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Georges
Bataille und das Böse Böses Vorspiel »Böse, Böse, Böse!« Mallory schimpft heftig. Ihr Freund Mickey, ein »natural born killer«, wie wir später erfahren, hat gerade einen weisen Navajo-Indianer getötet. Der wollte ihm doch nur helfen, die bösen Dämonen seiner Kindheit zu besiegen und die verdrängten Erinnerungen an frühen Missbrauch urbar zu machen. Mickey schießt, als er aus diesem künstlich bereiteten (Alp)traum noch nicht ganz erwacht ist. Das chaotische Multilayer-Kino spülte sein Unbewusstes hoch. Selbst der Strafrichter müsste hier am Schuldspruch zweifeln, weil Mickey nicht zurechnungsfähig war. Hier war das Böse nicht der Preis der Freiheit, wie es Rüdiger Safranski, einem alten christlichen Reim auf die verqueren Verhältnisse folgend, definiert. Das postmoderne Bonnie und Clyde-Duo tötet 52 Menschen, doch nie zuvor sagte Mallory, dass Mickey böse sei. Mallory hat selbst auch keine moralischen Hemmungen, als kontingent handelnde Nemesis Opfer zu machen. Das Selbstverständnis dieses »zum Töten geborenen« Paars erfüllt in vorzüglichster Weise das Profil der Konrad Lorenzschen Aggressionstheorie, eben deshalb zu töten, weil es der Instinkt gebietet. Doch wenn Instinkt Unschuld heißt, gibt es das Böse nicht - es wird nur »so genannt«. Warum also soll Mickey jetzt böse sein, just in dem Moment, in dem er jede Kontrolle über sich verloren hat? Mickey entschuldigt sich konventionell, es sei ein Unfall gewesen. Wäre das Böse das Drama der Unfreiheit? Mallory könnte mehr Durchblick haben als die Apologetiker des freien Willens, wenn es um das fundamental Böse geht: »Das war böse! Vielleicht wurden wir von einem Dämon in diese Wildnis geleitet.« Dieses Böse, von dem Mallory spricht, entspringt nicht dem Vorsatz, einer mehr oder minder rationalen Figur, wie es dem Apriori des (Schuld)Strafrechts und seiner eigenen Apologetik entspricht. Es ist das unheimliche, das radikale Böse, es sind ganz im Sinne schwarzer Romantik die »Elixiere des Teufels« (E.T.A. Hoffmann), die Mickey »böse« machen. Der Exorzismus des Indianers, Mickeys Dämonen zu vertreiben, schlägt fehl und kehrt sich gegen diesen selbst. Der Teufel mag bekanntlich Exorzisten nicht. Mickey wird in einer bösen Ordnung zum Todesengel, weil es der Teufel so will. Das Böse, die Schlange, ist eine unheimliche Emergenz, die so real wie imaginiär gerade dann erscheint, wenn es unwahrscheinlich ist. Insofern ist sich der Film seiner paradiesischen und luziferischen Motive sehr bewusst, insbesondere in dem Moment, als Mickey und Mallory bei ihrer überstürzten Flucht aus dem Indianerzelt auf ein Feld von Klapperschlangen geraten und gefährlich gebissen werden. Für Regissseur Oliver Stone, den Buddhisten mit christlich durchtränkter Semantik, ist die Schlange »a creature of knowledge«, die immer dann, wenn Mickey auf eine trifft respektive tritt, eine wichtige Lehre für ihn bereit halte. Erkenntnis tut weh. Gestatten, Voland, Professor für Schwarze Magie Dass das Böse eine Erkenntnisfunktion besitzt, war schon immer klar, weil jeder Widersacher Verstand und Sinne provoziert, um in diesem Widerspiel der Mächte moralische und praktische Remedien zu finden. Ist aber das Böse überhaupt erkennbar oder gilt hier Hannah Arendts Wort von der »furchtbaren Banalität des Bösen….vor der das Wort versagt und an der das Denken scheitert.« Verlohnt es dann nicht noch, über das Böse nachzudenken, weil es für Denker und Literaten zu schwer, zu undelikat, zu grobkörnig, zu »instinkthaft« beschrieben wäre?
Georges Batailles
Versuchen, dem Bösen auf die Spur zu kommen, war eine gewaltige Rezeption
beschieden. Seine nun wieder aufgelegte Schrift »Die Literatur und das Böse«
täuscht im Titel bereits über seine weitreichend transliterarischen Absichten.
