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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Petits riens (dreizehn)

Von Wolfram Schütte


Foto: © Roderich Reifenrath

Die kleine Differenz – Wie leicht passiert es einem heute wieder bei uns,  dass man der »Äquidistanz« verdächtigt wird, wenn man z.B. »den Westen« oder die USA oder Israel mit deren politischen Gegnern oder gar Feinden »vergleicht«. Dabei ist es doch oft so, dass man damit nur »vor der eigenen Tür kehren will«!

Ich frage mich, ob der Automatismus dieses Verdachts bei derlei (Selbst-)Kritik nicht bereits ein Anzeichen des grassierenden Nationalismus ist. Es gab eine Zeit in der frühen Bundesrepublik (vor allem in der »Adenauerzeit«), da musste jeder, der ein kritisches Wort gegen die BRD richtete, sich erst einmal verbal von »den Kommunisten« distanzieren – als hätten nur »Kommunisten« überhaupt auf die Idee kommen können, bei der Bundesrepublik »ein Haar in der Suppe zu finden«. Als ob »in die gleiche Kerbe schlage«, wer »das eigene Nest beschmutze«, weil das ja nur dem Feind dienen könne. Ein Selbstkritiker, der das Eigene mit dem Fremden »vergleiche«, stelle sich arroganterweise sowohl außerhalb des eigenen als auch oberhalb der beiden miteinander kritisch verglichenen Länder. Er nehme mithin  die gleiche Distanz zu beiden ein.

Was mitnichten automatisch der Fall sein muss, wenn man einen solchen »Vergleich« wagt, um Selbstgerechtigkeit zu kritisieren. Wem jedoch dabei automatisch »Äquidistanz« wittert, fürchtet unausgesprochen, das hehre, »reine« Eigene werde dadurch »beschmutzt«, bzw. mit dem Fremden, politisch Antipodischen »infiziert«.

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Literarische Bodenlosigkeit. -In der deutschen Zusammenfassung eines Gesprächs, das eine große ungarische Zeitung mit dem Komponisten Peter Eötvös & dem Schriftsteller Peter Esterhazy über deren gemeinsames Projekt eines Oratoriums geführt hat, sprechen beide Künstler über ihren kompositorischen Umgang mit historischen Zitaten, die sie in ihrem gemeinsamen Werk verwenden wollen. So will der Komponist Hallelujas von Monteverdi, Mozart, Bruckner, Händel u.a. fragmentarisch & zitathaft aufrufen. Die Musik könne Zitate »organischer verwenden als die Prosa«, behauptet Esterhazy, dessen Romane weitgehend aus der Verwendung prosaischen Fremdmaterials bestehen. «Aber wenn wir darauf bauen«, fährt der Schriftsteller fort, »dass wir sie erkennen sollen, enden wir leicht in einem Quiz. Die Frage« (der Verwendung von Zitaten) «kann noch schärfer gestellt werden, weil das mit den neuen Strukturen der Bildung zusammenhängt und  weil es heutzutage keinen Kanon (der Bildung) mehr gibt: Was passiert, wenn der Leser nichts wiedererkennt? Wie funktioniert jener Text, der gerade darauf baut?«.

Esterhazys Frage stellt sich nicht nur bei seiner zitatreichen Prosa. Sie fragt generell, was sich ergibt, wenn z.B. die literarische Anspielung nicht mehr wahrgenommen wird, in der entweder unbewusst das zeitgenössische soziale/kulturelle Milieu des Autors sich reflektiert oder die der Autor bewusst oder spielerisch der Textur seiner Prosa eingewoben hat: in der selbstverständlichen Annahme, dass sie der findige & kundige Leser erkennt, weil sie dem Kanon allgemeiner literarischer oder kulturhistorischer Kenntnisse entnommen ist, den beide miteinander teilen. Ebenso prekär kann es aber für das »uneigentliche«, mithin ironische Sprechen werden, wenn das Zitathafte, sprich Imitierte nicht mehr als solches identifiziert wird.

