verraten. Scott übt sich bei aller kongenialen Drastik in der Kunst des Weglassens. Durch Konzentration auf eine dramatisch verdichtende Erzählung und filmische Überhöhung streift er den burlesken Pulp-Effekt der Story ab. Und doch unterläuft er zugleich die tiefere Cyberphilosophie des Romans.

Das mag forciert klingen. Derzeit verrichtet die Interpretationsindustrie um den späten Nachfolge-Film »2049« nur analytische Dienste, um in epischer Breite aus der früheren Liaison des Kopfgeldjägers Rick Deckard und der Tyrell-Konzern-Replikantin Rachael so viel verdünnten Content wie nur möglich für die 2.0-Nachfolge-Welt herauszuschälen. Der lebendige Bezug zum Roman und zu Dicks Poetik der paradoxen Konfrontation natürlicher und künstlicher Wesen wird dabei verschleiert. Doch die erneute Lektüre lohnt sich.

Immer die gleiche Frage: »Ist Deckard ein Replikant oder ein Mensch?« Die Romanfigur Rick Deckard sieht sich bei der Begegnung mit mutmaßlichen Androiden, einzelnen oder in ganzen Nestern, in Mimikry an die menschliche Umgebung, ständig mit der Unterstellung konfrontiert, sie selbst sei ein künstliches Wesen. Also ein Umkehrungs- und Abwehrargument für den bestehenden Eingriff. Soweit möglich geht für Deckard das ordentliche Verfahren so: erst die vorläufige Identifikation, dann der Test, dann die Liquidation. Nicht die Intelligenz, sondern die Empathie entscheidet über die wahre Identität, später sogar über Wert und Würde in einem tieferen Sinne. Dennoch hält sich Deckard an seinen Auftrag, im Ernstfall auf der Straße und im Ghetto zu töten und keine weiteren Fragen zu stellen. Natürlich ist Deckard ein Mensch, im Roman ein auf der verseuchten Erde zurückgelassener Eigenbrötler und Freiberufler, der der überlasteten terrestrischen Polizei widerwillig zuarbeitet, im Kampf gegen angeblich aggressiv-rebellisch gewordene Arbeitsroboter, menschenähnliche »Replikanten« (der in Scotts Vorspann eingeführte Begriff), die illegal und gewaltsam aus den Kolonien im All, dem Mars, ohne ihre menschlichen »Herren« auf die Erde zurückkehren. Deckard ist im Roman verheiratet mit der chronisch depressiven Iran und ein unzufriedener Besitzer eines billigen elektrischen Schafes auf dem Dach der baufälligen Wohneinheit. Er träumt von intakter Natur, prachtvollen Eulen und anderen wilden Geschöpfen. Bis er bei seinem neuen Auftrag Rachael kennenlernt. Zusammen mit ihrer paarungsreifen Eule Scrappy. Wie können Rick und Rachael sich als Mensch und Replikantin ineinander verlieben? Liegt es an den friedlichen und luxuriösen Umständen ihrer Begegnung? War dies der Wille Eldon Tyrells, der Triumph oder der Ruin der Tyrell-Corporation? Oder die in Deckard schlummernde Empathiefähigkeit, die durch Rachaels fremdartigen Charme und ihre mechanisch-unbewusst implantierte Liebeskraft enorm gesteigert wird. Sie setzt sie (bei Dick) ein, um für eine Weile die Schonung der zu jagenden Replikanten  zu erwirken. »Blade Runner 2049« baut das Bild einer ordentlichen Beziehung zwischen dem ( nach dem alten Voice-over geschiedenen) Rick und Rachael aus »Blade Runner« weiter aus, jenseits der kurzen intensiven Affäre des konstant in der Rolle Ehemann und Roboterjäger verbleibenden Rick im Roman: Sind aus der Verbindung von Rick und einer empfängnistechnologisch hochgerüsteten Rachael natürliche oder künstliche oder gemischte Nachkommen entstanden? Starb Rachael bei der Geburt? Wenn es Nachkommen gibt, welche Bedeutung hat dies dann für Konzerne, Menschheit und Androiden nach der Ära Tyrell?

