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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 



Fragmentarische Rückschau


Hans Magnus Enzensbergers Exkursionen in die Vergangenheit einer Kindheit und Jugend.
Eine Handvoll Anekdoten – auch: Opus incertum

Von Gregor Keuschnig

 

"Eine Handvoll Anekdoten" nennt Hans Magnus Enzensberger sein neuestes Buch und da ist auch schon das erste von so vielen Understatements. Denn es sind insgesamt 107 Geschichten, Fundstücke (der Untertitel: "Opus Incertum"!). Exkursionen in die Vergangenheit einer Kindheit und Jugend. Die Ausflüge werden einhundertzwanzig Mal kongenial bebildert; sehr viel aus dem "FAE", dem Familienarchiv Enzensberger (nur manches ist überflüssig – einen Schäferhund kennt man schon heutzutage noch). Gelegentlich verlässt Enzensberger die Ereignisse, erzählt vom Schicksal der Personen oder leitet aus dem Geschehen Prägungen für sein weiteres Leben ab.

Die Hauptfigur heißt "M.", womit natürlich der Verfasser gemeint ist. Oder, etwas genauer: M. ist die Figur, wie sich Enzensberger heute an seine Kindheit und Jugend erinnert. Die dritte Person Singular ist dabei die kleinstmögliche Diskretionsstufe, wenn es um sich und seine Familie geht. "Wenn er über sich selber schreibt,//schreibt er über einen andern.", so heißt es denn auch in einem vierzeiligen "Envoi" am Ende. Dennoch: Ein So-tun-als-ob gibt es für den 89jährigen nicht. Enzensberger versucht erst gar nicht, die kindliche oder jugendliche Erzählperspektive zu simulieren. Dafür weiß er zu genau wie es (mit und ohne ihn) weiter geht.

Es beginnt chronologisch (in den ersten Jahren noch leicht intermittierend). Vom Geburtsjahr 1929 hat der Erzähler des Erzählers naturgemäß nur wenig in Erinnerung. Irgendwann jedoch eine nicht endend wollende Schlange von gelben Postautos – passend zum "Postassessor" des Vaters, der auch noch als Komparse in Stummfilmen und als Radioansager tätig war. Unterfordert sei er in seiner Tätigkeit gewesen. In seiner Freizeit baute er eine Holzeisenbahn, zeichnete Entwürfe zu Bauwerken und photographierte.

Ja, Mitglied in der Partei war er schon, der Vater. Weil er seinen Status als Beamter nicht verlieren wollte (er stieg auf zum "Telegraphendirektor"). Jahre später lauscht M. einem Gespräch des Vaters mit einem Freund. Eine bessere Position habe man ihm angeboten, in Berlin. Aber das wollte er nicht, dieses Sich-gemein-Machen. Und als der eigentlich ZbV eingestufte 1940 für den Neuaufbau des Pariser Telefonnetzes für einige Monate zum "Etappenhasen" wird, abonniert er nach seiner Rückkehr weiterhin die "Brüsseler Zeitung", die etwas unabhängiger als der "Völkische Beobachter" berichtet. Am Ende des Krieges sitzt er im Gefängnis wegen "Wehrkraftzersetzung". Kontakte zum Widerstand werden vermutet. Aber die Ankläger sind schon so klug, die Akten verschwinden zu lassen. Was dazu führt, dass die "Persilscheine" des Vaters den Amerikanern zu glatt vorkommen.   

Recht früh beginnt der M. genannte sein Unzugehörig-Sein zu kultivieren. Sei es als er sich beim Spaziergang durch seine Heimatstadt Nürnberg "wie ein Tourist" vorkommt. Oder im Turnunterricht. Irgendwann beschließt er nicht mehr zu den zwei Mal die Woche stattfindenden HJ-Veranstaltungen zu gehen. Um seine Eltern nicht zu beunruhigen, zieht er die verhasste Uniform an und geht aus dem Haus. Die Zeit verbringt er vorzugsweise in Büchereien. Ein Bibliotheksdirektor wird zum Weltenöffner. Er liest fast alles, Kolonialschriften, aber auch Spionage- und Kriminalromane. Von dem allgegenwärtigen Warnplakat "Feind hört mit" lässt er sich inspirieren und belauscht Frontrückkehrer in Zügen. Dabei erhält er überraschende Informationen (ein 12jähriger galt als unverdächtig), was ihm Zeit seines Lebens den Respekt vor aufgeblähten Geheimdienstapparaten versagt. Oder er betätigt sich als Sprengstoffbauer. Als die Wunden einer unbeabsichtigten Explosion sichtbar sind, steigt seine Anerkennung bei den Mitschülern; der Spitzname ist von nun an "Tito Spreng". Schließlich sieht er sich als "Idiot der Familie" (und das, obwohl er die bildungsbürgerlichen Ziele des Vaters weiter verfolgt).

Auch viele Enttäuschungen: Als der gottgleich angesehene Führer die Stadt besucht, ist er fast schockiert. Auch die Oblate bei der Kommunion bringt nicht die gewünschte Erleuchtung. Vom alljährlichen Einfall der Parteigenossen erinnert er das Herumgegröle Betrunkener und den Gestank von Pisse und Erbrochenem. Den Nachbarn, Herrn Streicher, hat er auch nur in unangenehmer Erinnerung.

Enzensberger sieht sich zurückblickend im "moral luck". Als die SS an der Schule neue Mitglieder sucht, versteckt er sich im Schweigen (und entdeckt Jahrzehnte danach sein Mitleid für Günter Grass, der unterschrieben hatte). Maßgeblichen Anteil daran hatte aber auch der Vater und dessen unaufgeregte Erziehung. Als er ein Wörterbuch stiehlt und erwischt wird, bleibt es bei einer Ermahnung. Beim nächsten Mal schließlich läßt sich M. nicht mehr erwischen.   