Das ist ein weites Feld: für ausschweifende spekulative Überlegungen zur Rezeptionsästhetik. Es tangiert vor allem die avancierteste Prosa, die »polyphon«, nuancen- & metaphernreich auf einen komplexen, vielstimmigen Leseprozess angelegt ist & gewissermaßen als Resonanzboden unterschiedlichster, gleichzeitiger, assoziativ erschließbarer Stoffe & deren Varianten abzielt (z.B. Arno Schmidts »Caliban über Setebos«)

Für solche »Artisten in der Zirkuskuppel« sind nicht nur die Trapeze notwendig, sondern auch der feste Boden eines Kanons, über dem sie ihre gewagten, brillanten Luftnummern ausführen, von dem aus sie sich in die Lüfte erheben & am Ende wieder zurückkehren. Das Verschwinden des Kanons als Triumph einer ultimativen »demokratischen« Errungenschaft anzusehen, habe ich nie verstanden; oder doch nur als Triumph einer bodenlosen Dummheit, die stolz darauf ist, »kritisch« das Kinde mit dem Bade aus zu schütten. Den kulturhistorischen Traditionsbestand per se zu ignorieren, bzw. für obsolet zu erklären, heißt sich um historisch gewonnene & erhalten-überlieferte Erkenntnisse & Genüsse zu bringen – statt, wie das jede kräftige Generation oder Zeit bisher getan hat, den Kanon des Tradierten jeweils im Lichte ihrer Gegenwart zu befragen & zu testen, also produktiv mit ihm umzugehen.

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Sprich, Erinnerung, sprich - »Frohburg«, der Name der Stadt nahe Leipzig, in der Guntram Vesper 1941 geboren wurde & die er 1957 mit seiner Familie verließ, ist nun der Titel der jüngsten autobiographischen »Niederauffahrt« (Manganelli) einer ganzen Reihe deutschsprachiger literarischer Monumental-Memoriale der letzten Jahre. Der heute in Göttingen lebende Autor hatte sich  dazu einige Jahre »tief im Brunnen der Vergangenheit« (Thomas Mann) aufgehalten & mehr als 1000 Seiten daraus geschöpft, für die er 2016 den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt.

Guntram Vesper, der schon 1979 mit den Erzählungen »Nördlich der Liebe und südlich des Hasses« ein bewundernswerter, vielversprechender Prosaist gewesen war, jedoch für die große literarische Öffentlichkeit zum »enfant perdu« geworden war, hatte in der langen Zeit seiner Vergessenheit jedoch insgeheim an seiner literarischen Wiederauferstehung gearbeitet, mit deren Monument »Frohburg« der mittlerweile 75jährige Autor nun vor uns erschienen ist.

Er ist nicht der einzige deutsche Autor, der langzeitig der eigenen Biographie nachsteigt & sie in der Form eines umfänglichen Romans vorlegt. Kaleidoskopisch hatte das im vergangenen Jahr Frank Witzel mit seinem Roman »Die Erfindung der RAF durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969« getan & dafür den »deutschen Buchpreis« gewonnen.

Diesen beiden jüngsten autobiographischen Schwergewichten war Navid Kermani mit seinem fabulösen zwölfhundertseitigen hybriden Mixtum Compositum »Dein Name« (2011) stolz vorausgegangen; und Peter Kurzeck hat zwischen 1997 & 2011 seinen 5bändigen autobiographischen Romanzyklus »Das alte Jahrhundert« in geradezu manischer Erinnerungsarbeit geschrieben; mit einer erzählerisch portionierten Sammlung von autobiographischen Memorials versucht derzeit Andreas Maier Ähnliches: zweimal hessische Heimatkunde en detail.

Der erste deutsche Nachkriegsautor, der allen erwähnten Autoren vorausging, war aber Walter Kempowski. Er hat seine mehrbändige »Deutsche Chronik« zwischen 1969 und 1975 publiziert, Eberhard Fechners TV-Adaptionen zweier dieser vor allem auch sprachlichen Erinnerungsbeschwörungen machten Kempowski allgemein populär. Mittlerweile ist dieses solipsistische Schreiben in großen erzählerischen Umfängen fast ein eigenes Genre der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur geworden. Fragt sich, ob diese auffälligen literarischen Exkursionen im engsten Eigenen mehr verbindet als ihre ungewöhnlich umfangreichen Ergebnisse ad se ipsum.                                 

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Mit Mozart zu Boeing - Mein jeanpaulinischer Freund Florian Fälbel erzählte mir kürzlich, wie er die altersbedingten nächtlichen Erwachungen katalogisiert. Bis 6.26 Uhr kann er in manchen Fällen (beim Blick auf den elektronischen Wecker) der jeweiligen Zeit nach dem Köchelverzeichnis einzelne Werke zuordnen, manchmal sogar erinnernd die dazu entsprechende Musik, wenn wohl auch nur fragmentarisch, akustisch imaginieren. Optisch sei er dann später am Morgen zugange, wenn er von Mozart zu Boeing wechselt & mit deren Flugzeugtypen 707,727 oder 747 versucht, erneut in den  Himmel der Träume aufzusteigen… Zu späteren Zeiten stehen ihm solche Zahlenspielereien nicht mehr zur Verfügung. Dafür ist er aber auch wach.

