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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 
 

Bücher & Themen
Artikel online seit 11.12.12.

Dichtung und Wahrheit über die Gruppe 47

Zwei neue Bücher erhellen jenseits von Verklärung oder
Verachtung die Keimzelle des deutschen Nachkriegs-Feuilletons
 

Von Lothar Struck




 

Fast ein bisschen theatralisch meint Helmut Böttiger in der Einleitung zu seinem Buch »Die Gruppe 47 - Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb«, dass ein »Gespenst« umginge, das »Gespenst der Gruppe 47«. Ich las Böttigers Buch nachdem ich die Tagebücher von Hans Werner Richter gelesen hatte. Das Gespenster-Wort erscheint mir sehr zutreffend, wenngleich ich überlege, warum jemand ein Buch über ein solches Gespenst schreibt, denn dass es, wie in so manchen Rezensionen behauptet, nur wenige oder gar keine Aufarbeitungen zur Gruppe 47 gibt, ist schlichtweg falsch (man denke an das von Stefan Braese herausgegebene Buch von 1999, Heinz Ludwig Arnolds Dokumentation von 2004 oder auch den SWR-Film von Andreas Ammer aus dem Jahr 2007).

Aber Böttiger wird schnell konkret: Etliche ihrer Protagonisten prägten, so der Befund, bis heute noch den »Betrieb«. Eine Feststellung, die zu einer Art Rechtfertigung für sein Buch wird. Sie könnte wahrer nicht sein und die beiden Bücher ergänzen sich am Ende auf eine famose Art und Weise in der Bekräftigung dieser These.

Pädagogischer Impetus

Sehr schön wird herausgearbeitet, wie die Gruppe 47 entstand, nämlich aus dem pädagogischen Impetus zweier Herren, Hans Werner Richter und Alfred Andersch, die ihre in amerikanischen Kriegsgefangenenlagern (!) erworbenen Diskurs- und Demokratiekenntnisse in die Literatur einbringen wollten. Beide waren sich einig, »dass der Sozialismus die erstrebenswertere politische Zielvorstellung in Deutschland war - ein Sozialismus, der Wert auf die Freiheit des Individuums legte, aber die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien zur Voraussetzung hatte«, so Böttiger. Das war damals nicht unbedingt so revolutionär, wie es heute klingt: das »Ahlener Programm« der CDU lag diesen Thesen nahe und wollte Ökonomie mit Ökumene versöhnen (weshalb es nicht sehr verwunderlich war, dass jemand wie Böll eine gewisse Zeit CDU wählte, wie es einmal heißt).

Richter und Andersch gründeten eine Zeitschrift (»Der Ruf«), die aber bald wegen Differenzen mit den Besatzungsmächten eingestellt wurde. Richter war ein aus heutiger Sicht eher mäßig begabter und dabei nicht sonderlich viel gelesener Schriftsteller (was sich ja nicht ausschließen muss). Er war ästhetisch einem, wie Böttiger es nennt, »magischen Realismus« verpflichtet. Tatsächlich mochte er reportagehafte, realistisch-journalistische Texte. Schon mit dem deutschen Expressionismus, der Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre noch in voller Blüte war, konnte er wenig anfangen; mit den später aufkommenden (sprach-)experimentellen Autoren noch weniger. Alfred Andersch sollte größeres literarisches Renommee bekommen als Richter. Er hatte 1952 mit seinem autobiographisch geprägten Roman »Die Kirschen der Freiheit« seine Desertion von 1944 literarisch verarbeitet, was zu großen Angriffen in der damaligen Öffentlichkeit führte. Überwiegend positiv wurde dann »Sansibar oder der letzte Grund« aufgenommen. Anderschs literarischer Rang schloss allerdings nicht aus, dass später Suhrkamp ein Manuskript von ihm ablehnte. Das Bild, das Böttiger über Andersch vermittelt,  ist ambivalent. Seine ästhetischen Präferenzen waren sehr disparat, sie reichten von Ernst Jünger über Sartre bis Faulkner. Man hat den Eindruck, Böttiger verzeiht Andersch seine Jünger-Bewunderung nicht, sieht aber über allerlei biografische Merkwürdigkeiten in der Zeit des Nationalsozialismus (die Scheidung von seiner »halbjüdischen« Frau beispielsweise), die Andersch nachträglich (wie so viele) als »innere Emigration« aufhübschen wollte, großzügig hinweg.

Die beiden nutzten die Gunst der Stunde und gründeten praktisch aus dem Stand eine neue Literaturszene. Hans Werner Richter war der erste Netzwerker der Nachkriegsliteratur. Ausführlich wird von der ersten Zusammenkunft in der Nähe von Füssen, bei der »Hex vom Bannwaldsee«, Ilse Schneider-Lengyel, einer surrealistischen Dichterin, die heute niemand mehr kennt, berichtet. »Der Krieg saß allen noch in den Knochen«, so gibt Böttiger die Grundstimmung an. Aber ob wirklich Teilnehmer zwei Jahre nach dem Kriegsende noch in abgerissenen Wehrmachtsuniformen ankamen, wie der Mythos es möchte? Anfangs gab es die Treffen fast immer zwei Mal jährlich, erst 1956 wechselte der Turnus auf einmal pro Jahr.

