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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 



Das Böse neu denken

In ihrem Buch
»Böse« analysiert Julia Shaw die Psychologie unserer Abgründe

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Die Frage nach gut und böse gehört zu den grundlegenden Fragen des Menschen. Das Nachdenken über das Böse geht der Natur des Menschen und seiner persönlichen Freiheit auf den Grund. Hierbei kommen sowohl moralische als auch anthropologische, politische, ästhetische, historische und theologische Aspekte zur Sprache. Auch im zwischenmenschlichen Alltag begegnen uns immer wieder Facetten des Bösen.

Wie viel Böses steckt in uns?

Seit ein paar Semestern biete ich ein universitäres Seminar mit dem Titel »Das Böse« an. Neben philosophischen Texten von Immanuel Kant bis Hannah Arendt stehen Fallstudien wie die des Kindermörders Jürgen Bartsch, Texte zur »Schwarzen Pädagogik« oder wissenschaftliche Experimente wie das Milgram-Experiment im Fokus.
In dem berühmten psychologischen Versuch von Stanley Milgram aus dem Jahre 1961 ging es darum zu testen, ob ganz normale Menschen bereit sind, Anweisungen von Autoritätspersonen auch dann Folge zu leisten, wenn sie ihrem Gewissen widersprechen.
Zuletzt hat der Mentalist Derren Brown in einem kontrovers diskutierten, aber vergleichbaren Test gefragt, ob es theoretisch möglich ist, Menschen durch ein Gerüst aus Lügen und mit psychologischen Tricks dazu zu bringen, einen anderen Menschen zu töten. Die Frage dahinter: Wie viel Böses steckt in jedem von uns?

Das studentische Interesse an dem Seminar ist groß, nicht zuletzt, weil »das Böse« seit jeher gleichermaßen Angst und Faszination auslöst. Es zieht uns in seinen Bann, schockiert und verstört. Das Böse scheint Teil des Menschen und seiner Handlungen zu sein. Aber was genau ist eigentlich »das Böse«? Und wer entscheidet darüber, was böse ist und was nicht?

Von biblischen Mythen bis in die Gegenwart internationaler Politik, von Hesiod bis George Bataille, vom Klientelkönig Herodes bis zum Diktator Hitler, von der Inquisition bis in die Konzentrationslager, von Lissabon über Auschwitz bis Ground Zero, vom Belzebub bis Mephisto, von Hiob bis Darth Vader und Lord Voldemort reichen – um nur ein paar Beispiele zu geben – die Auseinandersetzungen mit der Frage, was das Böse ist und warum es so anziehend auf uns wirkt.
Das Uni-Seminar will sowohl dieser Faszination als auch den verschiedenen Ausprägungen des Bösen nachspüren, den guten Menschen und seine Feinde nach ihren Motiven befragen und eine Antwort auf die Frage suchen, wozu das Böse gut ist. Lässt sich etwa mit Hilfe der Vernunft dem Bösen begegnen?

Vielleicht existiert das Böse nur in unseren Ängsten ...

Diesen Fragen geht auch Julia Shaw, bekannt durch ihr Buch »Das trügerische Gedächtnis«, nach, und entwickelt eine »Psychologie unserer Abgründe«, die spannender als jeder Kriminalroman geschrieben ist, und aus der man unendlich viel lernen kann – auch nach der Lektüre ganzer Bibliotheken über das Böse.

Julia Shaw geht es insbesondere darum, dass wir über die Lektüre ihres Buches unsere eigenen Gedanken und Schwächen besser verstehen. Deshalb geht sie vor allem auf das alltägliche Böse ein, etwa auf Gewalt- und Mordphantasien, die wir alle kennen. Einen Schwerpunkt bilden sexuelle Devianzen wie Pädophilie, Zoophilie und Koprophagie, aber auch psychische Erkrankungen und Machtmissbrauch, Psychopathologie, Serienmorde und Pornografie, Mobbing, Aggressionen, Sexismus und moralische Blindheit. Schließlich erklärt sie sehr anschaulich psychologische Fachtermini wie kognitive Dissonanz, Deindividuation und Dehumanisierung anhand vieler Beispiele.

