Es gibt wenig
Gründe, das Buch eines Mannes in die Hand zu nehmen, der sich selbst
als »modernen Patrioten« bezeichnet, wie J.D. Vance das tut in
seinem New York Times Bestseller über die Frage, wie der
mittlerweile berühmte weiße Arbeiter in den Vereinigten Staaten
tickt, noch dazu eines Mannes, dem jedesmal die Tränen kommen, wenn
er Lee Greenwoods kitschige Hymne »Proud to be an American« hört,
auf die es doch keine bessere Replik gibt als das schöne »Proud to
be an asshole vom El Paso« von Kinky Friedman.
Aber das Buch »Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und
einer Gesellschaft in der Krise« von J.D. Vance gehört zu einem der
besten Sachbücher in diesem Jahr. Dass der Autor sich erst auf S.
219 zu den patriotischen Werten seines Landes bekennt, hätte ich ihm
normalerweise übel genommen, in diesem Fall muss man dankbar sein,
weil man sonst um einen tiefen Blick in die psychische Struktur des
Hillbillys gekommen wäre, die einem der Autor auf sehr präzise und
sehr unterhaltsame Weise nahebringt. Er kann das deshalb so gut,
weil er selbst diesem merkwürdigen Menschenschlag entstammt und in
einer Hillbilly-Familie die Hölle durchlaufen hat, die die meisten
Leute zu Verlierern prädestiniert und der zu entkommen es kaum eine
Chance gibt.
Das Buch ist keine soziologische Analyse und nur hin und wieder
zitiert der Autor eine meistens aufschlussreiche Statistik, die
seine Beobachtungen und Erinnerungen belegen. J.D. Vance beschreibt
einfach, wie er als Kind aufwächst und was er erlebt. Und das, was
er erzählt, spricht für sich. Man muss keine zehn Semester
Soziologie studiert haben, um zu begreifen, dass Leute mit diesem
biografischen Hintergrund nicht allzuviele Chancen haben, um ihrem
traurigen Leben zu entfliehen. Hillbilly ist der Hinterwäldler, der
in einer ländlichen, gebirgigen Gegend wie den Appalachen wohnt,
nicht viel zu sagen hat, und wenn, dann mit einem kaum
verständlichen Dialekt, der Whiskey trinkt und schnell zur Waffe
greift. Hier befindet sich das Kernland der Waffenlobby.
Viele Menschen zogen in den Siebzigern und Achtzigern in
Industrieregionen auf der Suche nach Arbeitsplätzen. Die Familie des
1984 geborenen J.D. Vance verschlug es nach Middletown in Ohio, und
wie der Name schon sagt, in eine Gegend, die so austauschbar war wie
der Stadtname, den es in fast allen Bundesländern gibt. Als der
Manufacturing Belt zum Rust Belt, also zum verrosteten alten Eisen
wurde, das in besseren Zeiten dort einmal verarbeitet wurde, saßen
viele Menschen, die in solche Städte wie Middletown gezogen waren,
fest. Ihre noch nicht abbezahlten Häuser waren plötzlich nichts mehr
wert, woanders hinzuziehen, war nicht mehr so einfach, also blieb
man und sah der Erosion der Stadt zu.
Diese Verwandlung von ehemals blühenden Städten in moderne Ruinen
wurde nirgends so sichtbar wie in Detroit. Die sozialen Folgen sind
in jeder Beziehung dramatisch, aufschlussreich aber ist vor allem
die psychologische Veränderung, die bei den Einwohnern solcher
Regionen vonstatten geht. Und hier entfaltet das Buch die
Qualitäten, die auch in Eribons »Rückkehr nach Reims« zu finden
sind. Aus Männern, deren Ethos in einem harten Arbeitstag in der
Stahlindustrie besteht, die daraus ihr Selbstwertgefühl ziehen und
die stolz sind auf die von ihnen geleistete Arbeit und ihre Stellung
innerhalb der Gesellschaft, werden zu Deklassierten, die jede Arbeit
nach kurzer Zeit wieder hinwerfen, die kapitulieren und egal in
welcher Angelegenheit dem Staat die schuld geben. Die Folge davon
ist jedoch nicht ein sozialrevolutionärer Prozess, sondern was sich
hier herausbildet, ist eine zutiefst reaktionäre Gesinnung. Aus dem
weißen Arbeiter als Stütze einer funktionierenden Gesellschaft, der
die Demokraten wählte, wird ein durch seine Unzufriedenheit
unberechenbar gewordener Reaktionär und Rassist, ein Wähler von
Donald Trump, weil der die Irrationalität ihres Lebens verkörpert
und Rache am verhassten Establishment verspricht. Und selbst wenn
diese Rache den eigenen Untergang bedeutete, würde man noch zu ihm
halten, obwohl Trump das komplette Gegenteil ihrer Interessen
vertritt. Und genau in dieser Zeit des Umbruchs ist J.D. Vance
aufgewachsen und hat wie ein Seismograph die kleinen und großen
Erschütterungen wahrgenommen, die sich direkt auf sein Leben
auswirkten.