Epiphanische Momente und beißende Angriffe

Der Zugang waren die Einladungen, die ausschließlich Hans Werner Richter an junge und damit zwangsläufig unbekannte (und daher noch »ungedruckte«) Schriftsteller per Postkarte verschickte. Die Tagungsorte waren zumeist Gasthöfe in der deutschen Provinz; insbesondere in den Anfangsjahren manchmal schwer zu erreichen. So entstand jedoch für die Tage der Zusammenkunft eine bestimmte Atmosphäre. Die Regeln waren einfach: Einer las vor, das Auditorium hörte zu. Danach begann eine Diskussion über das Gehörte; Leiter war Richter selber. Der Lesende musste die Kritik über sich ergehen lassen und durfte nicht antworten. 1950 gab es erstmals einen Preis der Gruppe, der von Sponsoren finanziert, aber nach 1955 nur noch unregelmäßig vergeben wurde. 1958 las der damals vollkommen unbekannte Günter Grass das erste Kapitel aus seinem Roman »Die Blechtrommel«. Böttiger wird bei der Beschreibung der fast an Verwahrlosung erinnernden Erscheinung von Grass, der Kraft dieser Lesung und der anschließenden Diskussion - die keine war, sondern eine einzige Lob-Suada wurde - selber zum Schriftsteller. Er erzählt diese Lesung als epiphanischen Moment, nicht nur als Geburtsstunde des Dichters Günter Grass, sondern  als Wendepunkt in der deutschen Literatur. Richter besorgte per Akklamation Geld für den Preis, der eigentlich gar nicht vorgesehen war. Nachträglich ist es natürlich einfach hier den Grundstock für den Nobelpreis für Grass angelegt zu sehen.

Und was war eigentlich mit Heinrich Böll, der 1951 den Preis der Gruppe gewonnen und 1972 den Nobelpreis bekommen hatte? Leider hören die Tagebuchaufzeichnungen Richters unmittelbar vor der Verkündung des Preises auf. Es ist hochinteressant, seine sehr differenzierten Charakterisierungen über Böll zu lesen. Er wird aus dem zuweilen zögerlichen, zaudernden und auch kranken Mann, der zwischen Katholizismus und Linksextremistentum schwankt, nicht recht schlau. Böll »liebt das Geld und ist gegen die Geldwirtschaft«. Nicht ganz unberechtigt hielt Richter Koeppen für »die größere Begabung«, aber diese hatte damals, als Richter dies niederschrieb (1970) schon 15 Jahre nichts mehr veröffentlicht. Mit großer Verve verurteilte er 1972 Bölls Parteinahme für Ulrike Meinhof als »verquastes Denken« und nannte ihn »einen Mitläufer der Gewalttätigen«, der die »Legitimierung von Pseudorevolutionären« betriebe. Gerade die Intensität des Zorns zeigt unterschwellig doch ein großes Sympathiepotential, das Richter in diesen Aufzeichnungen bei sonst keinem anderen Protagonisten der Gruppe 47 anklingen lässt.

Richter begann am 29. September 1966 mit seinen Aufzeichnungen, die allerdings größere zeitliche Lücken aufweisen und nach dem Olympia-Attentat in München 1972 abgebrochen und augenscheinlich nicht mehr aufgenommen wurden. Ihre Existenz war lange unbekannt. Erst 1993 wurden sie entdeckt und liegen jetzt editiert und herausgegeben von Dominik Geppert und Nina Schnutz unter dem stimmigen Titel »Mittendrin« vor. Man muss sie nachträglich als Selbstvergewisserungsversuche Richters definieren: Er stand am Scheideweg, sowohl was die Gruppe und auch sein persönliches Leben betraf; immerhin war er schon 58 Jahre alt. Zwistigkeiten von innen und von außen nahmen Überhand. Außerdem wollte er wieder literarisch tätig werden.

Insbesondere die äußerst heftigen Polemiken vom Sommer 1966 aus dem linken Lager setzten Richter zu. Sie kamen zum einen von Hans-Erich Nossack (»Literarische Prostitution« lautete die Überschrift seines Artikels), aus dem mit diesem Angriff, so Böttiger, der »Schmerz des Außenseiters« gesprochen habe. Immerhin war Nossack auch ohne die Gruppe ein arrivierter Schriftsteller geworden (sein Stil passte nicht in Richters ästhetische Konzeption) und immerhin einige Jahre Vizepräsident der Mainzer »Akademie der Wissenschaften und Literatur«. Zum anderen polemisierte Robert Neumann, ein Emigrant, gegen die »Cliquenwirtschaft« der Gruppe 47, die viel zu harmlos agiere. Beide Artikel erschienen in »konkret«; der Chefredakteur war damals Klaus Rainer Röhl, der Ehemann von Ulrike Meinhof, die viel beachtete Kolumnen für »konkret« schrieb. Hans Dieter Zimmermann sieht im kurzen Vorwort diese Angriffe als Initial für den Beginn des Tagebuchschreibens.

