Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme


Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 



Die Passion der Jeanne

Stéphanes Brizés Maupassant-Verfilmung »Ein Leben«

Von Wolfram Schütte

 

Der 1966 geborene Stéphane Brizé dominiert augenblicklich zusammen mit dem etwa gleichaltrigen Francois Ozon künstlerisch das aktuelle französische Kino - wie einst Francois Truffaut & Jean-Luc Godard die Nouvelle Vague. Nach Brizés letzten Gegenwarts-Film »Der Wert des Menschen« (2015) hat er 2016 mit »Une Vie« seinen ersten Historischen Film gedreht, der jetzt 2 Jahre später in manchen unserer Arthouse-Kinos läuft. Stéphane Brizés fast zweistündige Adaption ist der fünfte Film nach Maupassants Debütroman über ein fatales Frauenleben. Und um es gleich vorweg zu sagen: gewiss die Außergewöhnlichste!

Bekannt wurde Brizé bei uns als Regisseur sensibler Tragikomödien. In  »Man muß mich nicht lieben« (2005) & »Mademoiselle Chambon« (2009) werden die Protagonisten als Liebende (wie ihre Zuschauer: wir Kinogänger) einem emotionalen Wechselbad ausgesetzt. Identifikation wie (Selbst-)Reflexion halten sich auf eine bewundernswerte Weise in diesen zwei Beziehungsstudien in einem empfindlichen Gleichgewicht – was vor allem auch daran liegt, dass Brizé (wie Truffaut) ein »Schauspielerregisseur« ist.

Das ist auch die erste Qualität von »Ein Leben«. Die Hauptdarstellerin Judith Chemla ist eine studierte Theaterschauspielerin der Comédie Francaise, hat aber seit 2006 in einigen Filmen gespielt, von denen jedoch wenige über Frankreich hinausgekommen sind, so dass sie für uns nicht auffällig geworden ist. Das hat sich nun mit »Une vie« & unter Stéphane Brizés Regie geändert.

Nicht nur ist Judith Chemla in nahezu jeder Einstellung präsent (weil der Film gewissermaßen in ihrer »erlebten Rede« erzählt wird); sondern sie muss die Rolle der in einem strengen Konvent erzogenen Landadligen Jeanne vom jungen, weltfremd-naiven Mädchen (gewissermaßen einer nobilitierten »Mademoiselle« Bovary)  bis zur verarmten Mutter eines missratenen Sohns, mit gleicher Intensität & Leidenschaft verkörpern. Das gelingt ihr vortrefflich.

Brizé, der schon wie bei  anderen seiner Filme das Drehbuch mit Florence Vignon geschrieben hat, sah sich bei dem Stoff, der anfangs & Mitte des 19. Jahrhunderts vornehmlich in der Normandie spielt, mit vielen französischen Historischen Filmen ähnlicher Sujets nach literarischen Vorlagen Flauberts & Maupassants in unausgesprochener Konkurrenz (z.B. von Ophüls & Chabrol). Deshalb hat er für »Une vie« eine komplexe  ästhetische Binnenspannungsstruktur entwickelt.

Er wählte für seinen Farbfilm das heute ungebräuchliche, nahezu quadratische Bildformat 1,33:1, in dem vornehmlich die Schwarz/weiß-Klassiker des Stummfilms gedreht worden waren. Brizé wünschte damit, seine Hauptperson metaphorisch in einen Kasten zu sperren, dessen Wände Jeanne in ihrem ganzen Leben weder sprengen noch überwinden kann.

Die Lebensgeschichte der Jeanne entfaltet sich zwar im Großen & Ganzen chronologisch, operiert aber auch mit Vor-& Rückblenden, vornehmlich Erinnerungen, die wir – gewissermaßen Teilhaber von Jeannes Psyche - aus ihrer memorierenden Innenperspektive miterleben.

