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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 



Im Zeitalter kollabierender Kontexte

In seinem klugen Buch
über das Zeitalter der Empörungsdemokratie
zeigt Bernhard Pörksen Wege aus der kollektiven Erregung.

Von Jürgen Nielsen-Sikora

 

Die große Gereiztheit

In einem der letzten Kapitel seines Jahrhundertromans »Der Zauberberg« (1924) mit dem Titel »Die große Gereiztheit« schildert Thomas Mann eindrucksvoll die geistige Situation der Vorkriegsjahre bis hin zum Duell der beiden Protagonisten Leo Naphta und Lodovico Settembrini. Den dramatischen Schluss des Kapitels, in dem Naphta sich suizidiert, kündigen bereits die ersten Abschnitte an. Thomas Mann schreibt: »Was lag in der Luft? – Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge. Erbitterter Streit, zügelloses Hin- und Hergeschrei entsprang aller Tage zwischen einzelnen und ganzen Gruppen, und das Kennzeichnende war, daß die Nichtbeteiligten, statt von dem Zustande der gerade Ergriffenen abgestoßen zu sein oder sich ins Mittel zu legen, vielmehr sympathetischen Anteil daran nahmen und sich dem Taumel innerlich ebenfalls überließen. Man erblaßte und bebte. Die Augen blitzten ausfällig, die Münder verbogen sich leidenschaftlich. Man beneidete die eben Aktiven um das Recht, den Anlaß, zu schreien. Eine zerrende Lust, es ihnen gleichzutun, peinigte Seele und Leib, und wer nicht die Kraft zur Flucht in die Einsamkeit besaß, wurde unrettbar in den Strudel gezogen.«

Man fühlt sich unmittelbar an George Grosz' sozial- und gesellschaftskritische Karikaturen jener Zeit erinnert, oder an die nur wenige Jahre nach dem Erscheinen des »Zauberbergs« veröffentlichte Romantrilogie »Die Schlafwandler« des österreichischen Schriftstellers Hermann Broch. Im dritten Teil mit dem Titel »Huguenau oder die Sachlichkeit« (1932), genauer: im Kapitel über den »Zerfall der Werte«, schreibt Broch in Fortführung der Gedanken von Thomas Mann: »Das Unwirkliche ist das Unlogische. Und diese Zeit scheint die Klimax des Unlogischen, des Antilogischen nicht mehr übersteigen zu können ... Phantastisches wird zur logischen Wirklichkeit, doch die Wirklichkeit löst sich zu alogischster Phantasmagorie. Eine Zeit, feige und wehleidiger denn jede vorhergegangene ...«

Die große Gereiztheit reloaded

Im Zeitalter sozialer Medien scheint der Verfall der Werte in eine neuartige, nicht minder große Gereiztheit zu münden. Ihr widmet sich der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in seinem – Thomas Manns Kapitelüberschrift aufgreifenden – klugen Buch über die Facetten kollektiver Erregung in der digitalen Welt. Seine zentrale These besagt, dass nicht das Ereignis als solches Ausschlag gebend ist, sondern die im Hintergrund der Ereignisgeschichte wirkenden »Effekte digitaler, vernetzter Medien.« Sie veränderten »den Charakter dessen, was wir Öffentlichkeit nennen.« Diese Effekte führten dazu, dass »Schutzzonen der Unsichtbarkeit und Rückzugsräume der Unbefangenheit schwinden.« Es geht heute also weniger darum, was genau passiert, sondern viel eher darum, wie und in welchem Maße medial auf ein bestimmtes Ereignis reagiert wird.

Nicht weniger als eine Neuorganisation der Informationswelt, in der wir uns permanent bedrohlich nahekommen, ist die Folge: »Wir sind gereizt, weil uns der Gedanken- und Bewusstseinsstrom anderer Menschen in nie gekannter Direktheit erreicht, wir ungefiltert der Gesamtgeistesverfassung der Menschheit ... ausgesetzt werden.« Diskursfilter und Informationskontrollen sind weggebrochen, jeder Smartphonebesitzer wird zum neuen Sender. Dies hat gravierende Konsequenzen für das gesellschaftliche Zusammenleben, die Pörksen in fünf Krisenszenarien veranschaulicht.

Die Wahrheitskrise

Wir leben im Zeitalter der Fake-News: Frei erfundene Behauptungen werden als Nachrichten präsentiert und erregen virtuelle Fieberschübe. Denn irreale Nachrichten können durchaus unmittelbar reale Folgen haben, wenn falsche Behauptungen für wahr gehalten werden. Pörksen hält die Rede vom postfaktischen Zeitalter dennoch für geschichtsblind, weil Wahrheit auch in früheren Zeiten nicht klar dechiffrierbar gewesen sei.