Denn Batailles Miniaturen über Emily Brontë, Baudelaire, Michelet, William
Blake, Sade, Proust, Kafka, Genet widmen sich über die Literatur hinausgehend
der so alten wie scheinbar ungelösten Menschheitsfrage nach dem »Bösen« als
Grundkonstituens menschlichen Verhaltens. Bataille entfaltete das Böse als
gesellschaftliches, moralisches, ästhetisches und libidinöses Phänomen im
Kontext seiner einflussreichen Sozioökonomie der Verausgabung, Überschreitung
und Intensität. Die Geschichte von Mickey und Mallory repräsentiert ein
zentrales Moment seiner Ökonomie des Bösen sehr gut: Sie entscheiden sich für
Intensität. Ihnen wurde die Kindheit geraubt, ihre Gefühle wurden verletzt und
unterdrückt, sie waren Opfer - nun holen sie sich selbst, was sie brauchen und
delirieren in der Gewalt. In dieser nicht klischeefreien Storyline suchen sie
den Exzess, riskieren jederzeit den eigenen Tod. Das hieß in der moderateren,
aber psychedelisch todesnahen Variante: »Live fast, love hard, die young«. Für
Georges Bataille bedeutet es, das Risiko der Intensität einzugehen, dem
positiven Menschheitsziel zu folgen, einem Wert an sich, »hart am Rande der
Ohnmacht« und ohne Angst vor dem Tod. Dieser Wert der Intensität habe selbst
keine moralische Kontur. Er bewege sich jenseits von Gut und Böse. An diesen Ort
wurden wir in der späten Neuzeit schon häufiger geschickt, um doch immer wieder
in das nackte moralische Diesseits zu gelangen. Denn wie ist es mit dem anderen,
konventionellen Ziel zu vereinbaren ist, sicher und dauerhaft zu leben. Das
Modell kennt jeder. Wir schlagen über die Stränge, bereuen es - oder auch nicht
- und kehren wieder heim in die fade Alltäglichkeit, um kurz danach erneut wider
den Stachel zu löcken. Diese »Polarität von Intensität und Dauer« löst Oliver
Stone für Mickey und Mallory ganz im Batailleschen Sinne, weil Stone beide
Seinsweisen im Zaubermedium Film alternieren lassen kann. Mickey und Mallory
fahren mit ihren Kindern in einem Wohnmobil der Sonne entgegen, ganz so, wie es
der amerikanische Traum vom so glücklichen wie behäbigen Familienleben zulässt.
In der alternativen Fassung des bösen Paralleluniversums dagegen bleibt Oliver
Stone der »Intensität« treu: Der Mithäftling Owen rettet das Killer-Paar aus dem
Knast und will Sex mit Mallory. Es kommt zum showdown, in dem der »Schutzengel«,
wie ihn Stone charakterisiert, Mickey and Mallory erschießt. Der Umgang mit
Paradies- und Höllenpersonal war noch nie risikofrei. Der Teufel, der wohl nach
unfehlbarer Lehrmeinung des Papstes leibhaft existiert, ist eine reale Figur.
Anders sind seine myriadenfachen Darstellungen mit den peniblen Details einer
Ästhetik des Schrecklichen bis Peinlichen auch nicht zu erklären. Trotz seiner
mythologischen Prominenz macht uns seine Erkennbarkeit bei wechselnder
Erscheinung erheblich zu schaffen. Geradewegs ist das Wesen des personifizierten
Bösen die Täuschung. Er kommt harmlos daher, bietet sich als netter oder
unheimlicher, aber attraktiver Fremder an und schon werden wir in seinen Bann
geschlagen. So erscheinen bei Michail Bulgakow Spaßteufel, wilde wie lustige
Gesellen, hinter deren fröhlicher grotesker Fassade sich die furchtbarsten und
unnahbarsten Finsterlinge verbergen. Aber das weiß man immer erst hinterher -
wenn es zu spät ist. Der Teufel lässt sich nicht in die Karten gucken. Deswegen
ist es auch so schwer, mit ihm zu wetten oder gar auf ihn zu setzen. Er ist
Betrüger, Täuscher und Scharlatan, der immerhin reklamiert, mit seinen
Enttäuschungen Erkenntnis zu fördern. In dem Film »Angel Heart« erfährt der
Privatdetektiv erst zum Schluss, dass er von Satan beauftragt war, der ihm klar