Richters unerbittliche Urteile – oft verblüffend hellsichtig

Leider vermisst man im Apparat schmerzhaft repräsentative Zitate der inkriminierten Texte von Nossack und Neumann. Stattdessen hat man in den Endnoten lieber sehr umständlich erwähnt, wann eine im Text angesprochene Person an einer Tagung der Gruppe 47 teilnahm. Biographische Daten gehören dort auch nicht hin, sondern eher ins Personenverzeichnis. Überflüssig die Angaben in den Endnoten über Themen und Teilnehmer der von Richter moderierten Fernseh- und Rundfunkbeiträge, wenn es anschließend noch eine Übersicht darüber gibt (die übrigens sehr interessant ist). Etliche Redundanzen hätte man mit einer anderen Konzeption vermeiden können und damit Platz für weitergehende Informationen gewonnen. Manchmal führen die fehlenden Vertiefungen zu Missverständnissen. Wenn etwa Günter Grass' ironischer Offene Brief gegen die in Princeton von Peter Handke vorgebrachte Kritik an der Gruppe erwähnt wird aber sowohl eine Textprobe wie auch der Hinweis darauf fehlen, dass Handke in seiner Replik auf Grass Neumanns Aufsatz ausdrücklich einen »großen Mist« nannte. Handke attackierte die Gruppe 47 nicht per se als »Klüngel«, sondern ästhetisch.

Dabei hatte Richter die Anfeindungen der christlich-nationalistischen Restauration der 50er Jahre beispielsweise von Friedrich Sieburg, Günter Blöcker und Hans-Egon Holthusen, um die prominentesten Gegenspieler des damaligen Feuilletons zu nennen, geduldig ertragen und endlich überstanden (auf die politischen Attacken wird ebenfalls eingegangen, so auf das Wort der »Geheimen Reichsschriftumskammer«, wie 1963 ein Wicht der CDU, dessen Namen man vergessen sollte, die Gruppe 47 nannte). Nun jedoch sah er sich von denen, deren politische Meinung er in Grundzügen durchaus teilte, in kränkender Form bekämpft. Wie man heute weiß, ist Richters Vermutung, die Angriffe seien von der DDR bzw. der SED finanziert worden, nicht richtig; die Zusammenarbeit Röhls mit Organen der DDR endete bereits 1963.

Insgeheim ahnte Richter, dass nach der Veranstaltung in Princeton vom April 1966 der Schwung endgültig verloren war. Etliche der Teilnehmer waren längst im Literaturbetrieb angekommen. Diese Phase der fortschreitenden Infiltration wichtiger kultur-feuilletonistischer Positionen durch »Mitglieder« der Gruppe 47 (eine Mitgliedschaft gab es im strengen Sinne nicht) beschreibt Böttiger sehr instruktiv. Insofern war der Vorwurf der Cliquenbildung aus heutiger Sicht durchaus angebracht. Richters Tagebücher zeugen jedoch vor allem von den politischen Verwerfungen bis zu Anfeindungen innerhalb der »Peergroup«. Am drastischsten drückt Richter dies aus, wenn er zur Charakterisierung der Figuren schreitet: Walser warf er  »Polit-Infantilismus« vor und nennt ihn einen »gefährliche[n] Psychopath[en]«). Bei Grass' kritisierte er seine impulsiven Alleingänge, sein Einzelkämpfertum. Peter Weiss' attestierte er  in politischen Dingen eine »verhängnisvolle Naivität«. Reinhard Lettau war »verblendet« und »unter dem Einfluß seiner hysterischen V. innerhalb eines Jahres politisch erblindet«. Alexander Kluge wird »intellektuelle Glätte und Kälte« bescheinigt. Dies sind nur kleine Ausschnitte; nahezu jeder bekommt irgendwann sein Fett weg. Die Urteile Richters über seine Mitstreiter sind von einer großen Unerbittlichkeit; im intimen Tagebuch braucht er keine Rücksichten zu nehmen. Fast immer begegnet er Intellektuellen, deren Zeit er entweder längst abgelaufen sah oder die groß irrten (Bloch beispielsweise, dessen »Prinzip Hoffnung« »viel Unheil für die heutige Jugend angerichtet« habe). Nachträglich wundert man sich über die Treffsicherheit so mancher Aussage.

Die »Mentalität«

Als unabding- und unbefragbarer Zugangscode zur Gruppe galt schnell eine linksliberale Gesinnung, die Richter »Mentalität« nannte. 1963 brüstete sich Hans-Magnus Enzensberger im Dokumentarfilm zur Gruppe 47 von Sebastian Haffner damit, dass sich in der Gruppe niemand befinde, der ein Hitler-Gedicht geschrieben habe. Dies war eine Anspielung auf Leute wie Gottfried Benn, Gerd Gaiser oder Ernst Jünger. Dass mindestens ein Waffen-SS- und ein NSDAP-Mitglied unter ihnen regelmäßige Gäste waren, wusste er damals noch nicht. Das Diktum von der »Stunde Null« nahm man auf unterschiedliche Art und Weise wörtlich. Das, was man später ungenau und ein bisschen selbstherrlich Verdrängung nannte und der Nachkriegsgesellschaft vorwarf, traf auch auf große Teile der Gruppe 47 zu. Man blickte nach vorne und das war links. Basta.