Darunter findet sich auch ein so wundersames Moment wie das Sammeln von so genannten »Murderabilia«, also Devotionalien von Mördern, die über das Internet gekauft bzw. ersteigert werden können.
Im Zentrum von Shaws Untersuchung stehen folgende Fragen: Warum töten Menschen einander? Wer wird warum zum Mörder? Und warum unternehmen Menschen nichts, um grausame Taten zu verhindern, obwohl sie es könnten? Ferner: Welche Vorurteile begleiten uns beim Anblick fremder Personen? Und welche davon sind uns überhaupt bewusst? Irgendwer auf dieser Welt hält gewiss auch uns für böse. Böses Handeln hat insofern mehr mit uns selbst zu tun als wir zunächst glauben.
Shaw gibt auch Persönliches preis, ohne dass ihre wissenschaftlich fundierte Studie darunter in irgendeiner Weise leidet. Eingebunden in jüngste neurowissenschaftliche und psychologische Studien sowie zahlreiche Gedankenexperimente, ergänzt der persönliche Zugriff die wissenschaftliche Reflexion auf unterhaltsame Weise.

Eines der Gedankenexperimente lautet: »Wenn Sie in der Zeit zurückgehen könnten, würden Sie Hitler als Baby töten?« Und angenommen, Sie könnten das Leben einer Person beenden, indem Sie lediglich an diesen Mord denken, ohne dass jemals herauskäme, dass Sie die Person durch bloßen Wunsch getötet hätten: Würden Sie diese Gabe nutzen? Was sagt die Antwort über uns selbst aus?

Plädoyer für Menschlichkeit

Die Kriminalpsychologin Shaw endet mit einem Plädoyer für (mehr) Menschlichkeit, für die Übernahme von Verantwortung und den Willen zu verstehen. Nicht zuletzt betrifft dieses Verstehenwollen das Böse selbst: »Ich möchte Sie dazu herausfordern, durchs Leben zu gehen, ohne Taten oder Menschen als böse zu bezeichnen. Versuchen Sie stattdessen, Gräueltaten und Menschen, die sie begehen, genauer unter die Lupe zu nehmen. Untersuchen Sie alles sorgfältig, wie ein Detektiv ... Wir erschaffen das Böse, wenn wir etwas als solches etikettieren: Das Böse existiert als Wort, als subjektives Konzept. Doch ich bin fest davon überzeugt, dass es keinen Menschen, keine Gruppe, kein Verhalten, keine Sache gibt, die objektiv böse ist. Vielleicht existiert das Böse wirklich nur in unseren Ängsten ... Es ist an der Zeit, das Böse neu zu denken.«

Shaws Buch ist nicht minder faszinierend wie ihr Thema: Ein psychologischer Thriller, der die ein oder andere Therapiestunde ersetzt, ein Blick in unsere Abgründe, der so weit reicht, dass einem schwindelig werden kann. Ein großartig geschriebenes, exzellent lektoriertes, gleichwohl verstörendes und neue Horizonte eröffnendes Buch. Ich bin absolut begeistert. Diese Begeisterung war nicht zuletzt daran abzulesen, dass ich für zwei Tage meine hochspannende Netflix-Serie völlig vergessen hatte und nach der Lektüre eine Viertelstunde rastlos durchs Zimmer gelaufen bin ...

In ein paar Tagen beginnt übrigens das neue Semester. Die »Psychologie unserer Abgründe« wird dann ganz sicher im Zentrum meines Seminars über das Böse stehen.

Artikel online seit 22.09.18

 

Julia Shaw
Böse
Die Psychologie unserer Abgründe
Hanser Verlag
320 Seiten
22,00 €
978-3-446-26029-0

Leseprobe

 


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