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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 



Iwan Sergejewitsch Turgenjew, 1859
public domain

Ich brauchʼ Tapetenwechsel, sprach die Birke

Seine Prosa kommt glasklar daher und verlangt trotzdem
nach einem Luchsauge. Selten hat ein Autor den Dialog mit
der Leserschaft derart auf Augenhöhe gesucht wie Iwan Turgenjew.

Eine Würdigung aus Anlass seines 200. Geburtstags

Von Christiane Pöhlmann

 

Die Versuchung ist groß zu behaupten, auch er habe sich in der Dämmerung davongemacht. Den Tapetenwechsel brauchte er auf jeden Fall, dieser vielgereiste Schriftsteller, der Russland geliebt und die Natur des Landes so wunderbar beschrieben, aber kaum in seinem Geburtsland gelebt hat. Deutschland schätze er als »zweites Vaterland«, wie er im Vorwort der deutschen Ausgabe von »Väter und Söhne« versicherte. Als Westler hat er sich bezeichnet, sich zu den Werten der Aufklärung bekannt. Beides führte dazu, dass er vor allem im deutschsprachigen Raum als Gegenspieler Dostojewskis aufgebaut wurde. Doch die Schublade, scheintʼs, passt nicht recht. Mehr noch: Bei der Interpretation von Turgenjews Werk erweist sich jeder Dualismus als unzulänglich.

Schon sein erster Erfolg, die »Aufzeichnungen eines Jägers«, hatte rasch ein Etikett weg: eine Anklageschrift gegen die Leibeigenschaft, das seien sie. Als Adliger hat Turgenjew die Gewalt, die gegen Leibeigene ausgeübt wurde, von klein auf beobachtet. Die Kälte und Brutalität seiner Mutter sind kein Geheimnis. Heutzutage würde die Diagnose in Turgenjews Fall vermutlich lauten: traumatisierte Kindheit mit Anklängen von Wohlstandsverwahrlosung. Sobald es ihm möglich war, ließ er denn auch seine Leibeigenen frei. Seine »Aufzeichnungen« sind dennoch kein flammendes Plädoyer für entsprechende Reformen. Reduzierte man sie darauf, blendete man ihren Facettenreichtum ebenso wie ihre Komplexität aus. Sie sind ein grandioser Bilderbogen des alten Russlands – wenn auch mit einer gewissen Waldschnepfenlastigkeit – und ein Denkmal, das der oralen Tradition gesetzt wird. In der »Beshinwiese« erzählen sich einige Jungen am Lagerfeuer Geschichten – und jeder von ihnen ist ein kleiner Odysseus. Vor allem aber entwerfen die »Aufzeichnungen« Psychogramme von Menschen unterschiedlicher Schichten. Im »Kreisarzt«, der Geschichte einer unerfüllten Liebe, geht es um das moralische oder konventionelle Korsett, das sich eine Frau anlegt und das sie hindert, sich ihrer Umwelt zu öffnen, Gefühle zuzulassen. Überhaupt sind verinnerlichte Hierarchien und Lebensmodelle Dreh- und Angelpunkt. Etliche Geschichten illustrieren, dass es eine Sache ist, Leibeigene freizulassen oder ihnen mit dem Recht auf Eheschließung eine gewisse Selbstbestimmung zuzugestehen, eine völlig andere aber, die neu gewährten Rechte auch zu nutzen. Mit Gesetzesänderungen allein, ließe sich paraphrasieren, ist es nicht getan, her muss eine Veränderung im Bewusstsein.

Da wirdʼs allerdings heikel. In seinem letzten Roman »Neuland« schildert Turgenjew, wie ein solcher Versuch scheitert, sei es, weil es an Aufrichtigkeit fehlt, sei es, weil es an einer gemeinsamen Sprache von ehemaligen Leibeigenen und Adligen mangelt. Einige Jahre nach der Bauernbefreiung 1861 hat sich am Status quo kaum etwas verändert. Turgenjew ist für diesen Roman heftig kritisiert worden. Ein Verräter an der revolutionären Bewegung sei er ... Dabei hat er eigentlich nur genau beobachtet. Die Augen offen gehalten.

