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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 



Carrières letzte Seufzer

Ein amüsantes Totengespräch mit Luis Bunuel

Von Wolfram Schütte

 

Unter der Handvoll großer, stilprägender europäischer Drehbuchautoren des 20. Jahrhunderts wie der Italienerin Suso Cecchi d'Amico,  ihrer Landsleute Cesare Zavattini & Tonino Guerra ist der Franzose Jean-Claude Carrière der einzige noch lebende. 1931 geboren, verbindet sich sein Name vor allem mit dem in Frankreich produzierten Spätwerk des Exil-Spaniers Luis Bunuel. In jahrelanger enger Kooperation entstanden die Drehbücher von »Tagebuch einer Kammerzofe« (1964) bis zu »Diesem obskuren Objekt der Begierde« (1977). Dieser mehr als bloß beruflichen Zusammenarbeit – oft über Monate hinweg in abgelegenen Orten – entstammen auch die Erinnerungen Bunuels, die J.-Cl. Carrière unter dem Titel »Mein letzter Seufzer« niedergeschrieben hat. Sie sind 1980, drei Jahre vor Luis Bunuels Tod erschienen.

Die beiden anarchistischen Atheisten - der rund zwanzig Jahre älteren Bunuel & der Franzose - wurden im Laufe der gemeinsamen Arbeitszeit enge, vertraute Freunde, blieben aber bis zuletzt beim förmlichen »Sie«. Zumindest, wenn man Carrières Buch »Bunuels Erwachen« trauen darf, das zwar schon 2011 erschienen ist, aber (wie schon »Mein letzter Seufzer« übersetzt von Uta Orluc) jetzt erst auf Deutsch vorliegt.

Es ist gewissermaßen ein Kehraus aller Materialien, Erinnerungen & Anekdoten, die 1980 bei der gemeinsamen Arbeit an Bunuels gesammelten »Erinnerungen« unter den Tisch gefallen waren: sozusagen allerletzte Seufzer Carrières über den Verlust des spanischen Freundes. Das Selbstgespräch des Achtzigjährigen über die unglaublichen Veränderungen der Welt nach Luis Bunuels Tod 1983 hat weitgehend die Form eines fiktiven Dialogs mit dem spanischen Freund. Der (bislang) überlebende Franzose sieht sich zu seinem späten Debüt im uralten literarischen Genre des »Totengesprächs« durch eine Bemerkung Bunuels ermuntert. In der von Carrière aufgezeichneten Autobiographie äußert der kaustische Humorist am Ende den Wunsch, alle zehn Jahre einmal auferstehen zu können, bei einem Kiosk sich Zeitungen kaufen & in ihnen von den Katastrophen der Welt lesen zu können, »um dann im sicheren Schutz meines Grabes beruhigt wieder einzuschlafen«.

Statt dass Bunuel bis zum St.Nimmerleinstag wartet, damit sein frommer Wunsch nach einer wiederholten Auferstehung in Erfüllung geht, erzählt uns sein Pariser Copain, dass er sich eines Frühlings-Abends ein Herz fasste, ein Dutzend Zeitschriften kaufte & bei Einbruch der Nacht sich auf dem Friedhof Montparnasse, unentdeckt von den Friedhofswärtern, einschließen ließ.

Er wusste, dass der spanische Freund diesen Friedhof besonders gemocht hatte & erzählt uns, dass Bunuel nicht nur gerne dort spazieren ging, sondern auch von einem Fenster seines Pariser Lieblingshotels »an manchen Tagen ein oder zwei Stunden lang« seinen Blick über die Grabstätten schweifen ließ - ganz abgesehen davon, dass er dort auch eine Szene aus dem  »Gespenst der Freiheit« (1974) gedreht hat.

Gründe genug, um dort eine namenlose Gruft aufzusuchen & den toten Freund (wie Jesus den Lazarus) ins Leben zurückzurufen. Carrière wird dergleichen Wiederbelebungen Bunuels noch achtmal wiederholen & dabei nicht nur mit Zeitungen, sondern auch mit einem Rioja zu seinem Gruftie hinabsteigen & seinem neugierig lesenden, fragenden & kopfschüttelnden  Freund aus längst vergangenen Tagen dessen viele Fragen beantworten (oder sie ihm hin-& wieder verschweigen). Dazu hat er allen Grund.