Die »Beschwörung eines Epochenbruchs« sei »erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch naiv« und »Ausdruck eines vorphilosophischen Feuilletonismus.« Dennoch sei die Wahrheit durch Propaganda, Manipulation und Fälschung zweifellos umstrittener als je zuvor, und die Gewissheiten zerfielen vor aller Augen. Dies ist gerade deshalb beunruhigend, weil wir ein grundsätzliches Gewissheitsbedürfnis haben, das jedoch durch die Flut der Ad-hoc-Kommentare und der zahllosen Instant-Interpretationen, die das Netz bereithält, zusehends instabiler zu werden droht. Da sich jeder »im Universum frei umherwirbelnder, beliebig kombinierbarer Daten« sein eigenes Sinnfeld erschaffen und seine »persönliche Wahnvorstellung begründen« könne, sind Sinnbedrohungen insgesamt wahrscheinlicher.

Die Diskurskrise

Wir sind heute alle Sender, die barrierefrei öffentlich machen können, was uns bewegt. Der Kontrolle durch die klassischen Medien brauchen wir uns in einem »global vernetzten, hochsensiblen Kommunikationsuniversum« nicht unbedingt zu stellen. Die Wirkung unserer Themen scheint hierbei jedoch auch nicht mehr kontrollierbar, weil es unzählige, simultan präsente Parallelöffentlichkeiten gibt, in denen unser Thema eine völlig neue Bedeutung erlangen kann, ohne dass wir dies zu steuern vermögen. Das Zeitalter klassischer Leitmedien weicht dem Zeitalter der Wirkungsnetze, jenem Verbund, der »gleichermaßen redaktionelle und soziale Medien umfasst.« Das einstige Publikum hat sich emanzipiert, mit allen positiven wie negativen Begleiterscheinungen: Die Grenze zwischen Diskurszentrum und Diskursperipherie sei porös geworden. Eine Folge ist ein diffuses Geraune ohne seriöse Belege: »In den offenen Diskursräumen der Empörungsdemokratie« herrscht Diskursanarchie, eine scheinbare Anonymität enthemmt den Diskurs, und die Möglichkeit schwindet, abseitigen Ansichten mit Vernunft zu begegnen. Vielen erscheint ihre private Wirklichkeit mehr und mehr als allgemeingültige Realität: »Und plötzlich sieht man dann ... überall den Mob, den enthemmt publizierenden Pöbel und die Attacke bösartiger Trolle

Die Autoritätskrise

Die Welt ist maximal transparent geworden: Permanent wird beobachtet, gefilmt und fotografiert. Kaum etwas verbleibt im Verborgenen. Benthams Panoptikum hat sich weiterentwickelt. Nach Pörksen hat sich die »Beziehung zwischen Wächtern und Bewachten, zwischen Beobachtern und Beobachteten flexibilisiert.« Dies führt zu Autoritätsverlusten, zur Verzwergung einstiger Vorbilder und Helden, weil sich »die Aura der Differenz und des Andersseins nicht mehr bewahren lässt und weil im Netz jede Identität demaskiert« werde. Einzelne blamable Ereignisse im Leben einer Autorität können von nun an die gesamte Biografie prägen, oder aber Autorität wird zu einem temporären Moment, zur »Instant-Ikone«. Denkbar sei schließlich, dass die Fülle der nun nachweisbaren Fehlleistungen »irgendwann zum unspektakulären Regelfall und zum achselzuckend akzeptierten Dauerereignis« mutierten, »weil die Abweichung für alle scheinbar längst zur neuen Normalität geworden ist.«

Die Behaglichkeitkrise

Unbehaglichkeit macht sich breit. Manchmal möchte man all die Informationen gar nicht mehr erhalten, die überall auf einen einströmen. Doch wir können uns der Informationsflut kaum noch entziehen: Medien in öffentlichen Raum, Fernsehbilder auf dem Bahnhof, Nachrichtenticker auf den Flughäfen, in den Kneipen, der S-Bahn; Mails, Facebook-News, Twittermeldungen, Whats-App-Nachrichten, Eilmeldungen, Breaking News etc. Informationen aller Art verfolgen uns, gleichgültig, ob wir daran augenblicklich interessiert sind oder nicht: »Alles wird potenziell allen gezeigt. Alles wird im Extremfall allen sichtbar.« Selbst Widersprüchliches läuft parallel ab (wichtige wie unwichtige Informationen) und tritt in ein Wettbewerbsverhältnis um unsere Aufmerksamkeit. Wir leben, so Pörksen, im »Zeitalter kollabierender Kontexte.« Und auf all diese Berichte können wir gar nicht nicht reagieren. Doch »wie verknüpft man Aufregung mit Relevanz? Und wie verbindet man die Reflexe menschlicher Wahrnehmung und Aufmerksamkeitssteuerung ... mit einer Agenda, die eine allgemeinere Bedeutung besitzt?« Schließlich gehe doch darum, so Pörksen, Empörung dosiert und gezielt einzusetzen und ihren Einsatz zu überprüfen.