Die Narration des neuen Films erinnert an eine ordentlich ausbuchstabierte TV-Welt, der das Movens fehlt: die dynamische Dramaturgie und der für Philip K. Dick typische transformative Wahn, die Aleatorik, die wundersame Fusion von verdrehter Jetztzeit seit den 1960er Jahren und ihren alternativ verrückten Pfaden, keineswegs in Form einer depressiven Dys- oder Utopie, vielmehr als gerissenes Spiel um die jederzeit hypothetisch präsentierbare Zukunft und ebenso leicht manipulierbare Vergangenheit. Vielleicht schwächelt der erste »Blade Runner«-Film ab dem Moment, in dem Deckard sich in Rachael verliebt, die im vollen Schafspelz-Ornat den Replikanten Leon erschießt und Rick das Leben rettet. Die Roman-Rachael ist zwar verhandlungsbereit gegenüber Rick und doch klassenbewusst im Namen der Androiden. 

Weder Dicks Roman noch die erste Verfilmung haben eine derart zurückhaltende Fortsetzung wie »Blade Runner 2049« nötig; »2049« ist ein Werk voller leerer Expositionen mit immer neuen, sogar überflüssigen Suchbewegungen. Bei aller Prätention kommt der neue Film auch visuell als glatter Aufguss daher, in einem Sortiment übersichtlich eingeteilter Gestalten, Bühnen und Szenen. Roger Deakins’ Kamera-Arbeit übernimmt seine musealen Schaukästen aus Sam Mendes’ Bondfilm »Skyfall« (2012). Sie muten auf Dauer langweilig an, weil sie Handlung, Raum und Figuren in übersichtliche Abteilungen einsperren, statt sie im dynamischen Übergang zu zeigen. Eine ähnliche Regieentscheidung treffen Scott und Kameramann Dariusz Wolski in »Alien: Covenant« (2017), bis zur Ermüdung, obwohl es um die Exkursion auf einen unbekannten Planeten und Stützpunkt der humanoiden Ingenieure gehen sollte. Deren Gigersches Urrelief versetzte die Zuschauer bei der Erstbegehung im havarierten Transporter von »Alien« in helle Aufregung.

In »Blade Runner« verfolgte Rick Deckard noch die zersplitternden Schaufenster, als er die als Replikantin entlarvte Schlangentänzerin  Zhora (Joanna Cassidy) wie in Zeitlupe unter Missbilligung ihres proletarischen Cyber-Lovers und Müllarbeiters Leon Kowalski (Brion James) zur Strecke brachte. Die Zeit der Schaukastenzertrümmerung ist vorbei, in der Filmfortsetzung laufen die Bühnen am Ende nur noch voll oder werfen Ballast ab.

Ridley Scotts früher Ruhm und sein Background im Underground

Scott hat dem Mainstream-Sci-Fi-Film in seiner Neo-Noir-Gestalt ein ikonisches und tiefenpsychologisches Relief verliehen. Seine Reputation war so etwas wie eine lebendige, hypnotisch blühende Pflanze und kein toter hölzerner Kinder-Baum, verbunden mit dem Humus einer heute fast vergessenen Gegenkultur, die in Hollywood den Boden für die Produktionen der späten 1970er und 1980er Jahre bereitete. Der junge Scott, erfolgreich mit »Alien« (1979), war in die Welt der Sci-Fi-Autoren, Drehbuchschreiber und B-Filmer gerutscht, die eben erst die kreative Lücke zwischen Kubricks puristischem »2001« und Carpenters schmutzig-alltäglichem »Dark Star« (1974) ausfüllten: so Dan O’Bannon (der junge bärtig-nerdige Sgt. Pinback in »Dark Star«) und Ronald Shusett, die beide das Genre vorbei an dem märchenhaften Tonfall von »Star Wars« (1977) neu aufzurollen begannen.