macht, dass just er der Mörder ist, während er den imaginären Täter suchte. Zwischenspiel: Moderne Teufelsaustreibung Was jedoch bleibt vom Teufel jenseits des Glaubens der Exorzisten und Großinquisitoren übrig, nachdem er spätestens seit der Aufklärung immer wieder in den Windkanal moralischer Reflexionen geschickt wurde? Auf einmal gibt es keine bloß bösen Handlungen mehr, sondern das Böse mutiert zur schöpferischen Urkraft und unabdingbaren (und so vielleicht entschuldeten) Seinsweise jedweden Daseins. Der Teufel ist als vormaliger Widersacher nunmehr eine vitale Betriebssystemfunktion unserer Welt, die ihm zahlreiche Transformationen eröffnet: Das Böse wird objektiv als evolutionäres Prinzip erklärt, auf personaler Ebene gilt es als subjektiver Irrtum oder (behebbare) Devianz. Schon Benedict de Spinoza beschreibt das Böse in »Ethica ordine geometrico demonstrata« als das, was der Selbstbehauptung des Einzelnen entgegenstehe. Das Böse ist also hier nicht ein äußeres Prinzip, sondern auf das Subjekt bezogen, das seine Wertordnung in der Spannung von «Gut und Böse« findet. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt, «Jenseits von Gut und Böse« zu operieren, es neu und schöpferisch zu definieren, was schon immer ein Anlass für eine auch politisch geltungshungrige Philosophie war, die Welt ihrem Supercode zu unterwerfen. Nietzsche beklagte, dass der Verbrecher zu seinem »Bösen«, seiner eigenen Wertschöpfung in der dekadenten Gesellschaft des europäischen Nihilismus nicht steht und sein eigenes authentisches Bekenntnis gegenüber der Moral der Gesellschaft schließlich im Stich lässt. Der Verbrecher sei (noch) schlicht zu schwach, seine Wertewelt, seine trotzige Behauptung des Bösen aufrechtzuerhalten, was erst Zarathustra, dem ältesten Moralerfinder, gelingt. Für Opfer ist die kategorische Sicherheit des ausgetriebenen Bösen freilich alles andere als eine Beruhigung. Denn wie man das »sogenannte Böse« vermeidet, bleibt nicht weniger eine Frage wie jene vormalige nach der probaten Magie gegen seine infernalischen Vorfahren. Konrad Lorenz ist nah bei Sigmund Freud, wenn er Übereinstimmungen zwischen Psychoanalyse und Verhaltensphysiologie konstatiert. Zwar lehnt Konrad Lorenz den Todestrieb ab, aber reklamiert für seine (Tiervergleichs)Wissenschaft einen instinkthaften Aggressionstrieb, der im Kampf des Menschen für sein Überleben unverzichtbar sei. Nun ist der Aggressionstrieb eine Konstruktion, die deshalb wenig aussagekräftig bleibt und auch von Lorenz relativiert wird, weil Menschen zahlreiche Techniken besitzen, aggressionspolitisch zivilisiert bis raffiniert zu verfahren, ihre dunklen Energien um- und abzuleiten. Womit das Böse also nach seinem metaphysischen Tod nunmehr in Abreaktions- und Sublimierungsspiralen sterben soll. In dem in den siebziger Jahren erfolgreichen Werk »Die Gesellschaft und das Böse« verabschiedete Arno Plack die These vom Aggressionstrieb: Das »Böse« seien unterdrückte Triebe. Lasse ich Liebe in allen ihren Varianten zu, verschwindet das Böse fast wie von selbst. Das »Böse« existiert auch hier nur als das »sogenannte« Böse, aber eben nicht als unhintergehbarer Instinkt. Diesmal markiert es selbstbezogene Menschen, die nicht lieben können und bestenfalls ein autoerotisches Verständnis ihres Leibes entwickeln. Diese Transformation ist nicht allein Arno Placks Erfindung, der einige Erklärungen präsentiert, aber kaum zureichende, warum denn der Mensch seine eigene Lust, sein leibhaftes Interesse am anderen in Äonen ständig verraten hat. »Was an verdrängter Sexualität in Erziehung und Politik, Wirtschaft, Justiz, Polizei wütet, müsste nach Plack vorerst zu Bett«, schrieb Ulrich Sonnemann in einer wohlmeinenden Rezension. Mag sein, doch Sonnemann wusste wohl auch, dass Gesellschaften mächtige manifeste wie latente Gründe haben, Liebe als befreiten Eros respektive Natur pur nicht zuzulassen. »So ist es dem Christentum gelungen, aus Eros und Aphrodite — großen idealfähigen Mächten — höllische Kobolde