Die Reputationskrise

Für gründliche Beurteilungen finden wir kaum noch Zeit. Alles muss rasend schnell vonstatten gehen: »Die Attacke erfolgt im Live-Modus.« Die viel zu eilig verfassten Urteile der digitalen Welt verzerren das Gesamtbild, weil oftmals nur bruchstückhafte Informationen verarbeitet werden, »die weitgehend kontextfrei als Schuldbeweise benutzt werden.« Eine kleine unüberlegte Geste kann dann dazu führen, dass Forderungen nach einer Strafe laut werden, die in keinem Verhältnis mehr zu dem steht, was man sich hat zu Schulden kommen lassen. Die Wutkommentatoren regieren den Netzdiskurs, sie skandalisieren und und heizen Konflikte an. Es folgt die Skandalisierung der Skandalisierung usw. Die Öffentlichkeit sei inzwischen ein »Testlabor für Erregungsvorschläge aller Art«, die Vielzahl an Prangerseiten lege davon beredtes Zeugnis ab. Die Konsequenz: Alle arbeiten an einer möglichst skandalfreien Reputation durch Imagekampagnen und Marketingmanagementsysteme.

Entwurf einer redaktionellen Gesellschaft

Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel – das Ende der großen Gereiztheit erzählt Thomas Mann wie folgt: »Feigling« schreit Naphta, als Settembrini seine Waffe hebt und in die Luft schießt. Es gehöre mehr Mut dazu, »zu schießen, als auf sich schießen zu lassen.« Deshalb hebt Naphta die Pistole auf seine Weise und schießt sich selbst in den Kopf.

Soweit will es Bernhard Pörksen gar nicht erst kommen lassen und schreibt: »Man muss die Bedingungen der Situation und den besonderen Kontext kennen, die Quellenlage prüfen ... und sich in der Hermeneutik der Wut schulen, um zu entscheiden, ob die Normverletzung gerechtfertigt und die Entrüstung angebracht ist.«

Es geht hierbei um die Verantwortung eines jeden Einzelnen, der im 21. Jahrhundert zwangsweise selbst zum Sender geworden ist. Es geht um publizistische Selbstkontrolle, die durch die Orientierung an der Wahrheit geleitet ist. Es geht darum, wieder zu recherchieren, skeptisch zu sein, Informationen infrage zu stellen, Urteile mit Bedacht zu fällen. Es geht darum, Argumentationen einzuüben, andere Perspektiven einzunehmen, Kompromisse zu suchen. Wir brauchen ein Gespür für Relevanz und Nuancen. Wir müssen Informationen wieder gewichten, aufmerksam und konzentriert sein, nicht nur Klickvieh. Wir brauchen einen Sinn für Angemessenheit, so Pörksen weiter, Reflexionsvermögen und Problembewusstsein. Vor allen Dingen aber sollten wir unsere Arbeitsweise offenlegen: »Gebe deinem Publikum jede nur denkbare Möglichkeit, die Qualität der von dir vermittelten Informationen einzuschätzen!« Und all dies sollten wir bereits in der Schule lernen, um die Idee einer redaktionellen Gesellschaft zu verwirklichen. Eine schöne und notwendige Utopie!

Bernhard Pörksen legt mit »Die große Gereiztheit« ein sehr kluges und nachdenkliches Buch über die Auswirkungen der digitalen Gesellschaft vor. Seine flott formulierte und treffende Analyse besticht durch eine Unmenge an Beispielen über den teilweise unheilvollen Zusammenhang zwischen virtueller und realer Welt. Wer besser verstehen will, wie soziale Medien und Netzdiskurse funktionieren, kommt an diesem Buch, das den Weg von der Medien- zur Empörungsdemokratie nachzeichnet, nicht vorbei.

Artikel online seit 09.03.18
 



Bernhard Pörksen
Die große Gereiztheit
Wege aus der kollektiven Erregung
Hanser Verlag
256 Seiten
ISBN 978-3-446-25844-0
22,00 €
ePUB-Format
ISBN 978-3-446-25956-0
16,99 €

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