M. ist der älteste, nacheinander kommen Christian und Martin und 1944 noch der Nachzügler Ulrich. Immer wieder wird die Chronologie des Erzählstroms unterbrochen, wenn es um Personen der Familie geht. Etwa die Brüder. Da ist der früh verstorbene Martin, der schweigsame "Rebell", später als Typograph und Graphiker erfolgreich. Und Christian, der späterkannte, 2009 verstorbene, von dessen Gedichtvortrag ausgiebig erzählt wird. Es gibt Lieblingstanten und –onkels, wie Tante Theres, Onkel Fred (der Filou), dem Arzt Onkel Richard. Oder die Großeltern, die in 71jährigem Dauerehekrieg lebten (mit immerhin sechs Kindern). Hier schweigt der ironisch-kühl Bilanzierende zu Gunsten des warmen und fast zärtlichen Erzählens ob ihrer zum Teil entsetzlichen Schicksale, unterstützt das Erzählen mit sepiafarbenen" Photos wie weiland der Chronist in Edgar Reitz' "Heimat".  

Naturgemäß ist das keine "normale" Jugend. Rekrutierung zu letzten Kommandos, eine kleine Fahnenflucht, Herumirren. Dann das Genießen der Freiheit nach dem Krieg, das kurze Interregnum ohne jegliche Herrschaft oder Regierungsgewalt. Schnell findet sich M. zurecht, wird ein "bedenkenloser Schwarzhändler" (dessen Zigarettenmillionärstum sich mit der Währungsreform pulverisiert). Er antichambriert mit den Besatzern, zuerst den Amerikanern (die er auch problemlos bestiehlt, wenn es möglich ist), später mit den Briten, beschafft einer Garnison beispielsweise Original-Kuckucksuhren. Tief blicken lässt eine Racheaktion des Gekränkten, die vom heutigen HM immer noch mit großem Vergnügen berichtet wird.

Aus dem kühlen, zuweilen etwas eitlen Erzählen entstehen auch interessante Hypothesen. Etwa wenn er die Folgen des (Bomben-)Krieges für Kinder gar nicht so schlimm findet. Die Schule fällt aus, Ordnungen werden aufgehoben. Und er sieht in den Bombennächten hautnah die Erbärmlichkeit der nackten Überlebensangst der Erwachsenen (teilweise sogar in SS-Uniform). So bröckelten die Autoritäten im Luftschutzkeller zuerst. Gleichzeitig schildert er eine Episode von einem Einsatz als Pimpf in den letzten Tagen des Krieges, in dem er dem Rausch des Plünderns anheim fiel. Die Verrohung setzt mit der Gewohnheit ein. Der Krieg kann, so in fast Jünger'scher Diktion (freilich anders konnotiert), "unheimliche Energien" wecken. Und so kann Enzensberger die heutigen Kindersoldaten und deren für uns zum Teil rätselhafte Brutalität nachvollziehen.  

Von großer Unerbittlichkeit ist M.s Urteil über die Schule in allgemeinen und die Lehrer im besonderen – sowohl während der NS-Zeit als auch später. "Mit der Vermittlung ihrer bescheidenen Lehrstoffe beschäftigt und in chronischer Überschätzung ihrer Pädagogik wußten sie ebensowenig wie die Eltern von den grausamen und subtilen Prozessen, die sich Tag für Tag unter ihren Augen abspielten". Nur ganz selten gab es unter ihnen Aufrechte von denen zu lernen war und die später allzu oft unterfordert als Dorfschulmeister arbeiten durften. Die "ausgebrannten Greise" mit ihrem immer noch virulent-unterdrücktem Nazismus beäugte er von nun an mit Argwohn. Erst recht nach jenem Ereignis, dass ihn noch einmal verändern sollte. Eine Filmvorführung der Amerikaner über die KZ-Verbrecher lässt ihn für lange Zeit, womöglich bis heute, zum "hoffnungslose[n] Deutschlandneurotiker" werden.  

Zügig werden die 1950er Jahre bis zur Mitte erzählt. Studium; Autostop-Reisen. Seine erste richtige Liebe Natascha. Er besucht London, lernt die ungeschriebenen Gesetze englischer Lebensart (die er mit Bedauern vermisst), knüpft Freundschaften und kommt mit einem Stipendium für sechs Monate nach Paris. Lässig wie er über seine Promotion redet (die andernorts als brillant gilt). Dann endet das Buch mit dem lapidaren Schlußsatz: "Sonst ist in seinen jungen Jahren nicht viel passiert". Da war M.s Metamorphose zum Intellektuellen, der nur seine eigene Autorität anerkennt, "faute de mieux" vollzogen.

In Ina Hartwigs Ingeborg-Bachmann-Biographie wird Enzensberger zitiert, der mit dem Glück kokettiert, kein Romanschriftsteller zu sein. Dafür benötige man eine "unglückliche Kindheit". Aus der "Handvoll Anekdoten" erkennt man jetzt deutlich, dass M. seine Kindheit nicht unglücklich sieht. Es gab also ein richtiges Leben im falschen. Und es wird souverän erzählt, vielleicht manchmal ein bisschen zu elegant. Fortsetzung? Ja, bitte. Unbedingt!

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Artikel online seit 07.11.18
 

Hans Magnus Enzensberger
Eine Handvoll Anekdoten
auch: Opus incertum
Suhrkamp
239 Seiten 25,00 €
978-3-518-42821-4

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