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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 



Auswege aus der Rottweiler-Gesellschaft

Paul Colliers Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Die Fédération Cynologique Internationale mit Sitz in Belgien beschäftigt sich mit Zucht und Pflege von Rassehunden und erstellt Zuchtrichtlinien für die ihr angeschlossenen Vereine. Im Rassestandard Nr. 147 beschreibt die Fédération den Charakter eines Rottweilers wie folgt: „Von freundlicher und friedlicher Grundstimmung, kinderliebend, ist er sehr anhänglich, gehorsam, führig und arbeitsfreudig. Seine Erscheinung verrät Urwüchsigkeit; sein Verhalten ist selbstsicher, nervenfest und unerschrocken. Er reagiert mit hoher Aufmerksamkeit gegenüber seiner Umwelt.“ Der Rottweiler wird häufig als Wachhund oder als Diensthund der Polizei eingesetzt.

Unbestritten ist allerdings auch, dass Rottweiler – verglichen mit ihrer Häufigkeit in der Hundepopulation – überdurchschnittlich oft zubeißen und Menschen (tödlich) verletzen: Erst Ende März wurde in Wien eine Hundehalterin zu einer Haftstrafe verurteilt, weil das Tier im Herbst 2018 einen einjährigen Jungen durch Bisse tötete.

Wenn der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Paul Collier von der „Rottweiler-Gesellschaft“ spricht, hat er vor allem das Bild des aggressiven, hemmungslos beißenden Tiers im Blick. Der Mensch des 21. Jahrhunderts reagiert dann nicht nur mit hoher Aufmerksamkeit gegenüber seiner Umwelt, er beißt sich buchstäblich durchs Leben und geht hierbei mitunter über Leichen.

Ursache hierfür sei, so Collier, nicht nur die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die seit längerer Zeit schon verantwortlich ist für das bröckelnde soziale Fundament der Gesellschaft, sondern auch der immer deutlicher zum Vorschein tretende Unterschied zwischen der großstädtischen Metropole und den vielen Provinzen, sowie zwischen den Eliten und einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung, der fernab ausreichender Bildung, konsumorientiert in narzisstischem Korsett auf Selbstbestimmung pocht und der Idee der Solidarität Valet zu sagen scheint. Davon zeugten nicht zuletzt der Niedergang der Sozialdemokratie seit den 1980er Jahren sowie die Trostlosigkeit vieler ökonomisch abgehängter Städte im permanenten Sog globaler Geschehnisse, die konkrete und diffuse Ängste in Teilen der Bevölkerung ausgelöst haben – zumal das ursprüngliche Versprechen des Kapitalismus, für den Wohlstand der Völker zu sorgen, sie nicht mehr überzeugt.

Dieses Versprechen möchte Collier in Zeiten eines erneut aufkeimenden Populismus, der nur einfache, untaugliche Lösungen offeriert, wiederbeleben. Sein Ansatz ist pragmatisch und geprägt von den Traditionen der britischen Moralphilosophie, die im Kern auf der Idee der Reziprozität beruht: Staat, Unternehmen, Familie und der Rest der Welt müssten wieder stärker ihren Verpflichtungen nachkommen. Identitätsbildung, ein gemäßigter Patriotismus, Besteuerungen finanziell bessergestellter Regionen, eine ethische Neuorientierung der Parteien sind nur einige der Vorschläge, die sich aus dieser Weltsicht ergeben: „Die Heilung kommt daher, dass wir den Rückbezug wieder herstellen zwischen den Rechten und den Verpflichtungen, zwischen Ansprüchen und Verantwortung“, sagte Collier im März in einem Interview mit dem Deutschlandfunk.

Der Nobelpreisträger George Akerlof lobt Colliers Buch als „bahnbrechend“. Kein Wunder: Er wird x-mal selbst darin lobend zitiert. Ansonsten bleiben Colliers Vorschläge einigermaßen nebulös und überzeugen wenig, so ehrenwert sein Anliegen insgesamt auch sein mag. Insbesondere dann, wenn er über Schule und Bildung spricht, merkt man, dass sich seine Sicht auf Großbritannien beschränkt. Vom deutschen Schulsystem hat er jedenfalls keine Ahnung. Nur ein Beispiel: Collier fordert unter anderem eine freie Schulwahl bei weiterführenden Schulen, um Segregation zu durchbrechen. Diese Freiheit gibt es im föderalen Deutschland längst, auch wenn Richtlinien immer wieder überarbeitet werden. Kinder dürfen auch mit einer Hauptschulempfehlung in den meisten Bundesländern auf ein Gymnasium wechseln: Der Elternwille entscheidet. Auch die Nähe zum Wohnort ist aufgehoben. Die Kehrseite: Den Kindern wird zugemutet, bis zu 90 Minuten Anreiseweg in Kauf zu nehmen. Das Folgeproblem: Bekommt ein Kind keine Zusage von der Schule gleich nebenan, kann es sein, dass es durch die halbe Stadt fahren muss, um die Schule zu erreichen. Collier hat versucht, auch an seinem Wohnort dieses Prinzip durchzusetzen, was Elternvertreter zum Glück zu verhindern wussten.

Gewiss ist das Thema Bildung der Schlüssel, um Auswege aus der „Rottweiler-Gesellschaft“ zu finden. Aber dazu bedarf es einer Umverteilung der Haushalte: Bessere Ausstattung der Schulen und Klassenräume, ein besseres Betreuungsverhältnis in den Klassen, eine bessere Bezahlung der (Grundschul-)Lehrkräfte, ein Ende des Herumdokterns unter dem Stichwort „Bildungsreform“, ein Schlussstrich unter grenzdebile Evaluationen, neue Lehrformate durch mehr Lehrfreiheit, kleinere Klassen, überhaupt genügend Schulen, eine echte Finanzierung der Inklusionsidee, Geld für Integrationsprojekte vor allem in Brennpunktschulen etc. Wichtig wäre zudem, dass Politiker es ab sofort unterlassen, sich in ihrer Unwissenheit herablassend über Unterrichtsmethoden und Unterrichtsinhalte zu äußern (die jetzige NRW-Regierung ist darin besonders gut), weil es das Bild des Lehrers in der Öffentlichkeit diskreditiert. So gewinnt man keine neuen Lehrkräfte, so überwinden wir diese egoistisch geprägte „Rottweiler-Gesellschaft“ nie. Stattdessen: Mehr Geld für Bildung, Bildung und nochmals: Bildung! Und wir müssten uns weniger zerfleischen.

Artikel online seit 26.03.19
 

Paul Collier
Sozialer Kapitalismus!

Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft
Aus dem Englischen
von Thorsten Schmidt
Siedler
320 Seiten
20,00 €
978-3-8275-0121-9

 


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