Wahrscheinlich hätte J.D. Vance das gleiche Schicksal ereilt wie so
viele andere, die vor dem Alkoholismus, der Gewalt und dem Elend,
die sie umgeben, nicht mehr herausfinden, wenn ihm »Mamaw«, seine
Großmutter, nicht den Halt und die Sicherheit gegeben hätte, die
seine »Mom« ihm nicht bieten konnte, denn die hatte ein
Drogenproblem und ständig wechselnde Partner, ein Phänomen, das
nirgends sonst auf der Welt so weit verbreitet ist wie bei
amerikanischen Arbeiterfamilien. Und die daraus entstehenden
Konflikte sind so unfassbar bizarr, dass man nur ungläubig den Kopf
schütteln kann und sogar lachen muss, weil solche Geschichten ein
Licht auf Personen werfen, auf die Vance nie verächtlich
herabblickt.
So erzählt er, wie auf einer Autofahrt aus nichtigem Anlass ein
Streit zwischen ihm und seine Mutter eskaliert, wie seine Mutter am
Straßenrand anhält, um ihn zu verprügeln, wie er quer über die
Felder zu einem Haus rennt und die dort in einem Swimmingpool
liegende Frau um Hilfe anfleht, wie diese sich mit ihm im Haus
verbarrikadiert, wie die außer Rand und Band geratene Mutter die Tür
eintritt, um ihn herauszuholen, wie die Frau die Polizei anruft, die
die unzurechnungsfähige Mutter schließlich abführt, wie Vance
schließlich vor Gericht seine Mutter entlasten muss, damit sie nicht
hinter Gitter kommt, was gleichzeitig bedeutet, dass das
Schreckensszenario weitergeht. Wie seine Mutter eine Urinprobe von
ihm fordert, weil das Gesundheitsamt ihre Drogenabhängigkeit
überprüfen will. Wie seine Großeltern nach einem Gottesdienst mit
vorgehaltenen Schusswaffen jedes Auto durchsuchen, das den Parkplatz
verlassen will, weil sie glauben, ihr Enkel sei von einem
»Perversen« entführt worden, dabei ist der Enkel nur auf der
Kirchenbank eingeschlafen.
Von dieser Art sind die Episoden, die auf das Klima aus
Familienstreit und Gewaltexzesse, befeuert von Alkohol, ein Licht
werfen und deutlich machen, wie prädestiniert die Karrieren sind,
die Menschen in diesem Umfeld einschlagen: früh Kinder kriegen,
Drogen und Alkohol, Gefängnis. Umso erstaunlicher, dass der Autor es
trotzdem geschafft hat, dass er in der angesehenen Yale-University
schließlich Jura studierte und inzwischen als Investor arbeitet.
Oder vielleicht auch nicht so erstaunlich, denn er geht, weil ihm
nichts besseres einfällt, nach der Schule zum Militär. Und der
Drill, dem er während der Grundausbildung unterliegt, macht aus dem
übergewichtigen, pummeligen, antriebslosen Jüngling einen Menschen,
der nach seiner Militärzeit weiß, was er will und der es auch mit
einem neu erwachten, angestachelten Ehrgeiz auch schafft. Aus J.D.
Vance wird ein Mann, der ein Ziel vor Augen hat und es schließlich
auch erreicht, eine Familie zu gründen, ein Haus, einen guten Job
und eine tolle Frau zu haben, denn das ist es letztlich, was den
Menschen offenbar antreibt. Es ist nicht die Sehnsucht nach mehr
Gerechtigkeit, womöglich sogar nach einer Revolution, sondern es ist
home sweet home, weil Menschen wie J.D. Vance das immer vermisst
haben.
Das Militär als Erziehungsanstalt und die Familie als
Glücksversprechen war schon immer die meist letzte Zuflucht der
Verlierer, und das ist ziemlich deprimierend, aber es würde nichts
nützen, dieses Phänomen einfach zu ignorieren, denn immerhin haben
zumindest in diesem Fall diese Institutionen dazu beigetragen, dass
jemand sich in seinem Leben erfolgreich zurechtfindet, der zwar
Investor geworden ist, aber auch ein großartiger Buchautor, der
eindringlich und überzeugend zu beschreiben versteht, wie verloren
und depressiv dieser deklassierte weiße Arbeiter ist, aber auch wie
wenig er sich unterkriegen lässt.
Artikel
online seit 09.07.17
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J.D. Vance
Hillbilly-Elegie
Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gregor Hens
Ullstein, Berlin 2017
304 Seiten
22,00 €
9783550050084
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