Weil beim Mann auf Genuß Verdruß folgen muß, muß folgen, daß beim Weib
auf Treue Reue folgt.
Hysterie ist der legitime Rest, der vom Weibe bleibt, nachdem männliche
Lust ihre Deckung gefunden hat.
Mit dem Teufel Bekanntschaft machen, ohne in der Hölle zu braten, das
paßte so mancher.
Auch ein Kind und ein Weib können die Wahrheit sagen. Erst wenn ihre
Aussage von anderen Kindern und Weibern bestätigt wird, soll man an
ihrer Glaubwürdigkeit zu zweifeln beginnen.
Die Weiber sind nie bei sich und wollen darum, daß auch die Männer nicht
bei sich seien, sondern bei ihnen.
Das ist der ehrliche Erfolg der Frauenemanzipation, daß man dem Weib,
welches sich dem Handwerk eines Journalisten gewachsen zeigt, heutzutag
nicht mehr die verdiente Geringschätzung vorenthalten darf.
Es gibt Männer, die man mit jeder Frau betrügen könnte.
Der Voyeur besteht die Kraftprobe des natürlichen Empfindens; er setzt
die Lust, das Weib mit dem Mann zu sehen, gegen den Ekel durch, den Mann
mit dem Weib zu sehen.
Eine Moral, welche aus der Gelegenheit ein Geheimnis gemacht hat, hat
auch aus dem Geheimnis eine Gelegenheit gemacht.
Die schlecht verdrängte Sexualität hat manchen Haushalt verwirrt; die
gut verdrängte aber die Weltordnung.
Die Moralisten sträuben sich noch immer dagegen, daß der Wert der Frau
ihren Preis bestimme. Inzwischen bestimmt schon längst der Preis ihren
Wert, und damit wird keine Moral fertig.
Moral ist die Tendenz, das Bad mit dem Kinde auszuschütten.
Eine schöne Welt, in der die Männer die Erfüllung ihres
Lieblingswunsches den Frauen zum Vorwurf machen.
Die christliche Moral hat es am liebsten, daß die Trauer der Wollust
vorangeht und diese ihr dann nicht folgt.
Die Hand über die Augen – das ist die einzige Tarnkappe dieser
entzauberten Welt. Man sieht zwischen den Fingern alle, die sich nähern
wollen, und ist geschützt. Denn sie glauben einem das Nachdenken, wenn
man die Hand vorhält. Sonst nicht.
Welche Plage, dieses Leben in Gesellschaft! Oft ist einer so
entgegenkommend, mir ein Feuer anzubieten, und ich muß, um ihm
entgegenzukommen, mir eine Zigarette aus der Tasche holen.
Nicht grüßen genügt nicht. Man grüßt auch Leute nicht, die man gar nicht
kennt.
Im neuen Leben muß irgendwie ein Mißverhältnis zwischen Angebot und
Nachfrage begründet sein. Es wäre sonst nicht möglich, daß so häufig ein
sokratisches Gespräch von der Frage unterbrochen wird, ob man eine
Zahnbürste kaufen wolle.
Es berührt wehmütig zu sehen, wie die individuelle Arbeit überall von
der maschinellen verdrängt wird. Nur die Defloratoren gehen noch umher,
das Haupt erhoben, von ihrer Unersetzlichkeit überzeugt. Genau so haben
vor zwanzig Jahren die Fiaker gesprochen.
Mit Leuten, die das Wort »effektiv« gebrauchen, verkehre ich in der Tat
nicht.
Einem, den das Leben mit Tücken verfolgen mußte, weil es ihm nicht
gewachsen war, machten sie einen Vorwurf aus ihrer Gemeinheit.
Es gibt Menschen, die es zeitlebens einem Bettler nachtragen, daß sie
ihm nichts gegeben haben.
Eher verzeiht dir einer die Gemeinheit, die er an dir begangen, als die
Wohltat, die er von dir empfangen hat.
Der Ekel findet mich unerträglich. Aber wir werden erst auseinandergehen,
wenn auch ich von ihm genug bekomme.
Es paßt mir nicht länger, unter einer Bevölkerung zu leben, die es weiß,
daß ich vor zehn Jahren ein Gemüse bestellt habe, das nicht eingebrannt
war, und die noch dazu das Gemüse nicht nach mir, sondern mich nach dem
Gemüse benennt.
Des Übels größtes ist der Zwang, an die äußeren Dinge des Lebens, die
der inneren Kraft dienen sollen, eben diese zu verplempern.
Menschen, Menschen san mer alle – ist keine Entschuldigung, sondern eine
Anmaßung.