Denn im »Erwachen Bunuels« schlägt auch unsere Selbsterkenntnis die Augen auf - & bemerkt  (erschrocken & irritiert), wie sehr sich die gesamte Welt in nur knapp 30 Jahren (also innerhalb einer Generation!) grundlegend verändert hat. Denn der nachfragende Bunuel hatte natürlich zu seinen Lebzeiten weder eine Ahnung noch gar das Wissen z.B. vom Zusammenbruch der bipolaren Weltordung & dem Zerfall der UdSSR, von Aids, dem Internet, 9/11, dem islamistischen Selbstmörder-Terror, der zusammengebrochenen »Arabellion«, dem staatlichen Zerfall des Vorderen Orients & der Erdoganschen Türkei, der Völkerwanderung übers Mittelmeer oder dem weltpolitischen Aufstieg Chinas.

Die dialogische Konstruktion dieses wiederholten Totengesprächs erlaubt es Jean-Claude Carrière gewissermaßen unter der Hand intelligent & skeptisch-ironisch, alle die nachhaltigen Irrungen & Wirrungen unserer letzten Jahrzehnte dem staunenden toten Freund wie auch uns lesenden Lebenden vor Augen zu führen – so ähnlich, wie die beiden Autoren 1969 in ihrem jokosen Film » Die Milchstraße« einen illustrierten Rosenkranz von christlichen Häresien heruntergebetet haben. Will sagen: »Bunuels Erwachen« gleicht einem literarischen Drehbuch, das sich jeder Leser selbst filmisch inszenieren kann.

Nicht ganz hält Carrière seine Fiktion vom Gespräch der beiden älteren Herren durch. Das neunte Kapitel (in dem es ihm nicht gelingt, den Freund zu erwecken) besteht nur aus Bunuel-Anekdoten & -Biografika. Aber im abschließenden zehnten Kapitel gesteht er seiner misstrauisch gewordenen Frau, dass er abends nicht ins Büro, sondern zum Freund Bunuel auf dem Friedhof von Montparnasse gegangen sei. «Aber Bunuel ist doch in Mexiko eingeäschert worden, und man hat seine Asche in den Bergen verstreut!«, antwortet sie & fügt noch hinzu, dass Carrière ihr das selbst gesagt habe & verwundert darüber gewesen sei, dass der Freund, mit dem er so viel & oft über den Tod gesprochen hat, ihm gegenüber diesen Wunsch nie geäußert habe. Aber als die Carrières dann gemeinsam auf dem Friedhof nach der Gruft suchen, finden sie sie nicht mehr. Seine Frau, mutmaßt der Erzähler Jean-Claude Carrière, «macht sich Sorgen um mich«, weil sie »irgendeine halluzinationsartige Verrücktheit« bei ihm & seinen nächtlichen Absencen annimmt.  

Das Hochamüsante dieses veritablen Romans besteht aus dem abwechslungsreichen Stoff, den der Achtzigjährige auf seinen »Niederauffahrten« zu Bunuel zusammenführt: aus flunkernden Imaginationen eines Gesprächs mit dem erwachten Toten, funkelnden essayistischen Reflexionen des überlebenden Franzosen zur Jetzt-Zeit  & einer Vielzahl von kuriosen, gewitzten & humoristisch gewürzten Anekdoten aus dem abenteuerlichen Leben des surrealistischen Filmregisseurs in Spanien, Frankreich, den USA & Mexiko – wo der Franco-Flüchtige die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte.

Nicht unerwähnt soll auch die originelle Gestaltung des Buchs bleiben: auf schwarzem Grund grinst uns ein stilisierter weißer Schädel mit einer Zigarette zwischen den Zähnen entgegen. Die leeren Augen des Skelettkopfs sind verborgen hinter den schwarzen Gläsern einer erhabenen blauen Brille. Ein makabres optisches Design, das womöglich an die mexikanische Eigenart erinnern soll, Allerseelen als Fest der Toten mit den Lebenden auf dem Friedhof in Begleitung von Speis´& Trank ausgiebig zu feiern. 

Artikel online seit 10.11.17
 

Jean-Claude Carrière
Bunuels Erwachen
Aus dem Französischen von Uta Orloc unter Mitarbeit von Heribert Becker.
Alexander Verlag, Berlin 2017,
brosch. 288 Seiten
22.90 €
978-3-89581-455-6


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