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Erspartes Lesen - Immer häufiger werden die deutschen Theaterspielpläne durchwachsen von Roman-Adaptionen (wie derzeit z.B. mit Joseph Roths »Hiob«) oder sogar von Filmskript-Adaptionen – wie kürzlich, als man las, dass Federico Fellinis »E la nave va« dran glauben musste. Jetzt hatte Max Frischs erster großer Roman »Stiller« in der Adaption eines Dramaturgen seine Bühnenpremiere. Dabei hat ja der Schweizer Autor eine ganze Reihe von Theaterstücken geschrieben, u.a. auch über sein zentrales Thema, der Identitätssuche, das er in seinem »Stiller« (1954) zum ersten Mal erzählerisch entfaltet hatte.

Es scheint vornehmlich zwei Gründe für die heutige Bühnenkarriere solcher theaterfremden Stoffe zu geben: zum einen bringen derartige  Adaptionen den Beteiligten einen materiellen Zusatzgewinn. Deshalb hieß es eine Zeit lang bei manchen Shakespeare-Aufführungen der Regisseur habe selbst übersetzt. Er verdiente mithin doppelt: als Übersetzer-Autor & als Regisseur. Das trifft auch auf die Roman-Adaptionen zu.

Der andere Grund für die derzeitige Bühnenkarriere klassischer Romane verdankt sich womöglich einem aktuellen Verfall des literarischen Kanons im Ansehen des derzeitigen Bürgertums. Noch sind die Titel des weltliterarischen Kanons allgemein bekannt; zumeist jedoch werden die Bücher insgesamt eher als lästiger Anspruch an einen empfunden, dem durch ihre langwierige konzentrierte Lektüre nachzukommen man »leider nicht mehr die Zeit« habe. Und so weit ist man heute doch noch nicht, dass man meint, ganz & gar auf den »historischen Bildungsplunder« der kanonisch gewesenen Literatur im gelebten Leben verzichten zu können. Die an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückten  Städtischen Theater versprechen, auch im eigenen Interesse, die nötige Abhilfe für einen unausgesprochenen Bedarf an konsumierbar gemachter »Bildung«.

Die Roman-Adaptionen reduzieren die vermeintliche literarische Redundanz & die ästhetische Komplexität des Romans auf ein überschaubares Summery des Problemstoffs, übersetzen diesen in eine »mit Spannung« verfolgbare Bühnenhandlung von realistisch-psychologisch zugespitzten Situationen & Konstellationen, die der Adapteur-Regisseur wenn nötig oder in eigner Kunstanmaßung mit musikalisch-theatralischen Zusatzstoffen aufmöbelt. Solche Romanadaptionen dampfen zu einem öffentlich konsumierbaren Seh- & Hörvergnügen ein, was einmal als Roman sui generis der ebenso konzentrierten wie zutiefst individuellen Aneignungsarbeit bedurft hatte

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Wie schon beim Tod von Umberto Eco, so auch nun beim Hinscheiden Lars Gustafssons wird in fast  keinem der Nachrufe erwähnt, dass die eloquenten & auch liebvollen Nachrufer allesamt wort-& kenntnislos wären, hätten ihnen nicht (wie auch allen anderen deutschen Lesern) Burkhart Kroeber & Verena Reichel die beiden Autoren über Jahrzehnte hin nahe gebracht!

Der resümierende Nachruf eines kundigen Lesers ist die letzte Möglichkeit, wo nicht gar der höchste Moment in der literarischen Welt, sich noch einmal – manchmal für sehr lange Zeit  –  rückblickend Autor & Oeuvre vor Augen zu stellen & zu bedenken, was wir an beiden über Jahrzehnte hin hatten, was wir an ihren Werken schätzten, bewunderten & liebten. Und es wäre zugleich der ultimative Augenblick, denen öffentlich Dank zu sagen, die mit ihrer kenntnisreichen Devotion das Oeuvre des Toten uns übersetzt haben. Quasi als überlebende Zwerge auf den Schultern ihrer gestorbenen Riesen verdienten sie in diesem historischen Augenblick noch zu ihren Lebenszeiten (!) wenigsten einmal  unsere generelle Danksagung!

Artikel online seit 06.04.16
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen diesen flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

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Calvinisten-Lehre - Fundamentales hier & dort

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