Andererseits nimmt die Hand-Kameraarbeit Antoine Héberlés von Anfang an in Bewegung & Kadrage den Gestus des Dokumentarischen ein. Und das umso mehr, als Brizé offenbar, ähnlich wie Kubrick in seinem »Barry Lyndon«, mit Originallicht gedreht hat. So erhalten die abendlichen Tischszenen nur von Kerzen ihr Licht & die Handlung von manchen Nachtszenen ist vornehmlich nur akustisch ahnbar. Lange Passagen bestehen aus Montagen von Stummfilmsequenzen des gelebten Lebens: Spaziergängen in der Landschaft, Gesellschaftsspielen. Oder gleichen zeitgenössischen Malereien. In anderen Fällen begleitet das Knacken des Kaminholzfeuers (ohne dass man es sieht) gewissermaßen als Generalbass akustisch die beschworene Authentizität von häuslicher Alltäglichkeit im 19.Jahrhundert. Die dokumentaristische Anmutung wird z.B. fast ein wenig zu demonstrativ akzentuiert, wenn gleich zu Beginn beim Wässern der Pflanzen mit einer Gießkanne sich die Kamera auf Jeannes langes Kleid fokusiert, dessen Saum dabei nass & schmutzig wird.

Neben dieser geradezu naturalistischen Anmutung arbeitet Brizé jedoch auch mit der (romantischen) Poesie des Inneren Monologs, wenn Jeannes Stimme Briefpassagen zitiert. Häufiger als üblich wird in »Une Vie« das gesprochene Wort jedoch optisch vom Sprechakt gelöst, d.h. der erzählerische Fluss eines realistisch-erzählenden Abbildrealismus´ wird zugunsten einer subjektiven Melange aus Erlebnis & Erinnerung in Jeannes träumerischer Imagination verdichtet. Landschaft, Wetter & Jahreszeiten setzen nicht nur atmosphärische Akzente, sondern korrespondieren Jeannes psychischem Welterleben zwischen Glück & Elend ihrer immer rückhaltloser ins Weltfremde verfallenden, dem Wahnsinn nahekommenden Existenz.

Deshalb zeigt Brizé mehrfach die hospitalistisch mit dem Oberkörper hin-& her schwankende Jeanne im Profil vor dunklem nächtlichem Hintergrund: symptomatische Verhaltensstörungen einer vom geliebten Sohn Vernachlässigten & Vereinsamten.  Konsequent negiert das Drehbuch das bloß Faktische. So wird von der Hochzeit nur gesprochen, aber die erste körperliche Vereinigung der Verheirateten ebenso diskret wie zärtlich in Naheinstellungen beschworen. Ebenso souverän geht Brizé mit der elliptisch verkürzten Erzählzeit um. Über bewusst gesetzte zeitliche Lücken & eine konsequente Diskretion, nur mit Andeutungen & Fragmenten Jeannes Leben als ein Mosaik auszulegen, wird man gezwungen, als Zuschauer es sich selbst in seiner schmerzlichen Intensität & Tragik als emotionales Erlebnis erfahrbar  zu machen.     

Folgt man der rund 30 Jahre umfassenden Erzählung des Films (die eine andere ist als die des Romans), so wurde Jeanne als einziges Kind ihrer durch verpachteten Grundbesitz reichen adligen Eltern »standesgemäß« in einem Kloster aufgezogen. Währenddessen konnten sich ihre Eltern ihrem Müßiggang widmen. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter (der Film beginnt damit, dass Jeanne ihrer Mutter zwei Gläschen mit Medizin reicht) stößt Jeanne auf Zeugnisse von deren ehebrecherischen Muße: glühend-sinnliche Briefe eines Liebhabers, mit dem sie eine offenbar lange Affäre unterhielt, während ihr Mann sich seinen hobbygärtnerischen Aktivitäten widmete. (Die Tochter wird dem ahnungslosen Witwer das ehebrecherische Geheimnis seiner Frau nicht verraten & die Briefe verbrennen.)