Einmal, wenn mir gerade nichts einfallen wird und Gefahr besteht, daß
die Geselligkeit in mein Hirn dringt, werde ich mich erschießen.
Manchmal spüre ich etwas wie eine Ahnung von Menschenliebe. Die Sonne
lacht, die Welt ist wieder jung, und wenn mich heut einer um Feuer
bitten tät, ich bin imstand, ich weiß nicht, ich ließet mich nicht lang
bitten, und geberts ihm!
Dem Bedürfnis nach Einsamkeit genügt es nicht, daß man an einem Tisch
allein sitzt. Es müssen auch leere Sessel herumstehen. Wenn mir der
Kellner so einen Sessel wegzieht, auf dem kein Mensch sitzt, spüre ich
eine Leere und es erwacht meine gesellige Natur. Ich kann ohne freie
Sessel nicht leben.
Die Woche lang mag man sich vor der Welt verschließen, aber es gibt ein
penetrantes Sonntagsgefühl, dem man sich in einem Kellerloch, auf einer
Bergspitze, ja selbst in einem Lift nicht entziehen kann.
Restaurants sind Gelegenheiten, wo Wirte grüßen, Gäste bestellen und
Kellner essen.
Ich halte es viel länger mit der Langeweile aus, als sie mit mir.
Das ist doch der, der geglaubt hat, daß ich vergessen habe, daß ich ihn
nicht kenne!
Sollte man, bangend in der Schlachtordnung des bürgerlichen Lebens,
nicht die Gelegenheit ergreifen und in den Krieg desertieren?
Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt,
Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung.
Gemütlich bin ich selbst.
Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können – das macht den
Journalisten.
Demokratisch heißt jedermanns Sklave sein dürfen.
Kinder psychoanalytischer Eltern haben es schwer. Als Säugling muß es
zugeben, daß es beim Stuhlgang Wollustempfindungen habe. Später wird es
gefragt, was ihm dazu einfällt, wenn es auf dem Weg zur Schule der
Defäkation eines Pferdes beigewohnt hat. Man kann von Glück sagen, wenn
so eins noch das Alter erreicht, wo der Jüngling einen Traum beichten
kann, in dem er seine Mutter geschändet hat.
Gute Ansichten sind wertlos. Es kommt darauf an, wer sie hat.
Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten.
Bildung ist das, was die meisten empfangen, viele weitergeben und wenige
haben.
Man soll nicht mehr lernen, als man unbedingt gegen das Leben braucht.
Wäre Wissen eine Angelegenheit des Geistes, wie wär’s möglich, daß es
durch so viele Hohlräume geht, um, ohne eine Spur seines Aufenthaltes zu
hinterlassen, in so viele andere Hohlräume überzugehen.
Die Welt ist taub vom Tonfall. Ich habe die Überzeugung, daß die
Ereignisse sich gar nicht mehr ereignen, sondern daß die Klischees
selbständig fortarbeiten. Oder wenn die Ereignisse, ohne durch die
Klischees abgeschreckt zu sein, sich doch ereignen sollten, so werden
die Ereignisse aufhören, wenn die Klischees zertrümmert sein werden. Die
Sache ist von der Sprache angefault. Die Zeit stinkt schon von der
Phrase.
Wie kommt es denn, daß der liberale Inhalt keine andere Sprache findet
als dieses entsetzliche seit Banalitätsäonen millionenmal ausgespuckte
Idiom? Daß man sich den Phönix nur noch als Versicherungsagenten
vorstellen kann und den Genius der Freiheit nur noch als schäumenden
Börsianer.
Die Häßlichkeit der Jetztzeit hat rückwirkende Kraft.
Der Künstler lasse sich nie durch Eitelkeit zur Selbstzufriedenheit
hinreißen.
Wenn ich über sie zu schreiben habe, zweifle ich an der Sonne Klarheit,
von der ich überzeugt bin.
Die meisten Schreiber sind so unbescheiden, daß sie immer von der Sache
sprechen, wenn sie von sich sprechen sollten.
Was vom Stoff lebt, stirbt vor dem Stoffe. Was in der Sprache lebt, lebt
mit der Sprache.
Der Sinn nahm die Form, sie sträubte und ergab sich. Der Gedanke
entsprang, der die Züge beider trug.
Die Sprache ist die Mutter, nicht die Magd des Gedankens.
Weil ich den Gedanken beim Wort nehme, kommt er.
Der Gedanke ist in der Welt, aber man hat ihn nicht. Er ist durch das
Prisma stofflichen Erlebens in Sprachelemente zerstreut: der Künstler
schließt sie zum Gedanken.
