Als die SZ (am 16.7.18) zum ersten Mal darauf zu sprechen kam, dass die
österreichische Hauptstadt erwäge, in einer ihrer U-Bahn-Linien das Essen von
stark riechenden Speisen zu verbieten, wählte der Autor Titus Arnu ein geniales
Wortspiel, das mir ebenso witzig wie treffend erschien, um das Problem sowohl
ironisch als auch ernsthaft zu benennen. Deshalb habe ich dem SZ-Kollegen den
obigen Titel entwendet.
Als dann die SZ am 18./19.8.18 sich erneut dem Thema zuwandte, weil Wien nun
allerdings auf allen U-Bahnstrecken den Verzehr von Hamburger, Pizza, Leberkäse,
Nudeltopf etc. verbietet, wählte die Redaktion den weniger auffälligen Titel
»Mahlzeit«; offenbar sollte das Wort im Sinne eines lakonischen Abschlusses
verstanden werden. Es will sagen, dass Schluss ist mit einer Fingerfood-Mahlzeit
in den Wiener U-Bahnen, weil im Alltag mancher mit dem Wort aufsteht, der eben
gerade seine »Mahlzeit« beendet hat. Es könnte jedoch sogar auch ironisch
gemeint sein: es gibt ja auch die Verwendung des Wortes »Mahlzeit« im pejorativ
negativen Sinne, wonach eine Sache aufs Schlechteste oder Unglücklichste
abgeschlossen wurde (»Das ist ja eine schöne Mahlzeit!«).
Jedoch das pure Faktum ist für mich nicht das Interessante an der SZ-Meldung.
Sondern zum einen, dass die Wiener Verkehrsbetriebe aufs Ganze gehen mussten.
Ursprünglich wollten sie ja nur eine U-Bahn, der das »Schmuddelimage« anhing,
dadurch geruchsfrei machen, nun sollen es alle sein. Aufgrund einer
Online-Umfrage über das Vorhaben hatten von den ca. 51.000 Teilnehmern rund
37.500 ein generelles Verbot verlangt: also mehr als 2/3 aller Befragten.
Ich finde das Ergebnis weniger verwunderlich als die davon überraschten Wiener
Verkehrsbetriebe & »befragte Psychologen«, wie die SZ schreibt. Die Psychologen
»ordnen die Maßnahme dem Zeitgeist zu, der mehr nach Sicherheit als nach
Freiheit verlange«. Österreichische Politologen, berichtet die SZ, «sehen darin
den Versuch der (in Wien) regierenden Sozialdemokraten, sich als
Law-and-Order-Kraft zu präsentieren. Ein paar andere«, die die SZ nicht genauer
bezeichnet, weil wohl der berichtende SZ-Reporter sich dahinter verbirgt,
»fragen auch, wohin der Drang zum Verbot noch führen soll.« (…) Überdies
beklagen manche« (wieder dürften manche davon de facto der SZ-Berichterstatter
sein), »dass es auch ohne Essen zu unangenehmen Ausdünstungen in der U-Bahn
kommen kann. Doch auch darum«, wird die Volte ins humoristisch Verharmlosen
genommen, »haben sich die Wiener Linien und die Verkehrsstadträtin schon
gekümmert: Neulich haben sie 14.000 Deodorants in der U6 verteilt« – jener »Schmuddel«-U-Bahn,
deren Negativ-Image alles ins Rollen gebracht hatte.
Unverkennbar ist für mich, dass dem Berichterstatter der SZ der Beschluss des
Wiener Gemeinderats missfällt, bzw. ihn für lächerlich hält & als komische
Entscheidung ansieht. Dabei ist er es, der ihn humoristisch infiziert, indem er
Geruchsbelästigung durch Speisen mit dem Körpergeruch von Schweiß oder
ungelüfteten Billigklamotten gleichsetzt. Ob die Verteilung von Deodorants
dagegen hilft, mag dahingestellt sein. (Es erinnert eher an die Funktion von
Parfum am Hof des Sonnenkönigs in Versailles, weil zu jener Zeit der Adel
Körperwäsche für ungesund hielt.)
Aber gegen die Geruchsbelästigung durch geruchsintensive Speisen hilft gewiss
ihr Verbot an diesen Orten. Das gleiche Verbot für das Rauchen, das auch in
öffentlichen Verkehrsmitteln gilt, hat ja heute auch in geschlossenen Räumen von
Gaststätten Gültigkeit, obwohl sie ja Privaträume sind! (Als ehemaliger Raucher
merkt man heute erst, welche olfaktorische Zumutung man früher für die
Nichtraucher im Raum war!)
Wieso sollte es also selbstverständlich sein, dass alle im Öffentlichen Raum
olfaktorisch tolerierend erdulden müssen, wenn eine Person an geruchsintensivem
Speisen ihren individuellen Genuss hat? Wieso sollte der Wunsch, nicht durch
individuellen olfaktorischen Übergriff belästigt, eingeschränkt oder gezwungen
zu werden, ein Kollateralschaden des »Zeitgeistes« sein, »der mehr nach
Sicherheit als nach Freiheit verlange«? Das Gegenteil ist doch der Fall: das
Verbot schützt die Freiheit aller Benutzer des Öffentlichen Nahverkehrs gegen
deren Annullierung durch einen einzelnen.