Scott focht mit dem ersten »Blade Runner«-Team und dem Schauspieler-Ensemble, noch zu Lebzeiten Dicks, der am 2. März 1982, knapp vor der Fertigstellung des von ihm argwöhnisch betrachteten Films verstarb, viele Konflikte aus, um der diffusen Gegenkultur Kontur zu verleihen. Kämpfe, die von der Ungeduld und zensierenden Macht uneinsichtiger Produzenten überschattet waren. Die Besetzung Rick Deckards mit Harrison Ford (nach seinen erfolgreichen Auftritten als Han Solo und Indiana Jones), erfolgte mit Bedacht und auf Empfehlung Spielbergs. Der immer auf Eigenständigkeit und kapitale Größe eines Mittelstandsunternehmens bedachte Scott (mit heutigen Budgets von maximal lieber 100 als 150 Mio. Dollar) sollte seine Marke als exakter und zuverlässiger Performer profilieren. Im Gegensatz zu der kommerziell bedingten Einmaligkeit von »Blade Runner« wurde aus dem Kinohit »Alien« ein Franchise mit vielen Produkten und Regisseuren auf unterschiedlichem Niveau, zusammengehalten in der Hauptlinie: Cameron, Fincher, Jeunet, außerhalb der Predatoren-Abzweigung, beherrscht von der Ripley-Darstellerin Sigourney Weaver. Ridley Scott verstand es, seine Rolle als Pionier und Science-Fiction Vordenker und als Dekonstrukteur der Antike und der monotheistischen Religion und Moral (»Hannibal«, »Gladiator«, »Exodus: Götter und Könige«) immer wieder ins Spiel zu bringen, auch durch eine Reihe von Director’s Cuts, die die Möglichkeiten von Überarbeitung, Feinschliff und Erweiterung bei »Alien« und »Blade Runner« ausreizten.

»Blade Runner« war 1982, wie derzeit auch sein Nachzügler »2049« (der nach 10 Tagen Vorstellung endlich sein Budget von 150 Mio. Dollar eingespielt hat), kein sofortiger Box Office Hit. Sondern ein Kult, eine genial komprimierte Romanadaption, noch im Kontakt mit dem legendären Autor. Eine auf dem Markt nicht erfolgreiche Großproduktion, eine schmerzliche Innovation, ein Geheimtipp, nicht von jedermann verstanden, ein einziger großer, in seiner epischen Tiefenstaffelung unverstandener Videoclip, in dem wie in einem Dampfkessel verschiedenste Talente aufeinander trafen, die in bis dahin nicht gekannter Wucht Dicks janusköpfige Bild- und Figurenwelten in einem noch heute erstaunlichen Kondensat zusammenschmolzen. Auch hier stieß Scott von außen hinzu. Zunächst erwarb Hampton Fancher mit Unterstützung befreundeter Produzenten die Filmrechte an Dicks Roman und verharrte lange in der Rolle des Autoren-Regie-Anwärters. Fancher schlug auch den Filmtitel in Anlehnung an einen gleichnamigen medizinisch-dystopischen Roman, 1974, von Alan E. Nourse vor. Sein erster Drehbuch-Entwurf wurde in Kooperation mit David Webb Peoples modifiziert, der Fanchers Vorstellungen der Studio-Produktion und der Regie von Scott anpasste. Fancher, Vertreter des alten Sci-Fi-Humus, ist auch an der erneuten Verarbeitung und Verwertung der älteren Filmwelt in »Blade Runner 2049« beteiligt, diesmal im Team mit Michael Green, der in den 1990ern im TV-Serien-Geschäft anfing und dann an Kino-Fortsetzungen arbeitete. Er ist Story-Co-Writer in der Episode »Alien: Covenant« (2017), mit der Scott seine neuste epische Alien-Prequel-Trilogie ab »Prometheus« (2012) eher glücklos weiterführte.

