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 Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik



Petits riens (47)
Von Wolfram Schütte

    


© R. Reifenrath

Undiplomatische Kollateralschäden Man ist versucht, den Titel einer rund 150 Jahre alten Komödie des russischen Dramatikers Alexander Ostrowski zu zitieren, wenn man an zwei öffentliche Dummheiten usamerikanischer  Präsidenten der Gegenwart denkt: an Obamas vollmundige Behauptung, nach dem Zusammenbruch der UdSSR  sei  Russland nun keine Welt-, sondern nur noch eine Regionalmacht & Joe Bidens Satz am Ende seiner Warschauer Rede über den »Kriegsverbrecher« Putin: »Dieser Mann darf nicht bleiben!«.

Dergleichen kann man sich als (Welt-)Politiker denken, aber nicht sagen – wenn man nicht die Existenz der Diplomatie annullieren will. Dennoch ist es wohl nicht die »Eine Dummheit, die auch der Gescheiteste macht«, die Ostrowski meinte. Ich sehe sie eher als psychische Kollateralschäden einer allgemeinen öffentlichen Verhaltensweise, die sich auf ihre »Offenheit«, Lax-& Direktheit, jederzeit »alles sagen« zu können, was einem durch den Kopf geht, etwas zugutehält. Die »Sozialen Netzwerke« sind deren Ausdruck.                                           
                                     *

Das Undenkbare oder der Ernstfall Über mehrere Jahrzehnte hatten wir ein alleinstehendes Wochenendhaus in einem ca. 300qm großen Zaun umgürteten Garten. Unmittelbar vor unserem 3Zimmer großen Bungalow-Häuschen parkten wir unser Auto. Rundum keine Menschenseele.

Selbstverständlich schlossen wir nachts – »den gestirnten Himmel über uns«- jahrzehntelang weder die Keller- noch die Haustür ab, nachdem wir abends die Holzläden nur zur Verdunkelung vor die Fenster zusammengelegt hatten.

Zwar war während unserer Abwesenheit unter der Woche schon zweimal im Haus eingebrochen worden: mit minimalen Schäden & pfiffigen Einstiegen & Entwendungen. Meine Theorie war: solange ein gewöhnlicher Einbrecher durch das geparkte Auto sieht, dass wir im Haus sind, wird er das Grundstück nicht betreten. Wenn aber nicht: dann ist das »der Ernstfall«, will sagen: potentiell lebensbedrohend. Mit dem Überschreiten der »Roten  Linie« zur lebensbedrohenden  Situation »rechneten« wir aber nie.

Bis wir eines Abends von einem Besuch bei Freunden im Landkreis zurückkehrten & vorm Hauseingang noch zu einem Absacker im Vollmondschein saßen & meine Frau plötzlich behauptete, ein ungewöhnliches Geräusch auf dem Nachbargrundstück hinter einem Drahtzaun gehört zu haben. Sie ging ins Haus, holte eine Stablampe & leuchtete ins Nachtbargrundstück. Im Lichtkegel war ein junger Mann zu sehen, der flach auf dem Boden lag & laut verlangte: »Mach das Licht aus!« – was sie auch ohne Widerrede sofort tat.

Daraufhin saßen wir noch einen Augenblick vor unserem Hauseingang (um uns, aber auch dem Fremden gegenüber »Normalität« zu simulieren), bevor wir ins Haus gingen, diesmal aber die Tür verschlossen & die Holzläden an einigen der insgesamt 7 Fenster fest verhakten.

In der Annahme, wir hätten die Einbrecher bei ihrem Versuch überrascht, während unserer Abwesenheit tätig zu werden, aber nun vertrieben, legten wir uns »seelenruhig« ins Bett, lasen noch ein  paar Minuten, bevor wir das Licht im Schlafzimmer  löschten. Da hörten wir im Dunkel außerhalb das Hauses Geräusche: »der Notfall« war da, an den wir – trotz alledem – immer noch nicht glauben wollten.

Anziehen, im Dunkel zur Küche schleichen, sich mit allen nur möglichen großen Messern bewaffnen & in den Sesseln des Wohnzimmers auf einen Angriff in unserer verschlossenen »Burg« wartend, war eins; dass wir – in Angst, Wut & aufs Äußerste gespanntem Verteidigungswillen erregt - im Laufe der Nacht einschliefen, das andere.

Als wir am Morgen darauf im hellsten Sommer-Sonnenschein wagten, die Läden & die abgeschlossene Haustür zu öffnen, sahen wir bewusst gesetzte Zeichen derer, die uns nachts belagert hatten. Z.B. waren die Scheibenwischer des Autos hochgestellt.

Danach hatte das Wochenendgrundstück seinen Charme der Unschuld, des gefahrlosen Idylls verloren. Alle Türen wurden nun abends abgeschlossen, alle Fenster mit Läden verbarrikadiert & im Haus lag zur Nachtzeit ein Handy – das einzige, das wir je (& nur dafür!) gekauft haben.

An das Erlebnis dieses nie geklärten, ebenso schockierenden wie doch materiell harmlosen Vorfalls aus der Zeit der Jugoslawien-Kriege musste ich dieser Tage immer wieder denken, als die russische Armee rund um die Ukraine angeblich nur Manöver abhielt, bis sie dann (obwohl der US-Geheimdienst & Sattelitenaufnahmen es permanent  prognostizierten) zur Überraschung fast aller in die Ukraine kriegerisch einfiel.

