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Melancholische
Revue
António Lobo Antunes' »Drittes Buch der Chroniken«
Von Ingrid Mylo
"Aber die Akazie", heißt es in diesem Buch, "(wie hoch sie ist) spricht immer
noch dieselbe Sprache." Und es heißt "Was soll denn am Mond interessant sein?"
Und es heißt "Heben Sie nie die Plane eines Lastwagens an, Sie könnten sonst auf
Ihren Sarg treffen." Und das, was auf einer alten Fotografie wie ein Vordach
aussieht, wie ein Baumwipfel, ist schließlich ein Jodfleck. Die Chroniken
handeln nicht immer von dem, was man sich vorstellt, wenn man ihre Überschriften
liest. Sie handeln von Schwänen im Park, die zu der Sackpfeife des
Scherenschleifers schluchzen. Von Männern, die zu viele Zähne im Mund haben beim
Lächeln und zu viele Zehen am "Ende des Bettes". Sie handeln von
Liebesgeschichten, die traurig ausgehen, meist für die Frauen, von einer Stille,
so dauerhaft, daß sich die Form eines Sofas verändert. Von Orten, denen etwas
fehlt, das "wie Wind schmeckt", von Zeiten, da nur die Alten starben und die
Hühner. Und von Zeiten, die darüber hinausreichen: wie oft hat Lobo Antunes, und
nicht nur als kleiner Junge, gespürt, daß er nicht sterben wird, wie oft erwähnt
er es in diesen Zeilen, die eben auch davon handeln: vom Sterben, dessen
Bedeutung er nicht begreift, bis heute nicht. "Wir sind nicht für den Tod
gemacht."
Der Tod ist "eine Art November" und das Leben "ein großer Mist", und "mein
Gott!" kann Ekstase sein oder Enttäuschung: je nach Frau, je nach Stimmlage, je
nachdem, ob ein Mitesser ins Blickfeld gerät während der Anbahnung eines Kusses.
Es gibt so viele Vorstellungen, von denen man sich trennen muß, wie leicht läßt
sich da, mit Hilfe von acht Dosen Bier, ein tropfender Wasserhahn vergessen, der
vielleicht auch nicht mehr tropft, der vielleicht repariert worden ist, den man
ohnehin nicht hört über eine Entfernung von vielen hundert Kilometern: jetzt
tanzt Nelson in einer anderen Stadt mit einer anderen Freundin Tango über den
räudigen Hunden des Tierarztes, der unter ihr wohnt. So viel Abschied, so viel
Erinnerung, so viele verletzte Gefühle: selbst Puppen, und obwohl sie die Arme
ausgebreitet haben, können hassen, in diesen Chroniken, die fließende
Selbstgespräche sind: wie die Spiegel, die in der Dämmerung dieser Seiten
überall aufglänzen, Selbstreflexionen sind, Vergewisserungen, Mittel zur raschen
Überprüfung: wen trifft man an, wenn man hineinsieht, und in was für einem
Zustand, und würde man, wenn man genauer hinschaute, nicht manchmal von einem
Unbekannten überrascht werden, der dort tanzt wie Gene Kelly. Soll er das tun:
man kann sich schlafen legen, während seines Tanzes, und träumen: von anderen
Spiegeln, die auf ihrer Oberfläche Botschaften tragen aus Zahnpasta: dann sind
da zwei in den Zimmern, die sich, wenn sie Glück haben, lieben.
Da sind, neben den Spiegeln, wieder Münzen und Tränen und Tauben: Tauben,
die "kaputte Uhrzahnräder singen", sterbende Tauben, kackende Tauben, mit
Reiskuchen gefütterte Tauben, da sind Fotos und Fotos und Uhren, Silberpapiere,
Katzen und noch einmal Fotos, Ringe, Fenster, Clowns und wieder Fotos und
Brunnen. Da sind Schatten und Schlüssel: Schatten statt Gesichter, durchwanderte
Schatten, Schatten als Substanz beginnender Bücher, und die Schlüssel liegen
schwer auf der Kommode, "auf dem Teller am Eingang", wenn die Liebe vorbei ist.
Da ist das Rot, das fanfarenhaft dazwischenfährt: als Spitze an der Unterwäsche,
als Note für einen äußerst mäßigen Schulaufsatz, als Zuckermandel zu Ostern, als
Schleife, die 5 Bände Tacitus zusammenhält. An roten Ampeln kann sich das
Schicksal entscheiden: trifft man auf die lang Ersehnte, die im Wagen neben
einem hält, oder auf den Sarg im letzten Auto der Schlange. Finger sind rot vor
Kälte, Augenlider rot vom Weinen, Ohren knallrot nach dem betrügerischen Akt.
Die Spuren sind rot, die die Lippen hinterlassen, auf Hemden, auf Servietten,
auf Zigarettenfiltern, auf Wangen: wohin gelangte man, würde man ihnen folgen?
Käme man überhaupt an: kann sein, ihr Rot ist, wie das eines Gartenschlauchs,
über die Jahre zu Rosa verblaßt. Anders als das Blut der Kameraden, verwundet,
zerfetzt in Angola: das ist nicht rot, "es ist dunkler".
Und, mehr als alles andere, sind da Bäume: Feigenbäume, Kastanien, Birken,
vom Hund angepinkelt oder von kleinen Jungen, die, auch wenn sie größer werden,
noch ihren Spaß daran haben, Kiefern, Mangobäume in Marimba, Oliven, friedvolle
Tipubäume (wie sieht ein Tipubaum aus?), Ahorn: mehr als sechzig Mal ist von
ihnen die Rede. Mehr als tausend Mal: wenn man von den Stellen, wo Wald steht,
wo Hain steht, die Stämme einzeln dazurechnet, ein ungeheurer Baumbestand,
Weiden, Mispeln, Palmen, an den Rand des Schreibhefts gemalte Bäume,
geheimnisvolle, riesige Bäume, die einen des nachts verwirren, oft stehen sie im
Fenster, oft ist Sonne in ihnen: und wenn sie verschwinden, die Bäume, bleiben
Löcher zurück.
Steine und Sterne und ein Geruch nach Medikamenten und bitteren Zitronen,
Myriaden niederschwebender Worte: sie tanzen wie Staubflusen im Licht. Und
flirren zu Boden. Ein Tanzen, ein Schweben, ein Rieseln auch: wie das von
feinstem Sand, ausgesiebt aus dem Gedächtnis, Halbsätze, Farbspiele, zärtliche
Gesten: und wie Sand häuft sich das auf dem Grund des Stundenglases, häuft sich
und wächst, Berg aus Sekunden, Augenblicken, wächst und wird Zeit, ist Zeit, so
viel Zeit schon vergangen: und ich, wieder zu mir gekommen, wieder ich geworden,
ich habe es nicht gemerkt: so versunken war ich ins Lesen anderer Leben.
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António Lobo Antunes
Drittes Buch der Chroniken
Aus dem Portugiesischen von Maralde
Meyer-Minnemann.
Luchterhand 2010
317 Seiten
EUR 11,00
Leseprobe
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