Die Wucht des alten Films

Gegenüber der synthetischen Wucht von Scotts »Blade Runner«, 1982, stilprägend für das Lebensgefühl der 1980er Jahre, fällt Villeneuves »Blade Runner 2049«, 2017, wie ein matter Abglanz aus. Im ersten Film ist Los Angeles 2019 ein brodelnder multikultureller Slang-Kessel, vollgepfropft mit Special Effects und effektiv ausgeleuchteter Bühne, kunstvollen Montagen zwischen Bewegung und Stillstand; rhythmischen Wechseln zwischen Detail, Porträt, Ensemble und Totale (Kamera: Jodan Cronenweth; visueller und auditiver Schnitt: Marsha Nakashima und Terry Rawlings), atmosphärischem Realismus und digi-expressiver Verzerrung (»Voight-Kampff-(Empathie)-Test« als unsicheres und im Film betont seelenloses Selektionsverfahren für die behavioristische Betrachtung der Reaktionen von Mensch und Replikant) mit simultanen Verschiebungen im urbanen, privaten und elektronischen Raum, Zuständen voller Selbstzweifel, Angst, Paranoia, Konkurrenz und Gewalt, spannungsvollen Momenten zwischen Konzern, Mensch und Maschine, als Ausdruck der Bedrohung der in den Megacities konzentrierten Bevölkerung und des propagandistisch entfachten Aufbruchs in die Kolonien auf anderen Planeten, einer invasiven Werbung, die an Wolkenkratzern und Luftschiffen in bewegten Riesenprojektionen den sauren Dauerregen über LA 2019 (im Roman die Anhöhen und die Bucht San Franciscos 1992) endzeitlich illuminiert. Dazwischen gleiten in Douglas Trumbulls visuell angereicherten Stadtmodellpanoramen Lufttaxis und Schwebegleiter in kubistischen Montagen durch alte Markenwelten und neue Reklameträume. Die Kolonisten verlassen laut Roman erst nach genauer Prüfung ihrer biologischen Eignung die Erde. Sie dürfen über aggressive und zunehmend überlegene Kampf-, Arbeits- und Lustroboter verfügen, humanoide Replikanten vom Typus Nexus-6. Diese sind im Film auf die Lauf- und Lebenszeit von nur 4 Jahren beschränkt, um ihre forcierten Lernprozesse und offensichtlichen Ticks und Eskapaden zu stoppen.
 Immer häufiger rebellieren viele von ihnen, auch angesichts ihres nahenden Endes, gegen die Verpflichtung auf blinden Gehorsam. Sie marodieren in Banden, so unter dem Anführer Roy Batty (Rutger Hauer) und seiner Freundin, dem weiblichen Lockvogel Pris (Daryl Hannah). Sie kapern Raumschiffe und rächen sich unerkannt auf der Erde an ihren Designern und Konstrukteuren. So dem früh alternden, kindlichen J. F. Sebastian (William Sanderson) und dem seines eigenen Erfolgs überdrüssigen Mogul und leicht missratenen Philanthropen  Eldon Tyrell, im Roman Eldon Rosen (Joe Turkel). Der erste »Blade Runner«-Film war eine audio-visuelle Gefühlsdroge aus berauschend inhumaner Mechanik, synthetischem Donnerhall und elektronisch-exotischen Yamaha-Sequencer-Glitter-Sing-Sang (Vangelis), renaissancehaftem Wahnsinn und Wiedergeburt des Humanen aus dem Geist unvorhersehbarer Liebe und wilder künstlicher Intelligenz. Im Mittelpunkt des Films steht die Beziehung zwischen Rick Deckard (Harrison Ford) und Rachael (Sean Young), einer Replikantin, vielleicht sogar des neusten, noch unbekannten Typus, einer lernbegierigen Zwischenstufe von Nexus-6 bis Nexus-7, der Tyrell in einem mutwilligen Experiment, ohne ihr Wissen, die emotional getönten Erinnerungen seiner Nichte in ein starkes künstliches Bewusstsein einbaute. An dieser Stelle ist es völlig gleichgültig, ob Deckard oder auch Rachael selbst Replikant oder Mensch sind (wobei für Ricks Menschsein die durch Film 1 und 2 beglaubigte Lebensdauer und der Alterungsprung sprechen), oder inwieweit Rachaels Bewusstsein nur eine Simulation durch ein Implantat darstellt. Für den Romantiker und Menschenfreund, aber auch für den kühlen Kalkulator zählen nur faktische Liebe und effektives neues Bewusstsein. Der Test bereitet den Weg in die Liebe, aber im Roman ist die Liebe auch nur ein vorübergehender, allerdings bewusstseinserweiternder Test für beide Partner. Dicks Charaktere sind durchweg vital-artifizielle Mixturen, auf welcher Seite sie auch stehen. Deckard testet Rachaels außergewöhnliche kognitive und emotionale Fähigkeiten, hinter denen noch mehr verborgen scheint. Sie wiederum testet ihn und die Grenzen des Testverfahrens aus, um das evolutionäre Niveau zu steigern. Die Tests nehmen keinen geraden Verlauf, die Ergebnisse sind zwiespältig. Zwischen den Zeilen geht es um Anerkennung und Selbstbewusstsein, Empathie oder Kälte bzw. Wettkampf zwischen Kontrolle und losgelassener Technik. Software und Hardware sind ineinander verkeilt. Dicks Roman nimmt den weichgespülten cyber-sensiblen Spin-Off des zweiten Films in ironischer Leichtigkeit vorweg. Folgende Passage wurde im ersten Film nicht verwendet, für »2049« wäre sie der große Spoiler.