Als es nun zu Konflikten bis zur Feindseligkeit innerhalb dieser politischen Strömung kam, schob Richter den Schwarzen Peter just dieser politischen Gesinnung zu (was natürlich von selbstbegangenen Fehlern bequem ablenkte). Er begann die »Soziologisierung« der Gruppe zu beklagen; die Literatur drohe nur noch zur Nebensache zu werden. »Wie schlecht Ideologien Autoren bekommen« notiert Richter am 21.01.1970, und, kurz vorher: »Wie dumm sind eigentlich Schriftsteller, wenn sie politisch werden?« Er vergaß dabei, dass auch in der Gruppe 47 eine bestimmte politische Ausrichtung immanent war. Auch wenn, was Böttiger ausdrücklich betont, die Gruppe 47 niemals als Gruppe eine politische Äußerung tätigte. Immer waren es die jeweiligen Einzelakteure, die in Erscheinung traten. Aber es half nichts: Die »Revolution« begann, ihre Wegbereiter auffressen zu wollen.

Heute ist kaum noch bekannt: Richter moderierte zwischen 1964 und 1975 mehr als 120 Diskussionssendungen zu Gesellschaft und Literatur im Fernsehen und Rundfunk. Er, der Meinungsführer, beklagte sich über diejenigen, die endlich im selbst erzeugten Wind der Zeit segeln wollten. Das Wort vom »linken Faschismus« in Bezug auf die rebellierende Intoleranz der Studenten, ursprünglich von Habermas, wurde von Richter übernommen und ihm nun in den Medien zugeschrieben. Dabei bedrückten ihn die selbstzerstörerischen politischen Grabenkämpfe innerhalb der Linken, die ihn verdächtig an das Versagen von Sozialdemokraten und Kommunisten im Kampf gegen die Nazis in der Weimarer Republik erinnerten. Richter war SPD-Sympathisant, also gemäßigter Linker, stand in brieflichem Kontakt zu Willy Brandt, auch als dieser Bundeskanzler wurde. Mit Grass' Enthusiasmus und Ungeduld, die immer oberlehrerhaftere Töne in Bezug auf »seine« SPD annahmen, konnte er aber nichts anfangen.

Die politische Aufbruchstimmung, die mit der Kanzlerschaft Brandts eintrat, verpuffte relativ schnell, aber Richter blieb immer loyal. Es war aber auch eine gewisse Lähmung: Konnte man die Bundesregierung, die man so lange erseht hatte, kritisieren ohne damit wiederum die verhasste CDU/CSU zu munitionieren? Für etliche seiner Freunde stellte sich die Frage nicht, sie begannen mit den revolutionären APO-Ansichten und/oder K-Gruppen mehr als nur zu sympathisieren. Auch hier wirkt Richters eher prosaisch-realistische Sicht und die gleichzeitige Anfeindung dieses Pragmatismus verblüffend aktuell.

Das Märchen von der Demokratisierung der Gesellschaft durch die Gruppe 47

Die mediale Bedeutung der informellen Gruppe besonders ab Mitte der 50er Jahre wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es damals keine anderen Literaturfestivals gab. Eines der beliebtesten Etiketten, die man der Gruppe 47 nachträglich aufklebt und sie damit fast in den Zwischenstand des »Seligen« hebt, ist das der Einübung der demokratischen Rede und Gegenrede, etwas, was es vorher gar nicht gegeben habe. Die Gruppe 47 sei damals so etwas wie ein Demokratie-Vorbild gewesen und geworden. Natürlich trifft es zu, dass der intellektuelle Diskurs zwischen 1933 und 1945 zum Erliegen kam. Dennoch ist die These von der Demokratisierung der Gesellschaft durch die Gruppe 47 Unsinn. Zum einen waren die Zusammenkünfte bis weit in die 50er Jahre hinein privat und ohne Öffentlichkeit, bevor dann das Radio übertrug. Und zum anderen hatten die Zuhörer andere Sorgen, als Diskussionen über Dichterlesungen als Schulung für die eigene Diskussionskultur zu internalisieren.

Tatsächlich herrschte schon in der sogenannten Weimarer Republik (insbesondere in Berlin) ein reges und intellektuell herausragendes gesellschaftliches, politisches und feuilletonistisches Treiben nebst all den Ingredienzien, die man heutzutage hochtrabend als »Diskurs« bezeichnet. Allerdings hatten die bestimmenden Protagonisten der Gruppe 47 sie aus demographischen Gründen kaum mehr erlebt. Heinrich Böll war Jahrgang 1917 und 16 Jahre alt als Hitler Reichskanzler wurde. Ilse Aichinger wurde 1921 geboren, Walter Höllerer 1922, Ingeborg Bachmann 1926, Grass und Walser 1927, Lettau und Enzensberger 1929. Diese Generation hatte tatsächlich so etwas wie Rede- und Meinungs-Pluralismus noch nicht erlebt. Nur die »älteren«, die regelmäßig teilnahmen (Günter Eich [1907], Richter [1908], Andersch [1914]), erlebten die erste demokratische Zeit Deutschlands als Heranwachsende bzw. Jugendliche. 