Palmströms berühmter Wunsch, »dass nicht sein kann, was nicht sein darf«, bzw. es wider alle Anzeichen doch nicht so sein oder kommen möge, war so übermächtig, dass »Die unmögliche Tatsache« (Morgenstern) als russischer Tat Sache möglich wurde. Das »Undenkbare« – womit weltpolitisch die gegenseitige atomare Auslöschung gemeint & zugleich sprachlich tabuisiert war – hatte Putin im Schatten der bislang beiderseits respektierten Funktionalität qua gegenseitiger Erpressung »denkbar« gemacht - & gleich mehrfach mit einem atomaren Angriff gedroht, wenn der Westen die Ukraine wirkmächtig unterstütze  Damit wurde das jahrzehntelang intakte System der Balance wechselseitiger Abschreckung unterminiert. D.h. man bemerkte: der Status quo »funktioniert« nur – solange nicht einer von beiden sich für tollkühn hält oder suicidal ist, bzw. beides zugleich. Meine private Theorie, wonach die Anwesenheit unsres Autos auf dem einsam gelegenen Grundstück abschreckend auf potentielle Einbrecher (Grenzüberschreiter) wirke, war offenbar in der Form einer kollektiven Theorie, bzw. als Praxis für das politische Konfliktfeld der bipolaren Welt an ein Ende gekommen.

                                   *

Koinzidenzialer Gipfel –Ich habe ja schon viele Koinzidenzen erlebt. So nenne ich wunderliche Ereignisse des Lebens, die (Aber-)Gläubigen jeglicher Couleur als (göttliche) Zeichen & Wunder oder gar als Offenbarungen eines »geheimen« Sinns erscheinen könnten oder würden.
Aber die jüngste Koinzidenz übertrifft alle früheren. Bis dieser Tage kannte ich den Namen Cherson nicht, wusste auch nicht, dass es eine Hafenstadt nordwestlich der Krim ist, die sogleich nach dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine von russischen Truppen besetzt wurde. Im Zusammenhang mit den wiederholten Nachrichten über die Tragödie Mariupols wurde der Name Chersons wohl ein-, zweimal genannt – ohne dass man ihn sich, z.B. wg. besonderer Vorkommnisse, gemerkt hätte.
Wegen der Erinnerung an einzigartige Naturevokationen Jean Pauls vor allem in seinem Erfolgsroman »Hesperus« griff ich - wohl an einem Tag, als der Name Chersons in den Ukraine-Nachrichten fiel - nach dem Roman.
Beides hatte nichts miteinander zu tun, bzw. das eine motivierte oder initiierte nicht das andere.

Ich besitze den »Hesperus« nur noch antiquarisch in einer Erstausgabe der 3.Auflage (in die ich bisher noch nie einen Blick geworfen hatte). Abweichend von meinem üblichen Lesevorgang, hatte ich diesmal auch nicht die Vorrede zur dritten Auflage, sondern nur die Vorrede der 1.Auflage wieder gelesen. Sie ist unter JP-Kennern wegen mehrerer Passagen berühmt, die wohl in jeder Darstellung der ästhetischen Eigenarten des Schriftstellers zitiert werden. Eine dieser Passagen hebt damit an:

»Ja, es wird zwar ein anderes Zeitalter kommen, wo es licht wird, und wo der Mensch aus erhabenen Träumen erwacht und die Träume – wieder findet, weil er nichts verlor als den Schlaf.-
Die Steine und Felsen, welche zwei eingehüllte Gestalten, Notwendigkeit und Laster, wie Deukalion und Pyrrha hinter sich werfen nach den Guten, werden zu neuen Menschen werden.-

Und auf dem Abendthore dieses Jahrhunderts steht: Hie geht der Weg zur Tugend und Weisheit; so wie auf dem Abendthor zu Cherson die erhabene Inschrift steht: Her geht der Weg nach Byzanz.--«

Selbstverständlich habe ich die Stelle bei der ersten Lektüre »überlesen« – ohne zu wissen, was Cherson ist & seine Erwähnung in einem Buch, das dem »Hinterwäldler« JP in die Hände gefallen war, wohl nur der Inschrift über seinem westlichen Stadttor verdankt, die auf Byzanz (Istanbul) verweist. Der Kuriositäten-Sammler JP hatte diese auf einer seiner Lektüre-Reisen gefunden & in eine seiner zahlreichen Zitatsammlungen gehortet. Ganz sicher hat er nicht gewusst, wo Cherson liegt – genauso wie ich, gäbe es nicht den russischen Krieg in der Ukraine.  

Wenn man sich so umfassend & vielfältig vor Augen stellt, was alles geschehen musste, auf dass der Name Cherson zu Jean Paul im 18.Jahrhundert & jetzt zu mir kam - & vor allem beides zeitsynchron »enggeführt« wurde, damit es  koinzidenziell aufleuchtete: - dann erscheint einem für dieses wunderliche Ereignis das Wort »Zufall« empörend falsch, weil ignorant gegenüber der scheinbar einzigartig-überwältigenden Sinnfälligkeit des Ereignisses. Offenbar (oder nur möglicherweise?) sind wir anthropologisch, bzw. mental nicht in der Lage, das Staunen über die schockartige (An-)Erkenntnis der Koinzidenz anders denn als metaphysisch bedingt anzunehmen/auszuhalten. (Letzteres im Sinne von Nietzsches Aphorismus: Wieviel Wahrheit wagt oder erträgt der Mensch?)

(P.S. bis zu den gesuchten »Hesperus«-Stellen bin ich gar nicht mehr, durch den Cherson-Fund ins Sinnieren verfallen, lesend vorgestoßen.)

Artikel online seit 20.04.22
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen dieser flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

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