Der Gedanke ist ein Gefundenes, ein Wiedergefundenes. Wer ihn sucht, ist
ein ehrlicher Finder, ihm gehört er, auch wenn ihn vor ihm schon ein
anderer gefunden hätte.
Einer, der Aphorismen schreiben kann, sollte sich nicht in Aufsätzen
zersplittern.
Ein Gedankenstrich ist zumeist ein Strich durch den Gedanken.
In der Kunst kommt es nicht darauf an, daß man Eier und Fett nimmt,
sondern daß man Feuer und Pfanne hat.
Ich warne vor Nachdruck. Meine Sätze leben nur in der Luft meiner Sätze:
so haben sie keinen Atem. Denn es kommt auf die Luft an, in der ein Wort
atmet, und in schlechter krepiert selbst eines von Shakespeare.
Wer von Berufswegen über die Gründe des Seins nachdenkt, muß nicht
einmal so viel zustandebringen, um seine Füße daran zu wärmen. Aber beim
Schuhflicken ist schon manch einer den Gründen des Seins nahe gekommen.
Im Epischen ist etwas von gefrorner Überflüssigkeit.
Moderne Architektur ist das aus der richtigen Erkenntnis einer fehlenden
Notwendigkeit erschaffene Überflüssige.
Ich habe gegen die Romanliteratur aus dem Grunde nichts einzuwenden,
weil es mir zweckmäßig erscheint, daß das, was mich nicht interessiert,
umständlich gesagt wird.
Sie legen ihm die Hindernisse in den Weg, von denen er sie befreien
wollte.
Die beste Methode für den Künstler, gegen das Publikum Recht zu
behalten, ist: da zu sein.
Kokoschka hat ein Porträt von mir gemacht. Schon möglich, daß mich die
nicht erkennen, die mich kennen. Aber sicher werden die mich erkennen,
die mich nicht kennen.
Berlin und Wien: Im Wesenlosen schaffe ich, woran mich das Unwesen
hindert.
In Wien stellen sich die Nullen vor die Einser.
Was Berlin von Wien auf den ersten Blick unterscheidet, ist die
Beobachtung, daß man dort eine täuschende Wirkung mit dem wertlosesten
Material erzielt, während hier zum Kitsch nur echtes verwendet wird.
Wahrlich, ich sage euch, eher wird sich Berlin an die Tradition gewöhnen
als Wien an die Maschine.
Ich kenne ein Land, wo die Automaten Sonntagsruhe haben und unter der
Woche nicht funktionieren.
Der Teufel ist ein Optimist, wenn er glaubt, daß er die Menschen
schlechter machen kann.
Die Mystiker übersehen manchmal, daß Gott alles ist, nur kein Mystiker.
Der Unsterbliche erlebt die Plagen aller Zeiten.
Ein Schein von Tiefe entsteht dadurch, daß ein Flachkopf zugleich ein
Wirrkopf ist.
Ich möchte mein Dasein von ihrem Dabeisein sondern.
Schein hat mehr Buchstaben als Sein.
Ein Original ist heute, wer zuerst gestohlen hat.
Ein Plagiator sollte den Autor hundertmal abschreiben müssen.
Die jungen Leute sprechen so viel vom Leben, weil sie es nicht kennen.
Es würde ihnen die Rede verschlagen.
Haß muß produktiv machen, sonst ist es gleich gescheiter, zu lieben.
Es ist die äußerste Undankbarkeit, wenn die Wurst das Schwein ein
Schwein nennt.
Manche haben den Größenwahn verrückt zu sein und sind nur
untergeschnappt.
Ich bin nicht für die Frauen, sondern gegen die Männer.
Auch der Wurm krümmt sich, wenn er getreten wird. Wenn er aber von einem
Wachmann getreten wird, begeht er öffentliche Gewalttätigkeit.
Eine der verbreitetsten Krankheiten ist die Diagnose.
Sein Lachen ist ein Regulativ des Irrsinns der Welt.
Und wenn die Erde erst ahnte, wie sich der Komet vor der Berührung mit
ihr fürchtet!
Weh der Zeit, in welcher Kunst die Erde nicht unsicher macht und vor dem
Abgrund, der den Künstler vom Menschen trennt, dem Künstler schwindlig
wird und nicht dem Menschen!
Der Fortschritt macht Portemonnaies aus Menschenhaut.
Es ist Lohn genug, unter dem eigenen Rad zu liegen.
Ich habe keine Mitarbeiter mehr. Ich war ihnen neidisch. Sie stoßen mir
die Leser ab, die ich selbst verlieren will.
Ich hätte Lampenfieber, wenn ich mit jedem einzelnen von den Leuten
sprechen müßte, vor denen ich spreche.