"You become pregnant," Rick continued, "by a man who has promised to marry you. The man goes off with another woman, your best friend; you get an abortion and - "
"I would never get an abortion," Rachael said. "Anyhow you can't. It's a life sentence and the police are always watching." This time both needles swung violently into the red.
"How do you know that?" Rick asked her, curiously. "About the difficulty of obtaining an abortion?"
"Everybody knows that," Rachael answered.
"It sounded like you spoke from personal experience."'

Eine elektronische Dornröschen-Geschichte nimmt ihren Lauf über den ungewissen Ausgang der Überprüfung von Intelligenz und reflexhafter Emotionalität. Wer küsst wen wach? Im Film reißt der einsame Deckard irgendwann geradezu gewaltsam Rachael auf die menschliche Seite. Mitten in einer unmenschlichen Welt. Oder wird er von ihr nach dem versöhnlichen Ende der Schlacht mit Roy in die Replikantenwelt eingesogen? Beiden bleibt nur noch die Flucht. Im Roman entdeckt Rick durch die vom Konzern angestiftete Affäre seine tiefe Empathie, nicht nur für Mensch und Tier, sondern auch für Androiden. Er bleibt normaler Ehemann und Killer, aber er sieht die Dinge nun anders. So oder so kommt er in Konflikt mit dem Gesetz: Sein Auftrag ist es, rebellische Replikanten zu terminieren (»in den Ruhestand zu versetzen«), und nicht mit einem von ihnen zu kollaborieren.

Villeneuves Verdienst und Versäumnis

Die Regie von »Blade Runner 2049« übertrug der vielbeschäftigte Scott dem kanadischen Filmregisseur Denis Villeneuve. Eine gute Wahl angesichts seiner stilistisch variablen Filme: die friedliche Alien-Ankunft, die Panik der Mächtigen und die schlafwandlerische Sensibilität von Amy Adams als Linguistin in »Arrival« (2016); der unterirdische und alptraumartige Drogenkrieg der USA und Mexikos in »Sicario« (2015) und der Psychothriller in »The Prisoners« (2013). Villeneuve ist ein einfühlsamer und effektiver Inszenierer, der Psychologie und Landschaft, Geschichte, Wendepunkte, Grenzüberschreitung und Suspense in der franko-angelsächsischen Mixtur von Existenzialismus und dosierter Action vermittelt, wie die ausgefeilte Dramaturgie von »Sicario« und das etwas diffuse Drehbuch von »Arrival« belegen.