Unselige Tradition: Die Unerwünschten

Richter wollte für seine Gruppe von Beginn an mit den großen Namen nichts zu tun haben. Autoren wie Benn oder Jünger waren oder galten als politisch belastet und kamen nicht infrage. Aber auch mit den politisch »satisfaktionsfähigen« Schriftstellern wie beispielsweise Alfred Döblin, Bertold Brecht, Irmgard Keun, Erich Kästner oder Hilde Domin (die er nur als »begabte Lyrikerin« einschätzte, allerdings sei sie »hysterisch« und leide vermutlich unter »Verfolgungswahn«) wollte er nichts zu haben. Nur um Thomas Mann wurde zeitweilig gebuhlt, was natürlich hoffnungslos war. Im Oktober 1966 schreibt Richter: »Emigration war 'konservierte' Literatur der zwanziger Jahre, konservierter Stil, konservierte Sprache, konservierte Methode […] 1947 schon veraltet und einer anderen Epoche angehörend.« Richter mutmaßte wohl auch nicht ganz zu Unrecht, dass sich diese arrivierten Schriftsteller dem Urteil einer jüngeren Generation nicht zu seinen Bedingungen gestellt hätten. Am Beispiel der Teilnahme von Hermann Kesten (1900 geboren, Teilnahme 1950) und Hans Sahl (1902 geboren, Teilnahme 1953) schreibt er: »Beide kamen mit der Mentalität der zwanziger Jahre, beide vertrugen keine Kritik, beide waren von empfindsamer, törichter Eitelkeit«. 

2007 erzählte Martin Walser von einer Reaktion Richters auf eine Lesung von Albert Vigoleis Thelen 1953. »'Dieses Emigrantendeutsch brauchen wir nicht'«, soll Richter damals mit für ihn, den ansonsten ausgeglichenden Charakter, untypischer Schärfe gesagt haben. Ein unglaublicher Lapsus, der deutliche Parallelen aufzeigt zu den ansonsten von Richter politisch gekämpften restaurativen Schriftstellern, die nach 1945 aus ihren Löchern krochen (Figuren wie Frank Thiess oder Hans Egon Holthusen) und despektierlich von der »Emigrantenliteratur« und »innerer Emigration« schwadronierten. Da ist sie, die deutsche, unselige Kontinuität, die die Gruppe 47 (und nicht nur Richter alleine) fortsetzte: Diejenigen, die von den Nazis verfolgt waren und/oder deren Bücher auf den Scheiterhäufen 1933 verbrannten, waren wieder einmal unerwünscht. Schmerzhafte Erkenntnis sovieler Rückkehrer: Der »Neuanfang« fand ohne sie statt. Noch heute sind die Auswirkungen zu bemerken: Ein Günter Grass ist berühmter als Alfred Döblin (ein Treppenwitz, dass inzwischen der Döblin-Preis von Grass gesponsert wird) und Hilde Domin steht immer noch im Schatten von Ingeborg Bachmann.

Dabei war Richter selber 1933 nach Paris emigriert, dann aber nach kurzer Zeit zurückgekehrt. Er empfand keinerlei Sympathien für die Nazis, kam aber in Frankreich nicht zurecht. Die Gestapo glaubte ihm, dass er von seinen kommunistischen Idealen (er war Mitglied der KPD, aber später ausgeschlossen worden) abgeschworen hatte. »Unschuldig verstrickt« in das NS-System sei Richter gewesen, so Böttiger (und attestiert dies auch mit einem »unschuldig schuldig« in Bezug auf Günter Eich). Er schlug sich als Journalist durch und wurde - wie so viele andere spätere Kollegen - eingezogen und geriet 1943 in Italien in amerikanische Kriegsgefangenschaft.

Der Verzicht auf die großen Namen hatte auch zwei profane Vorteile. Zum einen zweifelte niemand Richters (und Anderschs) Autorität an – es waren fast ausnahmslos Novizen, die geladen wurden. Dadurch bekamen die Zusammenkünfte eine edukative, vielleicht sogar missionarische Komponente. Böttiger zeigt in seinem Buch Bilder von auf dem Boden sitzenden, andächtig zuhörenden Männern. Zum anderen mussten die Teilnehmer keine Angst vor dem vorauseilenden Ruhm der literarischen Überväter haben. Interessant ist dabei, dass die Konsequenz der Emanzipation von den vagen Vorbildern sehr viel radikaler verlief als bei den 68ern. Gewissermaßen nahm Richter - ohne es natürlich zu wissen - den späteren Revolutionären die Arbeit ab. Sie konnten sich auf den Muff unter den Talaren konzentrieren.

Beide Bücher zeigen, dass die Vorwürfe, die Gruppe 47 sei antisemitisch gewesen, vollkommen abwegig sind. Richters Wort nach einer Lesung von Celan, er, Celan, habe ihn an Goebbels' hohem Ton erinnert, ist eine Dummheit sondergleichen, die Richter auch Jahre später, als er die Nachricht vom Freitod Celans liest, noch nicht einzusehen vermochte. Dennoch waren die 47er keine Antisemiten. Dass es sehr wenige jüdische Schriftsteller gab liegt unter anderem darin begründet, dass diese Deutschland berechtigterweise nicht mehr als erste Wahl ansahen. Andere, wie Alfred Döblin, waren ästhetisch nicht erwünscht. Als Israel 1967 Truppenbewegungen an seinen Grenzen beobachtete und schließlich einen Präventivkrieg gegen Ägypten begann (der sogenannte Sechstagekrieg) war es Richter, der den Dritten Weltkrieg am Horizont sah, eine Unterschriftenaktion zu Gunsten Israels startete und alle Hebel in Bewegung setzte, möglichst viele Unterstützer zu finden; interessant, wer sich dabei aus welchen Gründen absentierte.