Viele, die in meiner Entwicklung zurückgeblieben sind, können
verständlicher aussprechen, was ich mir denke.
Ungerechtigkeit muß sein, sonst kommt man zu keinem Ende.
Zu meinen Glossen ist ein Kommentar notwendig. Sonst sind sie zu leicht
verständlich.
Die Welt will, daß man ihr verantwortlich sei, nicht sich.
Ein Satz kann nie zur Ruhe kommen. Nun sitzt dies Wort, denke ich, und
wird sich nicht mehr rühren. Da hebt das nächste seinen Kopf und lacht
mich an. Ein drittes stößt ein viertes. Die ganze Bank schabt mir
Rübchen. Ich laufe hinaus; wenn ich wiederkomme, ist alles wieder ruhig;
und wenn ich unter sie trete, geht der Lärm los.
Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.
Ich nähre mich von Skrupeln, die ich mir selbst bereite.
Frage deinen Nächsten nur nach Dingen, die du selbst besser weißt. Dann
könnte sein Rat wertvoll sein.
Nur in der Wonne sprachlicher Zeugung wird aus dem Chaos eine Welt.
In mir empört sich die Sprache selbst, Trägerin des empörendsten
Lebensinhalts, wider diesen selbst. Sie höhnt von selbst, kreischt und
schüttelt sich vor Ekel. Leben und Sprache liegen einander in den
Haaren, bis sie in Fransen gehen, und das Ende ist ein unartikuliertes
Ineinander, der wahre Stil dieser Zeit.
Meine Sprache ist die Allerweltshure, die ich zur Jungfrau mache.
Ich mische mich nicht gern in meine Privatangelegenheiten.
Ich arbeite Tage und Nächte. So bleibt mir viel freie Zeit. Um ein Bild
im Zimmer zu fragen, wie ihm die Arbeit gefällt, um die Uhr zu fragen,
ob sie müde ist, und die Nacht, wie sie geschlafen hat.
Das Leben ist eine Anstrengung, die einer besseren Sache würdig wäre.
Die Blinden wollen nicht zugeben, daß ich Augen im Kopfe habe, und die
Tauben sagen, ich sei stumm.
Ich lasse mich nicht hindern zu gestalten, was mich hindert zu
gestalten.
Wenn ich die Feder in die Hand nehme, kann mir nichts geschehen. Das
sollte sich das Schicksal merken.
Aussprechen, was ist – ein niederer Heroismus. Nicht daß es ist, sondern
daß es möglich ist: darauf kommt es an. Aussprechen, was möglich ist!
Wer vom Buchstaben lebt, kann vom Buchstaben sterben, ein Versehen oder
der Intellekt des Setzers rafft ihn hin.
Ich strebe inbrünstig nach jener seelischen Kondition, in der ich, frei
von aller Verantwortung, die Dummheit der Welt als Schicksal empfinden
werde.
Sexuelle Aufklärung ist insoweit berechtigt, als die Mädchen nicht früh
genug erfahren können, wie die Kinder nicht zur Welt kommen.
Viele Herren, denen ich den Laufpaß gegeben habe, haben sich dadurch in
ihren weiblichsten Empfindungen verletzt gefühlt.
Das Weib nimmt einen für alle, der Mann alle für eine.
Menschsein ist irrig.
Der Mann bildet sich ein, daß er das Weib ausfülle. Aber er ist nur ein
Lückenbüßer.
Den hier ausgwählten Aphorismen liegt die Ausgabe: Karl Kraus, Schriften; Erste Abteilung,
Band 8, Aphorismen, herausgegeben von Christian Wagenknecht zugrunde.
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Karl
Kraus
Die letzten Tage der Menschheit
Tragödie in
fünf Akten mit Vorspiel und Epilog
Reihe Österreichs Eigensinn - 800 Seiten, gebunden
€ 28,– / sFr 38,20, WG 1111
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978-3-99027-006-6
»Wer ihn gehört
habe, der wolle nie mehr ins Theater gehen, das Theater sei
langweilig verglichen mit ihm, er allein sei ein ganzes Theater,
aber besser, und dieses Weltwunder, dieses Ungeheuer, dieses Genie
trug den höchst gewöhnlichen Namen Karl Kraus.« Elias Canetti
Die Fackel
online als gratis Volltext
Die 922 Nummern und rund 22.500 Seiten der vom
österreichischen Schriftsteller Karl Kraus 1899 gegründeten Zeitschrift
"Die Fackel" sind ab sofort dank eines Projekts des Austrian Academy
Corpus der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) online
abrufbar.
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Getestet, und es funktioniert. |