Villeneuves Kino verdünnt die pralle graphische Kompression der Figuren aus dem ersten Film, das Paradox zwischen Schönheit, Eleganz, Geist, Mechanik und Bewusstlosigkeit, vermassten Menschenschatten und freiheitsaufbegehrenden Cyborgismus zu einer matten Revue taumelnder Gestalten in einem entleerten archäologischen Vergnügungspark, in dem die letzten Spektrallinien von Mensch und Sklave, Leben und Robotik aufleuchten, bevor endgültig das Licht über den Lookalikes in der Jukebox ausgedreht wird.

Ryan Gosling, bekannt aus dem Thriller»Drive« (2011) und dem vielprämierten Filmmusical »La La Land« (2016), spielt Officer K mit zurückhaltender Contenance und Geschmeidigkeit. Er ist ein zunächst festangestellter Blade Runner und Zivilfahnder bei der LAPD und dazu noch Replikant mit entsprechend explizitem Bewusstsein, angekommen in der scheinbaren Normalität gleichberechtigter Lebewesen. Nach jedem Einsatz wird er routinemäßig auf seine Diensttauglichkeit überprüft. Er laboriert im Bassin einer zuende definierten abstrakten Konzern-Welt, in der die komplette Künstlichkeit über Mensch wie Replikant triumphiert: Die neusten Modelle Nexus-9 bereiten mit ihrer ultimativen Unterwürfigkeit und selbstmörderischen Hingabe dem System keine Schwierigkeiten mehr. Gehorsam, längere Lebenszeit, Reflexion und Integration scheinen im spießigen Paket zu funktionieren. Die irdische Bevölkerung, soweit noch vorhanden, ist von den neuen alltagsdienlichen Replikanten, wie von perfekten Wegwerfartikeln, durchsetzt.

Dicks Roman parodiert Religion humorvoll grimmig im kompensatorischen Mercerismus, einer interaktiven TV-Bekenntnis- und Erweckungsbewegung mit medial gesteuerter Empathie, einer bis an die Grenze der Heuchelei betriebene Ersatzethik unter den aufgescheuchten Erden-Menschen. Wenn Wissenschaft und Technologie 2049 Teil einer noch totalitäreren Religion werden, dann aus purem Obskurantismus, der Auslöschung von Individuum, Gesellschaft, Aufklärung und Geschichte, der Anwendung von Big Data in allen Bereichen und der Verschleierung der unendlichen Archive, die aus der Zeit vor dem atomaren Schlag stammen. Die neusten Androiden (so Dicks ursprünglicher Terminus) stammen 2049 aus der Produktion des blinden, allein durch Kameradrohnen und Replikanten elektronisch »sehenden« Konzernchefs, Niander Wallace (Jared Leto), einem ästhetizistischen Misanthropen, der mit dem Ende der Tyrell-Corporation zum Monopolisten aufstieg. Den Verfall der Menschheit auf der Erde und die letzten Makel der immer perfekteren, aber numerisch  nicht ausreichend produzierten Replikanten traktiert er drakonisch als Abirrung der von ihm angestrebten Schöpfung, die sich in faschistischen Formen der skulpturalen Vollkommenheit, neobrutalen Architektur, allgegenwärtigen Kontrolle und sofortigen Liquidation manifestiert. Officer K ist am Rande dieser entleeren Welt nur noch Spurensucher und Archäologe für letzte ungeklärte Fälle und Anomalien, um Vorgänger-Modelle, wie den langlebigen und alterungsfähigen Typus Nexus-8 (Sapper Morton, gespielt von Dave Bautista) in endlos archivierten Dateien und in entlegenen Gegenden aufzuspüren und ohne Nachdenken zu beseitigen.