Die liberalen Eltern legen dem aus dem Kloster nachhause gekommenen jungen Mädchen nahe, den vom Pfarrer vorgestellten neuen Nachbarn Julien zu heiraten, obwohl Juliens niederer Adel als auch seine materielle Verarmung bekannt ist. Sie schenken dem jungen Paar sogar ein kleines Schloss. Das sinnliche Glück der beiden Liebenden wird getrübt, als sich Rosalie, das seit ihrer Kindheit ihr nahestehende Dienstmädchen,sich weigert, ihr den Namen dessen zu sagen, der sie geschwängert hat. Als Jeanne eines nachts bemerkt, dass ihr Mann ihre beste Freundin verführt hat, erfährt sie zur gleichen Zeit, dass sie selbst ein Kind erwartet. Während die nun geständige Rosalie mit ihrem Baby des Hauses verwiesen wird, bittet Julien – unterstützt vom örtlichen Priester – kleinlaut um Vergebung. Die verliebte Mutter in spe gewährt sie ebenso naiv wie hochherzig, bemerkt jedoch einige Zeit später, dass ihr Mann, mit dem sie doch wieder eine glückliche, sinnlich erfüllte Ehe geführt hatte, erneut eine Affäre begonnen hat, diesmal »standesgemäß«. Und zwar mit der Ehefrau eines gleichaltrigen Adligen aus der Nachbarschaft, mit denen sie beide doch eng befreundet sind.

In ihrer Verzweiflung über die ihr fremden erotischen Irrungen & Wirrungen  sucht Jeanne geistlich-moralische Hilfe  beim jungen Priester des Kirchspiels. Diesmal ist keine Rede von Verzeihung; im Gegenteil: Obwohl der priesterliche Fanatiker der Wahrheit um jeden Preis sein verwirrtes  Pfarrkind mit allen religiösen Strafandrohungen zwingen will, dem ahnungslosen Ehemann den »wollüstigen« Betrug zu offenbaren, weigert sich Jeanne. Sie kennt den sensiblen Ehemann, der den Ehebruch seiner geliebten Frau »nicht verkraften würde«. Der Priester aber, der gewissermaßen ad maiorem Dei gloriam den Gehörnten aufklärt, provoziert einen Doppel- & einen Selbstmord.

Wie sie ihr gewissermaßen den Ehemann zugeführt hatte, nimmt die Kirche ihn ihr derart auch wieder. Die Witwe richtet nun alle ihre Liebe auf ihren Sohn. In eine kirchliche Obhut gegeben, sieht sie hilflos zu, wie der Vaterlose, der sich an seine Mutter klammert & bei ihr bleiben will, mit brutaler physischer Gewalt ihr entrissen & im Kloster »erzogen« wird. Ist es dieser bittere »Verrat« der Mutter, der sie in ihrem künftigen Leben zum willigen Objekt für die sukzessive finanziellen Ausbeutung durch ihren Sohn macht & sie am Ende verarmen lässt? Erst, als sie auf  ihren Enkel in Windeln blicken kann, den ihr die einzig treue Rosalie zugeführt hat, empfindet sie Glück & Erlösung in ihrem traurigen Leben.

P.S. Der Zufall will es, dass ich nahezu zeitgleich in Pressevorführungen Stéphane Brizés »Une Vie« & Tom Volfs »Maria by Callas« gesehen habe. Diese zeitliche Nähe provoziert Verblüffung, weil dadurch die ästhetische Nähe beider doch so unterschiedlicher französischer Filme so erst recht  auffällig wird.

Volf hat einzig aus historischen Dokumenten die romaneske Erzählung eines gelebten Frauenlebens im 20.Jahrhundert destilliert; Brizés freie Maupassant-Adaption »Une Vie« verdichtet seine Romanverfilmung  aus dokumentarisch fingierten Lebens-Fragmenten eines fiktiven Frauenlebens im 19. Jahrhundert. Die künstlerische Nähe beider Filme geht sogar so weit, dass in beiden ihre Protagonistin sich  - sei´s durch wirkliche, sei´s durch Zitate -  aus ihren Briefen charakterisieren, die durch Montage ihre Schöpfer den für sich selbst sprechenden  Lebensgeschichten implantiert wurden.

Artikel online seit 06.06.18

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Filme   Impressum - Mediadaten