und Truggeister zu schaffen, durch die Martern, welche es in dem Gewissen der Gläubigen bei allen geschlechtlichen Erregungen entstehen ließ«. Friedrich Nietzsche ermittelte das Übel auch in der Lust- und Leibverdrängung des Christentums, das aber - folgen wir dem Mephisto-Prinzip - zugleich ein unabsehbares Macht- und Erkenntnisprogramm einleitete, das einer reflexiven Vernunft erst ermöglicht, ihre eigene Tradition moralisch zu hinterfragen. Zu den Aporien moralischer Reflexion Zurück zum paradiesischen Anfang: Der freie Wille, der Gott so angelegen ist, lässt das Böse zu. Das Böse als Nichtkategorie, als substanzloses Nichts belegt in seiner divinen Rückversicherung die Unwilligkeit, das Böse zu erfassen, ihm einen Platz und originäre Qualität zuzusprechen. Dafür, dass das Böse nach Augustinus so substanzlos ist, hat es allerdings einen sehr soliden Wirklichkeitsstatus, wenn wir uns erst einmal auf die Unterscheidung eingelassen haben. Das Böse als Derivat des Guten, nicht als manichäische Gegenmacht, könnte jedoch mehr sein als der Stoff, aus dem man Theodizeen macht, wenn er zugleich eine unhintergehbare logische Kontur hätte. Wie sieht der logische Test aus: Könnte das Abhängigkeitsverhältnis moralischer Werte umgekehrt formuliert werden? Erst kommt das Böse, das Gute wäre dagegen nur seine Ableitung. Wir können zwar traditionell oder mit psychoanalytischer Unterstützung behaupten, dass das Böse ein fehlgeleitetes Gutes ist. Dagegen aber das Gute als akzidentiell zum Bösen zu denken, das Böse also als vorrangiges Prinzip zu formulieren, macht vorderhand wenig Sinn. Hier hilft allerdings die Denkfigur Friedrich Nietzsches, das Gute als eine moralische (!) Schwäche zu behandeln, böse zu sein. Hier werden die Rollen der moralischen Bewertungen von menschlichen Handlungen vertauscht, sodass also cum grano salis das Gute das Böse wäre wie umgekehrt. Nietzsche demonstrierte diese Umwertung der Werte durch einen Tigersprung zurück in die vorsokratische Epoche, vor den Beginn des christlichen Platonismus. Nun sollte eine entmuckerte, ästhetisch sich aufgipfelnde Existenz das Dasein neu rechtfertigen und vitalisieren. Sein Angebot, diese postchristliche Wertefabrikation gleich selbst zu besorgen, ließ ihn in höchster Weise von sich selbst denken, zur Zäsur der Zeitalter werden: »Plato hat es prachtvoll beschrieben, wie der philosophische Denker inmitten jeder bestehenden Gesellschaft als der Ausbund aller Ruchlosigkeit gelten muss: denn als Kritiker aller Sitten ist er der Gegensatz des sittlichen Menschen, und wenn er es nicht so weit bringt, der Gesetzgeber neuer Sitten zu werden, so bleibt er in der Erinnerung der Menschen zurück als 'das böse Prinzip'.« (Friedrich Nietzsche, Morgenröte). In das »Jenseits von Gut und Böse« gelangen wir dadurch heute längst nicht, weil wir uns nicht nur – wenn auch unter anderen Vorzeichen – in die älteste Moralunterscheidung verstricken, sondern die ästhetische Lebensform eine durch und durch vitalistische Fiktion ist, die sich in den Anmutungen der verwalteten Existenz auflöst oder lächerlich (Stefan George) wird. Niklas Luhmann provozierte in selbstreferentieller Anwendung der moralischen Reflexion auf ihre Unterscheidung hin mit der radikaleren Frage, ob es gut sei, den Unterschied von Gut und Böse zu machen. Ist es nicht ein Fehltritt, sich für das Gute zu entscheiden, wenn allein eine moralfreie Beobachtung wissenschaftlich probat wäre? Doch dann ist es gut, sich als Wissenschaftler bei der Untersuchung des Guten, nicht für das Gute zu unterscheiden. Dieser paradoxe Zirkel markiert weiterhin, dass es offensichtlich schwierig bis unmöglich ist, in unserem moralischen Apriori zu formulieren, dass es böse ist, zwischen gut und böse zu unterscheiden. Wenn wir die Unterscheidung auf sich selbst anwenden, entsteht