Das Kritikerquartett

Neben den politischen Anfeindungen innerhalb der Gruppe war die schleichende Implementierung der sogenannten  Großkritiker (Marcel Reich-Ranicki, Joachim Kaiser, Walter Jens und Hans Mayer), die irgendwann frech in der ersten Reihe Platz nahmen und die Veranstaltungen zu dominieren begannen der zweite Sargnagel.

Peter Handke hatte in seinem Princeton-Auftritt nicht nur die Literatur als »läppisch« bezeichnet, sondern auch die Kritik, die eine solche Literatur goutiere. In eine Replik auf Günter Grass' offenen Brief an ihn, erneuerte Handke seine Kritik: Die »meisten« Kritiker seien »indiskutabel« (Handke setzt die Namen des Quartetts in Klammern). Die Tagebücher von Richter zeigen, dass Grass diese Ansicht durchaus teilte. Er war es, der Richter zu rigorosen Maßnahmen überreden wollte. Er plädierte für die Rückkehr zum Werkstattcharakter, der längst durch die Kritiker und die nicht mehr zu leugnende Kommerzialisierung verschwunden war. Längst sprach Richter Einladungen auf Empfehlungen von Verlegern aus; es kamen immer mehr Schriftsteller zu den Lesungen, die mit dem hausbackenen Realismusideal wenig bis nichts im Sinn hatten.

Richter beklagte die »Geldsucht« des Kritikerquartetts, das in der Gruppe 47 Kritik »nur gespielt« habe (»und sie waren nicht schlecht«) und sich »selbst auf den Thron der Autoren gesetzt« hätten. Er bezeichnete Reich-Ranicki als einen »großen Schwätzer«, befürchtete, dass er Joachim Kaiser, dieser »Schatten eines Snobs«, überschätzt haben könnte (das von Kaiser abgedruckte Gedicht ist fürchterlich) und der doch nicht mehr als ein »Provinz-Feuilletonist« sei und findet böse Worte zu Hans Mayer (dieser sei »aus homosexuellem Stahl geschmiedet«). Richter war aber, das zeigen die Tagebuchaufzeichnungen, nicht bereit, irgendwelche Veränderungen – sei es im Ablauf oder personell - vorzunehmen. Gerade in diesem Starrsinn wirkt er wie ein Zauberlehrling, der die Kontrolle über die gerufenen Geister verloren hatte. Die »Hoffnungsträger« für einen Neubeginn waren ihm entweder zu dandyhaft (Raddatz, der »nur Feinde« habe) oder entsprachen nicht seinem Geschmack (Urs Jenny, Uwe Nettelbeck). In den 70ern änderte sich Richters Meinung über Reich-Ranicki ein wenig; er war für ihn jemand, der sich abseits aller politischen Ränkekämpfe auf die Literatur konzentrierte. Ein bisschen erstaunt es, wenn Böttiger darauf hinweist, dass Reich-Ranicki in der Gruppe 47 »nicht tonangebend« gewesen sei. Tatsächlich war Reich-Ranicki innerhalb der Kritiker (denen auch Walter Höllerer angehörte) »nur« eine Stimme. Aber als Literaturkritiker der FAZ und später der Zeit hatte er bereits wenige Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland 1958 eine wichtige Position.

Längst institutionalisiert

Nachträglich wurden von vielen Teilnehmern die Veranstaltungen der Gruppe 47 zu Woodstocks des Literaturbetriebs verklärt. Dieser Veteranenton ist verständlich, denn ohne die Strahlkraft dieser Veranstaltungen wären deren Protagonisten mindestens nicht in dieser Schnelligkeit auf ihre Positionen gekommen. Aus den Rebellen gegen die Institutionen der Restauration waren selber Funktionäre und Meinungshegemone geworden. Und dies sowohl ästhetisch wie auch politisch.

Die Gruppe 47 hatte schlechterdings ihre Schuldigkeit getan; die meisten Protagonisten begannen, sich zu häuten. Die letzte offizielle Zusammenkunft war 1967 (es gab noch 1972 einen zaghaften Wiederbelebungsversuch und dann, 1990, noch ein Veteranentreffen der besonderen Art in Prag, wo man schon 1968 tagen wollte, was aber aufgrund des sowjetischen Einmarschs nicht mehr möglich war). Die ästhetische Konzeptionslosigkeit der Meinungsführer hatte Peter Handke in Princeton in drastischen Worten ausgesprochen, was bei jüngeren Autoren, der sogenannten Dritten Generation der Gruppe 47 (ab ca. 1940 geborene), längst als Realität empfunden wurde. Im nächsten Jahr hatte sich die Gruppe 47 auch für Handke erledigt; die gesuchte Popularität war da (»Für Publicity haben Sie reichlich in Princeton gesorgt«, schrieb Karlheinz Braun vom Suhrkamp-Verlag an Handke). »Handkestand« nannte Richter sardonisch Jahre später diesen Auftritt.

Richters Tagebücher dokumentieren die langsame, schmerzhafte Entlassung seines »Kindes« in die Auflösung. Am 24.04.1970 hatte er die Gruppe 47 »endgültig angeschrieben«. Aber so ganz vermochte er sich immer noch nicht damit abzufinden, zumal immer wieder Stimmen kamen, doch eine Wiederbelebung zu versuchen. Die Aufzeichnungen zeigen, dass Richter ein gutes Sensorium dafür aufbrachte, wer für eine Fortsetzung der Treffen plädierte. Vor allem aber: Wer dafür nicht ausdrücklich plädierte. Kein Bedrängen von Kluge, Johnson oder Bichsel konnte das Schweigen eines Heinrich Böll (er »'sagte kein einziges Wort'«, so paraphrasiert Richter einen Böll-Titel) oder das nassforsche Gedröhne eines Walter Jens, der das Ende sozusagen ausrief, übertönen.