Eklatant verhält es sich vor allem im russischen Raum auch mit der weiblichen Hauptfigur im »Adelsgut« (auch »Adelsnest«), Lisa. Sie wird meist als liebenswerte junge Frau von hoher moralischer Integrität charakterisiert, nicht selten fällt im Zusammenhang mit ihr der Begriff Entsagung, womit sie in Russland als idealtypische Frau galt – und gilt. Die Kritik an der religiösen Zwangsjacke, die aus Lisa letzten Endes eine bindungsunfähige, dogmatische und damit intolerante Frau macht, wird dabei häufig ausgeblendet. Turgenjew verrät seine Figur nicht, im Gegenteil, er setzt alles daran, ihr Sympathie zu erschreiben. Erst dadurch erhält der Roman seine Spannung und Lisas emotionale Verkrüppelung und charakterliche Deformation etwas Tragisches. Denn als sie und Fjodor sich kennenlernen, ist sie es, die Bedingungen stellt: Verzeih deiner untreuen Frau und bete. Und Fjodor, ein Atheist, versucht sogar, sich mit Lisas Kosmos vertraut zu machen, geht in die Kirche, aber ihre Welt bleibt ihm verschlossen. Im Gegensatz zu Lisa liebt er bedingungslos. Den religionskritischen Subtext des Romans betonte die sowjetische Literaturkritik eher verhalten. Mit dem großen Kino der Selbstaufopferung konnte er letztlich nicht mithalten. Die russische Verfilmung von 1969 führt exakt vor, was im Land der Gleichberechtigung der gar nicht so heimliche Stoff ist, aus dem die Träume sind. Von Männern und von Frauen.

Im Gegensatz zu Tolstoi und Dostojewski ist Turgenjew ein Autor, der in seinen Romanen keine Thesen formuliert. Von den »Brüdern Karamasow« trennen ihn Welten. Zwar haben auch Tolstoi und Dostojewski Figuren geschaffen, die ihrer eigenen Lebensanschauung widersprechen, in ihren Werken ist der Konflikt aber häufig explizit formuliert. Das trifft für Turgenjew nicht zu. Er bildet ab, schafft feinsinnig komplexe Welten und gibt kluge Hinweise. Diese mögen nicht explizit sein, beliebig sind sie deswegen noch lange nicht.

Vordergründig sind seine Themen Leibeigenschaft, Kunstfreiheit und Religionskritik. Den Konflikt Westler gegen Slawophile handelt er im Grunde selten ab und wenn doch, redet er nicht unbedingt Westlern das Wort. Für den großen Antagonisten Dostojewskis ist das erstaunlich. Der Roman »Väter und Söhne« gilt als literarisches Zeugnis dieses Konflikts. Die »Söhne« in Russland haben ihn damals nicht gut aufgenommen. Turgenjew verzerre ihr Anliegen, so die Maulerei, er werde dem Nihilismus nicht gerecht. Anders formuliert: Er ergriff nicht Partei für sie. Was er tut, ist, den Finger auf die Wunden gesellschaftlicher Umbrüche zu legen. Ein Urteil fällt er nicht. Allerdings deutet er für den Vater Nikolai eine Art Happy End an, heiratet dieser doch die Magd Fenitschka, mit der er bereits ein uneheliches Kind hat, und engagiert sich für Reformen. Das »Adelsgut« enthält einen der berühmtesten Dispute der russischen Literaturgeschichte zu dieser Frage, den Streit zwischen Panschin und Fjodor Lawrezki, Ersterer die Karikatur eines Westlers, Letzterer vielleicht Symbol oder Hoffnungsträger für einen dritten Weg, der beide Positionen aussöhnt.

Turgenjew ist ein trügerischer Autor, leicht zu genießen, aber schwer zu interpretieren. Er galt als schöner und umgänglicher Mann, und wer seine Texte liest, kann sich mühelos den Autor dahinter vorstellen. Wie er beispielsweise während seines Studiums in Berlin durch die Straßen zieht, um zusammen mit Kommilitonen einem verehrten Professor ein abendliches Ständchen zu bringen. Damals hielt man das so. Musik liebte Turgenjew sein Leben lang, vor allem Beethoven, und seine Romane gleichen an Kapitelenden oft einem verbalen Paukenschlag. Stets wird sein poetischer Realismus betont, sein Humor und seine Selbstironie darüber meist vergessen. Er sucht das Gespräch mit seiner Leserschaft, spricht sie an, wechselt flott von einem Soziolekt in den anderen. Immer wieder thematisiert er die Ratlosigkeit angesichts von Konflikten. Angesichts der Unmöglichkeit, alles und jeden auf einfache Oppositionen herunterzubrechen: gut oder böse, Westler oder Slawophiler, Freund oder Feind. Vielleicht kann er Leid deshalb ohne Kitsch und Rührseligkeit schildern. »Mumu« beweist das.