wiederum eine neue moralische Ordnung, in der es gut wäre, nicht moralisch zu urteilen. Fazit ist also, dass in systemtheoretischer Perspektive die zuvor so selbstgewisse Ethik die Moral nicht grundieren kann, sondern kontingent bleibt. Als gesellschaftliche Supercodierung wird das Schema »Gut/Böse« zwar permanent instrumentalisiert, wie es der politische Apparat in seiner »höheren Amoralität« zeigt. Tatsächlich folgen aber – und dafür muss man kein Systemtheoretiker sein – gesellschaftliche Teilbereiche, vulgo: Systeme, völlig anderen Imperativen, was nicht ausschließt, dass die Moral, assistiert von anderen Codes, plötzlich und unerwartet zuschlägt (Beispiel: Karl-Theodor zu Guttenberg). Immerhin kann uns der ewige Ge- und Missbrauch der moralischen Differenzierung dahin führen, die Unterscheidung für nicht gut zu halten, wenigstens aber für bedeutungslos, wenn wir nicht ihren reflexionslogischen Kontext genauer angeben. Wer moralisiert, will verletzen, heißt es bei Niklas Luhmann, was wiederum nietzscheanisch übersetzt heißt: Wer moralisiert, strebt nach Macht. Der Systemtheoretiker rät daher zu einer Ethik, die vor der Moral warnt. Aber ist das nicht wieder der Beelzebub, der den Teufel austreibt? Es macht offensichtlich auch ethisch wenig Sinn, gutes und böses Handeln als inkommensurabel zu bezeichnen, weil die moralische Differenzierung auf das Miteinander beide Werte, auf die Einheit der Differenz angewiesen bleibt. Eine moralische Reflexion, die beide Prinzipien beziehungslos nebeneinander verwenden wollte, wäre ein aporetisches Unternehmen, weil sie keine Aussagen mehr über richtiges Verhalten treffen könnte. Wer das Böse radikalisiert und autonom werden lässt, begibt sich der Kritik. Insofern sind die verhandelten Modelle unzulänglich, sodass jenseits der naiven, aber praktikablen Unterscheidung, »gut« und »böse« zu fragilen Kategorien werden. Die moralische Reflexion der Moral setzt einer Vernunft, die doch praktisch sein will, erheblich zu, ohne dass noch der Glaube bestünde, sich hier aus einer rein strategischen Option für diese oder jene Differenzierung zweier moralischer Zustände noch befreien zu können. Gegenüber manichäischen Wiederbelebungen oder axiomatischen Ontologisierungen des Bösen ist es also vorzugswürdig, die Referenzen des Wertschemas genauer anzugeben. Folgenbetrachtungen von Handlungen sind »moralisch« wichtiger als generelle Standortbestimmungen eines abstrakt Guten/Bösen. Was passiert, wenn ich dieses oder jenes tue, wäre dann eine kategorische Frage, ohne die Antwort in einem vorgeschalteten Imperativ zu suchen, den alle (pflichtgemäß) Handelnden gegenzeichnen. Insofern besitzt die moralische Reflexion selbst eine moralische Qualität, ohne der Aufdringlichkeit einer machtorientierten Ethik verfallen zu müssen, trennscharfe Unterschiede zwischen »gut« und »böse« zu verordnen. »Da die Urteilskraft auf Andere reflektiert, ist nur der ‚böse’ Mensch, der nicht urteilt, den Unterschied nicht kennt, zu allem fähig.« Hannah Arendt formuliert hier den intellektuellen Glauben, dass das Denken selbst nicht böse sein kann. Nur der, der nicht denkt, sei böse. Wir gelangen hier auf dem Weg der politischen Urteilskraft zu einer kommunikativen Vernunft, die schon im Apriori »gut« ist, weil Kommunikation in ihren Geltungsansprüchen darin besteht, den Anderen anzuerkennen. Zur Konstruktion des Bösen bei Georges Bataille Einen völlig anderen Umgang mit dem Anderen markiert Bataille dagegen in einer Erzählung Franz Kafkas, in der der Streit eines jungen Mannes mit seinem Vater im Selbstmord endet. Hier entdeckt Bataille »das souveräne Gleiten des Menschen ins Nichts – das die Anderen für ihn sind.