Streitereien wie im Kaninchenzüchterverein

Aber inzwischen hatten sich die gegenseitigen und durchaus wechselnden Sympathien und Antipathien zu einem unentwirrbaren Knäuel entwickelt. Irgendwann verliert man schlichtweg die Übersicht, wer mit wem »verfeindet« ist (die meisten mit Grass) und wann. »Eine verlogene Gesellschaft und trotzdem Freunde«, so lautet einmal eine halb resignativ, halb versöhnlerische Feststellung Richters. Beziehungsflechte und Eitelkeiten, wie man sie im übrigen in jedem Kaninchenzüchterverein ebenfalls vorfindet.

Richters Tagebücher sind auch als Zeitdokument interessant und lesbar. Natürlich gibt es eine Menge Betriebs-Klatsch, den man auch nicht zu Ernst nehmen sollte. Dominik Gepperts Nachwort gibt einen guten Überblick und stimmige Interpretationen über die gruppendynamischen Prozesse und Richters Zustand in der betreffenden Zeit. Das Umschlagbild mit dem im Sessel »lümmelnden« Richter ist kongenial.

Helmut Böttigers Buch über die Gruppe 47 besticht nicht nur durch die kenntnisreich und bei aller notwendigen Verknappung akkurat ausgebreitete Chronologie. Besonders instruktiv sind die genauen Beschreibungen einzelner Protagonisten (eine Ausnahme bildet die doch reichlich ausführlich Beschäftigung mit dem heute gänzlich vergessenen Hans Jürgen Soehring). So decouvriert er detailliert die zu »einer Art Fetisch der Gruppe« gewordene Ingeborg Bachmann. »Ihre Wirkung resultierte aus einer unerklärlichen Mischung von Schüchternheit und Koketterie«, so Böttiger, der die gut gespielten Posen und die rhetorische Brillanz ihrer Vorträge nebst dem affektierten, aber wirksamen Zur-Schau-Stellen von Verletzlichkeit aufdeckt. Böttigers entzaubert zwar die Selbstinszenierung der Person Ingeborg Bachmann, diffamiert dabei jedoch dankenswerter Weise niemals ihre Lyrik. 

Sehr erhellend ist auch das Kapitel über Enzensberger, das er »Hase Igel Enzensberger« überschreibt. Böttiger nennt ihn den »Chefideologen« der Gruppe 47. Es ging ihm, so die Charakterisierung, um »Distinktionsgewinne, um Aufmerksamkeit, um einen Habitus, der geheimnisvoll wirkte und auffiel«. Ausgiebig beschäftigt sich Böttiger mit Enzensbergers ausgefeilter Medienstrategie, die beispielsweise dazu führte, dass er immer ganz schnell Autor in den Medien wurde, die er kurz vorher noch pointiert angegriffen hatte. Exemplarisch der Artikel über die Spiegel-Sprache von 1956, der (1.) dazu führte, dass Auszüge dieses Textes wenige Monate später im Spiegel gedruckt wurden und (2.) Enzensberger nun »Hausautor« (Böttiger) des Nachrichtenmagazins wurde.

Das Kapitel über Enzensberger ist das Filetstück in diesem Buch. Man spürt Böttigers stille Bewunderung für diesen »Trendsetter«, der das »Experimentierfeld der Gruppe 47« für seine Selbstdarstellung benutzte. Immer wenn die anderen auf seinen »Zug« aufgesprungen waren, hatte sich Enzensberger schon ein neues Feld gesucht. Aber man sollte dieses Kapitel im Kontext mit den Tagebuch-Äußerungen Hans Werner Richters lesen. Dann ergibt sich ein höchst aufregender Kontrast über diese facettenreiche Persönlichkeit. Denn was die revolutionären Attitüden Enzensbergers angeht gab es durchaus einige Rohrkrepierer beim »Medienprofi«, die Böttiger jedoch nicht erwähnt. In einem Eintrag Richters vom 22.3.1969 heißt es über ein Frühstück, unter anderem mit Johnson, Grass und Wapnewski: »Es wurde viel gelacht über Hans Magnus Enzensberger, über seine Abenteuer der Revolution, erlebt auf Cuba.« Und weiter delektierte man sich über den nach Berlin gekommenen »Enzensberger als Staatsmann, der einen Empfang in seiner Wohnung für die 'Rote Garde' gab. […] Er, Enzensberger, wolle selbst zu einem Mann wie Willy Brandt gehen, um Maschinen für Cuba zu beschaffen.« Enzensberger sei, so Richter, von einem »Scharlatan der Literatur zu einem Scharlatan der Revolution« geworden. An anderer Stelle poltert er vom »Verrat an der Literatur«, wird sofort aber wieder melancholisch, wenn er sich an den »picklige[n] junge[n] Mann« erinnert, der 1956 von »Alfred Andersch als…Sekretär« mitgebracht, zur Gruppe 47 stieß. Sieben Jahre später bekam Hans Magnus Enzensberger mit 34 Jahren den Büchner-Preis (nur Peter Handke war 1973 noch jünger).