Wieso kommen »Soziologen« auf die Idee, in dem Verbot geruchsintensiver Speisen
einen »Versuch der regierenden Sozialdemokraten« zu sehen, »sich als
Law-and-Order-Kraft zu präsentieren«. Haben diese ignoranten Soziologen noch nie
etwas vom »Terror der Intimität« ihres berühmten New Yorker Kollegen Richard
Sennett gehört? Wieso ist der erfreuliche Mehrheitswunsch, den Öffentlichen Raum
zu respektieren, illiberal & warum wird der Vollzug des Mehrheitswunschs
pejorativ als »Law-and-Order« verunglimpft?
Wird von der SZ für »liberal« einzig gehalten, wenn jeder (wie in Brechts »Mahagonny«)
»alles dürfen darf« & wer die Gültigkeit der selbst gesetzten Regeln & Gesetze
einfordert, ein reaktionärer Rufer nach »Law-and-Order« ist? Offenbar denkt
keiner mehr über »Freiheit« & deren Grenzen oder über Selbstverwirklichung &
Selbstrespekt nach.
Nachdem der soziale Charakter-Typus des »traditionsgeleiteten« & des »innengeleiteten«
Menschen in der multikulturellen Moderne weitgehend verschwunden ist, bliebe –
in der Nomenklatur von David Riesmans »Einsamer Masse« - nur noch der soziale
Charakter des »außengeleiteten« Typus übrig. Gegen dessen besinnungslose
asoziale Ellbogenmentalität hülfe nur eine strikte Verteidigung der Gesetze,
Übereinkünfte & Verhaltenskodizes, die ein demokratisch-sozialen Umgangsverkehr
in unseren Gesellschaften regeln sollen.
Es hat fundamental einen Grund, warum die Wiener Verkehrsbetriebe, die befragten
Psychologen & Politologen über das (radikale) Ergebnis der Online-Umfrage nicht
nur erstaunt waren, sondern auch unfähig sind, es adäquat zu verstehen & zu
deuten. Der Grund ist die Inexistenz des »Öffentlichen Raums«. Im voll
entfalteten Kapitalismus (aus dem wir ja alle individuellen Nutzen ziehen!) ist
der »Öffentliche Raum« als gesellschaftspolitischer Begriff ebenso wie als
regulatives Faktum im urbanen Alltag nahezu vollständig verschwunden. Der
Öffentliche Raum gehört juristisch-politisch & ideell der Allgemeinheit der (Stadt-)Bürger.
Der »Öffentliche Raum« war einmal z.B. als Platz oder Straße so etwas wie die
Tabu-Zone der Gemeinden - im Gegensatz zum »privaten Raum« (wie z.B.
Privathäuser &-gärten oder Geschäfte im Besitz & Nutzungsrecht individueller
Bürger sind.) Der »Öffentliche Raum« war, zugleich als »Raum der
Öffentlichkeit«, allen zugänglich & nutzbar. Allerdings bedingte die
Funktionsfähigkeit als »Öffentlicher Raum auch von allen, die sich in (auf) ihm
befanden & bewegten, die selbstverständliche Verpflichtung gegenseitigen
Respekts & gegenseitige Rücksichtnahme beim gemeinsamen Benutzen & Aufenthalt im
Öffentlichen Raum. Das forderte notwendigerweise von allen individuelle
Einschränkungen – um nicht durch das eigene Verhalten das Verhalten jedes
anderen Teilhabers des Öffentlichen Raums zu tangieren, einzuschränken oder gar
zu annullieren. Der »Öffentliche Raum« ist gewissermaßen die freibleibende
Pufferzone zwischen den privaten individuellen Interessen aller
Gesellschaftsmitglieder.
Nun sind Öffentlicher & Privater Raum von jeher nicht zu jeder Zeit & an jedem
Ort vollständig von einander geschieden. Eher sind ihre Grenzen fließend, bzw.
verschiebbar. Wer einen Öffentlichen Raum für seine privaten Zwecke nutzen will,
muss den gewünschten Raum von der Stadt – der Sachwalterin der Öffentlichkeit –
erlauben lassen & mieten. Man sieht das sehr schön an der Ausbreitung der
Straßengastronomie. Deren Überschwemmung von in der Regel nicht besonders
breiten Trottoirs zwingt jedoch immer häufiger den Fußgängern Slalomgänge ab –
wiewohl der Fußgänger gewissermaßen auf dem eigenen, nämlich dem Öffentlichen
Raum, sich befindet. Nur haben ökonomische Privatinteressen ihn vermindert, weil
die Stadt ihn vermietet hat & damit ihr ökonomisches Interesse (meinetwegen auch
ihr sozialkulturelles Interesse an »Urbanisierung«) über die uneingeschränkte
Bewahrung des Öffentlichen Raums (des Trottoirs) stellt.
Über kurz eher als über lang wird unsere Gesellschaft - & nicht nur in dem
faktisch zuwuchernden Raum der Großstädte – über die absolut notwendige Funktion
des Öffentlichen Raums nachdenken müssen. Ich denke nur an den motorisierten
Individualverkehr oder das Parken von Autos auf Straßen & Fahrrädern auf
Fußgängerwegen. Das alles findet im ursprünglich »Öffentlichen Raum« statt. Er
ist mittlerweile derart individuell zugestellt, dass es nicht verwunderlich ist,
wenn keiner mehr an ihn denkt.
Die Aufzehrung des Öffentlichen Raums in seiner massenhaften
Individualprivatisierung ist ein weites Feld, das bis zum Horizont unseres
alltäglichen Lebens in den nächsten Jahren & Jahrzehnten reicht. Die Humoreske
des »Öffentlichen Nahverzehrs« ist da nur ein winziges & witziges Vorspiel für
eine Zukunft, die aber schon längst begonnen hat!
(Gelegentlich mehr dazu)
Artikel online seit 02.09.18
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