« Die Antinomie, als deren Opponenten Jürgen Habermas und Georges Bataille gelten können und die Arthur Schopenhauer noch glaubte, in seiner »Stachelschweinparabel« besänftigen zu können, lautet: Einerseits bin ich selbst je der Andere, wenn ich mich reflexiv auf ihn einlasse. Andererseits ist der Andere völlig unbegreiflich, weil dieser Hiatus in der monadischen Konstruktion des Menschen unüberwindbar bleibt. Wie nun konstruiert sich das Böse bei Georges Bataille? Das zentrale Problem jeder Theorie des Bösen ist, wie wir gesehen haben, ihr Verhältnis zum Guten. Wie ist das Böse denkbar, wenn nicht in Beziehung zum Guten? Für Bataille transgrediert das Böse die Moral, was nur gelingt, wenn das Verbot existiert. Das Verbot heiligt das Böse (Gerd Bergfleth), was sich in Opfern und Festen erfüllt, in denen die verbotene Handlung, etwa das Töten des eigenen Kindes, zur sakralen wird. Wer das Verbot abschaffe, demontiere dagegen irreversibel die Erhebung des Bösen über die Moral. Batailles wichtigster Gewährsmann ist de Sade, der das Lob des Exzesses und der Intensitäten über sämtliche Eingänge seiner unheimlichen Schlösser eingraviert. Wer wahre Monster im dunkelsten Wald der Triebe kennen lernen will, muss sich nicht erst in Splatter-Filmen ergehen. Die übelsten Gesellen gehören zum typischen Stammpersonal de Sade'scher Orgien. Hier wird so lüstern wie widerwärtig gefoltert, gemordet und jede erdenkliche Niedertracht in allen Redundanzen praktiziert. Oft sorgt sich der Orgientechniker de Sade, dass er es nicht toll genug getrieben hat. Erregungsexzesse sind faktisch und literarisch anstrengend. De Sades Akteure sind Transzendentalartisten des Bösen. Die Überbietung des Bösen, am besten gleich die Vernichtung des Universums, deckt sich unmittelbar mit Schellings radikalisiertem Begriff des Bösen: Das Böse führe »den heftigsten Krieg gegen alles Seyn, ja es möchte den Grund der Schöpfung aufheben.« So könnte das Böse als Konkurrent der bestehenden Wirklichkeit in virtuellen Zeiten besonders attraktiv werden. Gelingt es erst Cyberworld als Überbietung literarischer Phantasien radikal böse zu werden, weil der Grund der Schöpfung, ihre Exklusivität und Einzigartigkeit demontiert werden? Paradigmatisch wird der materialistische Diskurs des von Georges Bataille bewunderten Libertins de Sade, den Jacques Lacan zu Recht mit dem Pflichtenethiker und Verbotstheoretiker Immanuel Kant verkoppelt hat, aus folgendem Grund: Orgien repräsentieren kein simples Lustmodell, das lediglich darin bestünde, jeder Phantasie instantan zu folgen. De Sade verfasste pedantische Erregungsdrehbücher, die maßgeblich auf dem Verbot basieren, Grenzen setzen und Überschreitungen, die bloßer Lust folgen, bei den »Wüstlingen« ahnden. Oft entsteht der Eindruck, dass de Sade mehr über die normativen Voraussetzungen der Erregungssteigerung nachdenkt als über den physiologisch allfälligen Paroxysmus, der ohnehin literarisch kaum beschreibbar ist. Soviel lehrt der göttliche Marquis für alle Lustnaiven: Die böse Lust ist ein zu schwieriges Geschäft, als dass man es dem Zufall überlassen dürfte. Jede Steigerung der Intensität muss sich über Verbote hinwegsetzen, die de Sade entweder aus dem tradierten Kanon christlich-abendländischer Tabus wählt oder aber relativ willkürlich setzt. Ihre Verletzung in den normobsessiven Gesellschaften de Sades wird unter drei dramaturgischen Varianten möglich: 1. Der Libertin hat diese tradierten Werte der Gesellschaft längst nicht verlassen und gewinnt aus einer schizoiden Stimmung heraus die Lust in ihrer Übertretung. 