Sehr verdienstvoll wie Böttiger die eminent große Bedeutung von Walter Höllerer für die Gruppe 47 aufzeigt. Höllerer stieß 1954 dazu und wurde schnell Ideengeber und »Sidekick« von Hans Walter Richter und so etwas wie die »gute Seele«, zumal Alfred Andersch als Rundfunkredakteur  immer mehr als Mentor für Autoren der Gruppe außerhalb dieser fungierte. In Berlin organisierte Höllerer Lesungen, die ganze Hörsäle füllten und versuchte, den Dialog mit und über Literatur in die Breite zu befördern. Den überheblichen Ton der Großkritiker mied er; politische Stellungnahmen und die grassierende (!) Resolutionitis waren ihm nicht geheuer. En passant entdeckt man in Böttigers Buch die eminente Bedeutung, die das Radio in den 50er und noch 60er Jahren hatte. Es war geradezu ein Überlebensmittel für zahlreiche Intellektuelle und Schriftsteller. Mit Ernst Schnabel und Alfred Andersch saßen zwei exponierte Persönlichkeiten in den Sendeanstalten, die Aufträge für Sendungen vergeben und gut honorieren konnten.

Idealist oder Dummkopf

Etwas zu wenig erfährt man von denen, die in der Gruppe entweder scheiterten oder von Richter schlichtweg ignoriert wurden. Zwar ist von Hermann Lenz' frühem Scheitern (1951) die Rede und auch Siegfried Lenz' »Deutschstunde« fiel im Literaturtribunal genau wie Gerd Ledig durch (der von Günter Eich gelesen wurde). Einige Worte zur literarischen Bedeutung dieser Schriftsteller, die sie dann früher oder später doch erlangten, hätte man sich gewünscht. Andere Literaten von hohem Wert wie Hans Erich Nossack, Marie Luise Kaschnitz, Arno Schmidt oder Walter Kempowski, die vordergründig den Kriterien nicht entsprachen, fanden keine »Aufnahme« in die Gruppe (Kempowski war erst bei der bedeutungslosen Veranstaltung 1972 auf  Intervention seines Mentors Raddatz dabei). Wenn man sich die Liste der Büchner-Preisträger nach 1945 ansieht, wird deutlich, welch großen Einfluss die fehlende Präsenz auf den Tagungen der Gruppe  47 hatte; Alfred Döblin, Arno Schmidt und Walter Kempowski erhielten den Büchner-Preis nie.

Gegen die allenthalben wohlfeilen Vorwürfe gegenüber Richters scheinbar autoritäres Verhalten findet Böttiger die richtigen Worte: »Er agierte hemdsärmelig, ohne Gremien, ohne Ausschüsse, ohne Sitzungen. Und doch wirkt es merkwürdig, dass sein jeglicher Basisdemokratie abholdes Vorgehen den demokratischen Idealen vielleicht eher entsprach als die üblichen Abstimmungs- und Mehrheitsverfahren.«

Ein bisschen holprig gerät Böttiger der Schluss seines Buches, insbesondere wenn er über die Kontinuitäten nach der Gruppe 47 schreibt. Die Reihe Gruppe 47 → Bachmannpreis Klagenfurt →  Literarisches Quartett → Heidenreichs »Lesen«
ist ziemlich oberflächlich. Natürlich gibt es dieses Kontinuum, welches einen eminenten Verfall des Niveaus von Literaturkritik dokumentiert (das erwähnt Böttiger nicht). Aber die zumeist unsichtbaren, aber sehr festen Fäden, die so lange in den Feuilleton-Stuben der Reaktionen gewirkt und ihrerseits längst zu unheilvollen Traditionen bis in die Gegenwart geführt haben (beispielsweise in der Vergötterung des Realismus, die bis in die geradezu kindische Suche nach Übereinstimmungen zwischen Autorenbiographie und Fiktionalität geht) entwirrt Böttiger leider nicht. Dabei käme es gerade auf diese an. Und warum die »Mediengeschichte« auf Reich-Ranickis »Seite« sein soll und was das bedeutet, hätte man auch gerne etwas genauer erfahren. Oder waren hier gewisse Rücksichten zu nehmen?

Die fast parallele Veröffentlichung der Richter-Tagebücher und von Böttigers Buch muss man nachträglich als Glücksfall werten. Vermutlich war es nie derart anregend und aufschlussreich sich über dieses Kapitel der deutschen Literaturgeschichte zu informieren. Und wenn man nach der Lektüre dieser beiden Bücher noch irgendetwas für die deutsch(sprachig)e Literaturszene (vulgo Feuilleton) übrig hat, ist man entweder ein Idealist oder ein Dummkopf oder - wie ich - womöglich beides.

Hier der Text der Besprechung zum Download als pdf
 

Hans-Werner Richter
Mittendrin
Die Tagebücher 1966-1972
C.H. Beck Verlag, 2012.
383 Seiten
mit 26 Bildern. Gebunden
24,95
978-3-406-63842-8


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Helmut Böttiger
Die Gruppe 47
Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb
DVA
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag,
480 Seiten, 15,0 x 22,7 cm
mit Abb.
€ 24,99
978-3-421-04315-3

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