Bei Turgenjew lässt sich aus dem Vollen schöpfen. Man kann zu den bekannteren Erzählungen wie »Erste Liebe« greifen oder zu unbekannteren wie »Punin und Baburin« oder »Alte Porträts«. Manch Leseeindruck mag sich im Laufe der Zeit ändern. Aus persönlicher Erfahrung sei »Klara Militsch« genannt, die es von einem »Na ja« zu einem »Oho« geschafft hat. Naturschilderungen sollen ja manche abschrecken, doch da empfiehlt es sich unbedingt, bei diesem Meteorologen der russischen Literatur die Probe aufs Exempel zu machen. Allein schon die Birken. Symptomatisch mag allerdings sein, dass Turgenjew weniger die kontrastreiche Rinde betont, dies Weiß wie die Schneemassen des langen russischen Winters, dies Schwarz wie – angeblich – die Düsternis in der russischen Seele. In »Neuland« heißt es vielmehr zu einem Birkenhain: »Wie mattzarte silbrige Säulen, grau geringelt, standen dicht an dicht die Baumstämme. Die kleinen Blätter leuchteten hell und einmütig, als hätte jemand sie gewaschen und mit Lack bepinselt.«

In dieser Beschreibung ist alles enthalten, was die Turgenjewʼsche Prosa auszeichnet: Die klare, »wie gewaschene« Sprache, aber auch das Mattzarte, das Silbrig-Diffuse. Auf den ersten Blick erschließt sich gar nicht, was da alles vorhanden ist. Aber vorhanden ist es, unweigerlich, man muss nur genau hinsehen. Wie heißt es im »Adelsgut« am Ende? »Es gibt Augenblicke im Leben, Gefühle ... Auf sie kann man nur deuten – und weitergehen.« Und es gibt Bücher im Leben, bei denen sollte man innehalten.  

Artikel online seit 04.11.18
 

Iwan Turgenjew
Väter und Söhne
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
dtv
333
Seiten geb.,
26,00 €
978-3-423-28138-6



Iwan Turgenjew
Das Adelsgut
Aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann
Manesse
384
Seiten geb.,
25,00 €
978-3-7175-2448-9



Iwan Turgenjew
Li
ebesgeschichten
Hrsg. Ursula Keller u. Natalja Sharandak Insel Verlag
426
Seiten
10,00 €
978-3-458-36358-3
Leseprobe


[gute Zusammenstellung, enthält auch Storys aus den »Aufzeichnungen eines Jägers«]

Iwan Sergejewitsch Turgenjew, am 28.10. [09.11.] 1818 in Orjol geboren, am 22.08. [03.09.] 1883 in Bougival bei Paris gestorben. Unter großer Anteilnahme in St. Petersburg beigesetzt. 1838 geht er zum Studium nach Berlin, danach wechselt er häufig den Wohnsitz. Ein von der Zensur verbotener, von Turgenjew daraufhin anonym veröffentlichter Artikel über Gogol trägt ihm 1852 die Verhaftung und Verbannung auf sein Gut ein. Von 1856 an hält er sich fast ausschließlich im Ausland auf, häufig nimmt er seinen Wohnsitz dort, wo die Sängerin Pauline Viardot und ihr Mann leben. Der Sängerin blieb er sein Leben lang verbunden. Turgenjew schrieb sechs Romane, legte den Zyklus »Aufzeichnungen eines Jägers« und ein umfangreiches novellistisches bzw. kurzerzählerisches Werk vor. Im Westen hat er der russischen Literatur insgesamt eine Tür geöffnet. Er selbst verkehrte vor allem in französischen Schriftstellerkreisen, war aber auch mit deutschen Kollegen teils eng befreundet. Zu seinem Leben und Werk geben gut lesbare Auskunft: Peter Brang, »I. S. Turgenev. Sein Leben und Werk« (1977) und Horst-Jürgen Gerigk, »Turgenjew. Eine Einführung für den Leser von heute« (2015). Museen gibt es in Orjol, Moskau und Bougival.


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