2. Der Libertin glaubt nicht mehr an das gesellschaftlich verordnete Verbot, aber provoziert die Gläubigen mit seiner Verletzung und gewinnt aus der geliehenen Empörung seine Lust. 3. Die Norm/das Verbot werden künstlich errichtet und der Wüstling verletzt sie. In dieser Variante ist das Gesetz nur noch eine leere Form, was den relativ schwächsten Lusteffekt beschert. Doch was ist, wenn das Verbot im amoralischen und atheistischen Subjekt keinerlei Gültigkeit mehr hat und das komplexe Verbotsspiel des göttlichen Marquis (Guillaume Apollinaire) nur noch ridikül anmutet? Der nach Sartre nicht weniger heilige Jean Genet markiert für Georges Bataille eine vergebliche Auflehnung des Bösen, weil das Gute hier abgeschafft werde. Es ist der Weg in die Abscheulichkeit, die von einer »lächerlichen Souveränität« geprägt sei. Folglich gibt es keine Transgression mehr, obwohl dieser Ort so heterologisch erscheint, dass Batailles fundamentale Abwehr nicht in allen Momenten stimmig gerät. Das Spannungsmodell der Poesie kollabiere, weil es seinen zentralen Gegenpol, das Gute, das Verbot, das gesellschaftlich Vernünftige verliert. »Souveränität ist die Fähigkeit, sich unbekümmert um den Tod über die Gesetze zu verheben, die die Erhaltung des Lebens gewährleisten.« Nach dieser suizidalen Souveränität kann man nach Georges Bataille trachten, man kann sie aber nicht in einen Überbietungsdiskurs schicken, der die Gesetze abschafft oder neue Gesetze sucht, die nur noch dem Lob des Bösen folgen. Hier bricht die Kommunikation des literarischen Modells zusammen. Jean Genet mag funkelnde Poesie schreiben, aber ihre Kontingenz und Spannungslosigkeit lässt nach Bataille eine Geschmacklosigkeit zurück, die den Leser erst verspotte und dann negiere. Die je unvollkommene, aber unabdingbare Referenz des Bösen auf das Gute macht die Verhältnisse unübersichtlich, was Georges Bataille zur Einführung einer »Hypermoral« veranlasst, die jene alte Moral des Verbots transzendiert und sich zum Bösen komplizenartig verhält. Jenes von Bataille so emphatisch gesuchte Böse wird in ihr bewahrt. Die Hypermoral ist durch und durch hegelianisch konstruiert, weil die abgelegte Moral so wie das Verbot in neuen Formen spannungsreich aufgehoben werden. Batailles Interpret Gerd Bergfleth hat dieses Paradoxon so formuliert, dass gerade die strenge Einhaltung der Moral ihre Umkehrung ermöglicht, hier werde das authentisch Böse möglich, nicht in den laxen Verhältnissen der Alltagsmoral. Diese Unterscheidung findet sich ähnlich bei Hannah Arendt: »Das radikal Böse entsteht immer, wenn ein radikal Gutes gewollt wird.« »Dieses Böse ist radikal, weil es den Grund aller Maximen verdirbt«, warnte Immanuel Kant, der vom »bösen Herzen« und letztlich der Schwäche spricht, die guten, d.h. die von ihm erkannten Maximen nicht zu praktizieren. Gut und Böse sind in der Hypermoral nicht wie in der Vernunftmoral antagonistische Prinzipien, sondern korrespondieren nach Georges Bataille in der Weise, dass die Leidenschaften nicht länger ausgeschlossen bleiben. In den souveränen Impulsen zeige sich, dass das leidenschaftlich Böse höherrangig als das Vernunftgute ist. Das Böse und die Sexualität besitzen dabei gemeinsam die Eignung, die bestehende Ordnung, die Ordnung der Vernunft zu durchbrechen. Ihre Kollusion, wenn nicht Verschmelzung wird notwendig, um die je als drückend empfundene Herrschaft rationaler Lebensführung im heterologischen Ereignis zu durchbrechen. Die Sphären der Vernunft, der Arbeit und ihrer zivilisatorischen Absicherungen werden in zahllosen Normen und Ordnungsstrukturen gebildet, sodass die Gewalt einer überquellenden Natur nur noch in domestizierten Formen, paradigmatisch im Opfer, zugelassen werde. Batailles (ungelöstes) Problem bleibt dabei das Verhältnis des Exzesses zu einer vernünftigen Ordnung, die entweder den Exzess oder seinen Widerpart notleidend machen. Gerade die Entwicklung der Opferkultur, anfänglich noch von Menschen- und Tieropfern geprägt, sublimiert sich zu einem symbolischen Ritual, dem damit der wahre Stachel des Exzesses genommen wird. Übrig bleiben dann von den aztekischen Menschenopfern Posadas Wackelskelette, die das heilige Opfer in das fröhlich Groteske überführen.