K ist ein introvertierter Gutmensch oder menschlich sensibler Replikant, der mit seiner virtuellen Geliebten, dem zunächst körperlosen Hologramm Joi (Ana de Armas) über den Dächern von LA lebt. Joi ist aber auch eine Erfindung der Wallace Corporation und damit ein Anker für private Überwachung. Die Beziehung Ks zum anderen Geschlecht wird in ein Spektrum digitaler und realer Optionen zerlegt: die Holofreundin und Software Joi, zunächst eine Gestalt vor Ort und später in der transportablen Funktion zwischen Geliebter und hilfreicher Gefährtin; in einer Liebesszene wird sie körpernah unterstützt von dem zum Widerstand gehörenden Lustmodell Mariette (Mackenzie Davis); K kann auf die Sympathie seiner LAPD-Vorgesetzten Lieutenant Joshi zählen (»House of Cards«-Darstellerin Robin Wright); die Replikantin Luv ist eine rücksichtslos einschreitende Cyberagentin des Wallace-Konzerns (Sylvia Hoeks), im Haute-Couture-Look eine herb-militante Variante der ehemaligen Deckard-Geliebten Rachael; schließlich gibt es die gute Ausnahme im Konzern, Dr. Ana Stelline, eine immunschwache menschliche Erinnerungsdesignerin für immer humanoider ausgestattete Replikanten (die «Finsterworld«- und »Feuchtgebiete«-Darstellerin Carla Juri), – eine eigenwillige Kreativistin, gefangen im keimfreien Glasbungalow mit Projektionen intakter Natur; und Freysa (Hiam Abbass) ist eine Anführerin der Freiheitsbewegung der in den Untergrund entronnenen Replikanten.

Die Gerüchte, die verwilderten Androiden hätten die Gabe der »natürlichen« Fortpflanzung errungen, wecken die Begehrlichkeit aller Parteien. Wallace und sein Konzern streben die vollendete Massenproduktion und komplette Unterdrückung, die totale Ersetzung und Verdrängung selbstbewusster Menschen und Androiden an. Der Widerstand verteidigt die Befreiung und Gleichstellung von Mensch und Duplikat. In der Ära der planetaren Vergiftung überleben bis auf weiteres nur defizitäre und eingeschüchterte Menschen, vor allem Männer, alkoholisierte Süchtige, funktionsdevote Weibchen und resistente und robuste Replikanten, die den Regenerations- und Reproduktionsjob der abgeschlafften Bioiden an sich reißen. Schöne Aussichten unter der Dunstglocke. Der im Nachforschungsjargon des neuen Films konstant mysteriös gehaltene Zwist weitet sich aus zur allgemeinen Kampfzone, flankiert von der hoffnungsvollen Suche Ks nach der eigenen Identität zwischen Mensch und Roboter. K hat die dreifache Qual der Wahl: in der Umgebung des visuell nivellierten Stadtmolochs LA gibt es Energie-Anlagen und Bio-Würmer-Farmen; oder er fliegt in das Müllgebirge von San Diego und ins wüstenrote Atomsperrgebiet Las Vegas. Gegenden, in denen sich die um ihr Menschsein ringenden Replikanten und der alte Rick Deckard (Harrison Ford) verstecken, als Hüter des Geheimnisses um Rachael und ihr gemeinsames Kind, gedopt mit Tausenden von Whiskey Flaschen, aus präatomarer, purer Destille, für den kommenden Aufstand.  

Artikel online seit 16.06.17
 

Literatur:

Philip K. Dick
Blade Runner. Träumen Androiden von elektrischen Schafen?

Roman
Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié. S.
Fischer TOR, Frankfurt a. M. 2017

Originalausgabe:

Do Androids Dream of Electric Sheep?
Garden City, N.Y.,
Doubleday, 1968.

 


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