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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 





Forum für kultur- und zeitkritische Debatten

Die
Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Das 1984 gegründete, unweit der Universität angesiedelte, Hamburger Institut für Sozialforschung steht für den interdisziplinären Dialog der Geistes- und Sozialwissenschaften. Ein wichtiges Forum für wissenschaftliche Publikationen und Diskussionen bietet die vom Institut herausgegebene Zeitschrift »Mittelweg 36«. Der »Mittelweg«, benannt nach der Straße, in der die Zeitschrift ansässig ist, veröffentlicht im zweimonatigen Rhythmus neben Fachbeiträgen auch Essays, Tagungsprotokolle, Besprechungen und Chroniken für Fachkollegen und interessierte Laien.

Ein Beispiel ist das Anfang des Jahres erschienene Heft über »Stolz und Vorurteile«, dessen Auftakt der von dem Freiburger Soziologen Ulrich Bröckling geschriebene Essay »Man will Angst haben« bildet. Dieser Text trifft den Nerv der Zeit wie kaum ein zweiter (Eine Ausnahme bildet Pankaj Mishras »Das Zeitalter des Zorns«). Stilistisch brillant und inhaltlich einleuchtend zeigt Bröckling, »dass bei denjenigen, die derzeit am lautesten von den Ängsten der Menschen und dem drohenden Untergang des deutschen Volkes schwadronieren, eher Aggression als Angst am Werk ist. Ihr Brüllen verrät sie. Angst ist das Argument, in das sie ihren Hass gegen die Flüchtlinge und ihre Wut gegen die etablierte Politik kleiden.«

In eine ähnliche Stoßrichtung bewegt sich der Göttinger Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn, der die gängigen Verschwörungskampagnen näher betrachtet und konstatiert, sie zielten vor allem darauf, »politische und gesellschaftliche Entwicklungen der rationalen Betrachtung zu entziehen und stattdessen die Emotionalität und Affekthaftigkeit des Politischen zu steigern.« Das Grundmotiv solcher Kampagnen ist, »dass hinter diesen Entwicklungen unbekannte, unfassbare, omnipotente Mächte vermutet werden, die stets im Verborgenen agieren und die Agenden der sichtbaren politischen Akteure insgeheim steuern.«

Das Heft über »Stolz und Vorurteile« präsentiert darüber hinaus auch das Berliner Colloquium zur Zeitgeschichte, ein Projekt des Hamburger Instituts für Sozialforschung in Kooperation mit dem Einstein Forum in Potsdam. Es ist als Forum für neue, provokante Ansätze etabliert worden und versteht sich als einen Ort des Ausprobierens verschiedener Denkwege - unabhängig von den Zwängen des traditionellen akademischen Betriebs.

Ein weiteres Heft (März 2017) über die »Praktiken des Kapitalismus« versucht, dem Kapitalismus praxeologisch auf die Schliche zu kommen. Die Praxeologie ist eine Kulturtheorie, die im mikrosoziologischen Bereich und vornehmlich durch konstruktivistische Analysen die Gesellschaft sowie deren Kultur, Ideen, Weltbilder, Normensysteme und sprachliche Kommunikationen verstehbar machen möchte. Doch Praxeologie sei kein Allheilmittel, lautet das Credo; es sei nicht der eine Ansatz, »mit dem der »ganze Kapitalismus« oder gar der »Kapitalismus an sich« erklärt werden könnte. Sie erweist sich vielmehr als Mittel, genau diese Vorstellung von einem einheitlichen, mithin einheitlich zu erklärenden Kapitalismus infrage zu stellen.«

Exemplarisch ist in diesem Sinne Stefan Laube zu nennen, der die Entkoppelung der Finanzwelt nicht nur ökonomisch begreift, sondern eben auch praxeologisch, »als mit hervorgebracht durch auf den Markt und seine Ungewissheiten gerichtete Wissens- und Beobachtungsformen.« Zu diesem Zweck betrachtet er so genannte Trading Rooms, »verstanden als räumliche Atmosphären«, die eine »Affektivität des Spekulierens in vielfältiger und wirkungsvoller Weise« erzeugen: »Als komplexe soziomaterielle Aufmerksamkeitsapparaturen verdichten, konzentrieren und beschleunigen sie Marktinformationen und blenden gleichzeitig realwirtschaftliche Erwägungen als irrelevant aus.«

Oder Thomas Welskopp, der sich fragt: »Was kann eine ins Produktive gewendete historische Kapitalismusanalyse ... bestenfalls leisten? Ich meine, genaueste Beschreibungen der Arten und Weisen, wie wir unsere wirtschaftlichen Aktivitäten als Subjekte der Moderne im Umgang miteinander hervorbringen.« Das morgendliche Brötchenholen könnte so »eine in der Wirkung potenziell scharfe praxeologische Form der Kapitalismuskritik begründen ... Letzten Endes könnte man sich somit eine Wiederbelebung der politischen Ökonomie aus einer zeitgemäßen sozialtheoretischen Perspektive denken.«

In beiden Heften führt Wolfgang Kraushaar seine Protest-Chroniken fort, die er inzwischen auf andere Länder und historische Ereignisse ausgeweitet hat, fokussierten sie doch ursprünglich nur die RAF und den Deutschen Herbst. So blickt er u.a. auf die Fatah und die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), jene hochgradig aufgerüsteten Organisationen, die den deutschen Terroristen damals angeboten haben, »sie in ihrer Ausbildung, Bewaffnung und Logistik dauerhaft zu unterstützen.« Kraushaar interessiert sich hierbei vor allem für die verschiedenen Formen der Kooperation, ohne die der deutsche Terror »weitgehend handlungsunfähig gewesen« wäre.

In den beiden oben genannten Heften sind es New York im Jahre 1963 und Warschau 2016, denen sich Kraushaar zuwendet, um die Welt als eine Welt im Protestmodus zu skizzieren.

Ein Blick in den »Mittelweg« lohnt insofern nicht nur wegen der Vielfältigkeit der Themen und der Offenheit der wissenschaftlichen Methoden, sondern insbesondere wegen der Qualität der darin präsentierten Beiträge.

Artikel online seit 26.06.17
 



Mittelweg 36
Heft 3 – Juni/Juli
Antun und erleiden

Printausgabe 9,50 €
E-Journal (pdf) 7,99 €

 

 


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