»Je sauberer du bist,
desto schmutziger wird’s!« Aus Batailles naturalistischem Rettungsversuch des Verfemten erwächst längst keine ökonomische Ordnung der Hypermoral, die jene auseinanderstrebenden Züge menschlicher Existenz triebökonomisch harmonisieren könnte. Insofern stellt sich in dieser literarischen Theorie des Bösen dasselbe Problem, das bereits seine totalisierende Theorie der »Aufhebung der Ökonomie« trifft. Im Kosmos Batailles gibt es disparate Zustände, die wie er oft betont, zwei Zielen folgen: einem negativen, lebenserhaltenden und einem positiven, intensitätssteigernden. Dabei führen diese Zustände zu einer unaufgelösten Spannung, wenn ein vorgeblich natürliches Modell des Überflusses und der Verschwendung mit dem individuellen Anspruch der Intensität, aber auch des Überlebens gekoppelt werden soll. Zur letzten Erkenntnis führe nur der Weg, dass sich die Erkenntnis des Nützlichen und die im Sinne Batailles nachgeordnete Vernunfteinrichtungen auflösen. Die wahre Erkenntnis gehe das Risiko der Vernichtung des Erkennenden ein. Batailles Theorie der Verschwendung zielte darauf ab, das geläufige Knappheitsmodell des Wirtschaftens in eine fundamental andere Ordnung der Verteilung von Überschüssen zu verwandeln. Die Natur präsentiere Luxus, sodass dem im planetarischen Maßstab eine Ökonomie zu folgen habe, die sich entweder für eine gloriose oder eine katastrophische Wendung entscheiden kann. Kurz gefasst: Entweder Verschwendung oder Krieg. Jürgen Habermas hat hiergegen zu Recht Einwendungen erhoben. Denn wie sollen heterogene Zustände, die Souveränität im Sinne Batailles und das vernünftige Subjekt in einer konkreten Lebenspraxis zusammenfinden? Ein so schwieriges wie emphatisches Modell bleibt ein Desiderat, das zwar literarisch formuliert werden kann, aber in den verschachtelten Beziehungen von System und Lebenswelt stecken bleibt. Es kommt zu einem »unschlüssigen Hin und Her«, weil es in letzter Konsequenz den Mythos der wilden gefährlichen Natur (des Menschen) beschwört, dem sich der Mensch stellen muss, wenn er wirklich erkennen will. Batailles Unschlüssigkeit lässt sich zugleich als libidinöses Modell deuten, das sowohl seine literarischen Vorlieben wie seine eigene Triebhaushaltspolitik demonstriert. Winfried Menninghaus beschreibt in der »affirmativen Ästhetik des Abstoßenden« eine »Prozessierung des Ekelhaften«, da nach Bataille zentral die Erkenntnis ist, gerade dem ausgeliefert zu sein, was ekelhaft ist. Ekel und Überwindung erscheinen ihm als permanentes Dekompositionsprinzip, in dem sich erst der Sinn des Lebens ausdrückt. Das soziale Leben konstituiere sich geradewegs über den wechselnden Rhythmus von Attraktion und Repulsion, der zu Gewalt, Verausgabung und Tod führe. Insofern ist im Erotischen das Verworfene zugleich der Auslöser der erotischen Attraktion, was jenseits einer ästhetischen »Besudelungstheorie« die Spannungspole bezeichnet, in denen sich Bataille bewegt - eben ein »Hin und Her«, das sich nicht durch Psychoanalyse oder ähnliche Magie befrieden lassen will. Diese Überschreitung des Verbots, um den verfemten Lüsten zu folgen, kollidiert mit den Forderungen der ausgrenzenden, das Subjekt beherrschenden Vernunft. Auch hier gelangen wir zur eigentlichen Schnittstelle der Paradiesgeschichte zurück: Wer sich für den Baum der Erkenntnis entscheidet, wird in die Welt der Vernunft, der Arbeit, des Kampfes um das Dasein hineingestoßen. Wie Georges Bataille am Beispiel Jules Michelet demonstriert, gelingt dann der Ausgleich im einzelnen und beim Einzelnen allerdings auch in weniger existenzieller Weise, ob sich das nun dialektisch und produktiv im Anspruch des Schriftsteller verwirklicht oder als Grundkondition disparater Verhältnisse, beide Zustände zu suchen und ihre Inkommensurabilität in der Zeit aufzulösen. Michelet behebt Schreibwiderstände durch den widerlichen Geruch von Bedürfnisanstalten, was dem Energiemodell Batailles entspricht, über Ekel und Widerwillen intensive Zustände zu produzieren. Friedrich Schiller hatte es da noch erheblich einfacher mit seiner Wahl verrotteter Äpfel, was immerhin zur der Erkenntnis aufschließt, dass der Geruch das intensivste Erleben, vielleicht also auch das böseste eröffnet. Die andere Variante findet sich in der Souveränität Franz Kafkas, der den Vater und seine Welt flieht und deshalb ein Kind bleiben will: »Er wollte mit einem Wort, dass die Existenz einer grundlosen Welt, deren Bedeutungen nicht einzuordnen sind, die souveräne Existenz bleibe, die nur möglich ist, insofern sie den Tod verlangt.« Diabolische Poesie Georges Bataille hält Exzesse letztlich nicht für gesellschaftsstiftend, vielmehr sieht er in ihnen so elementare wie originäre Ansprüche »endlicher Wesen«. Im Exzess überschreiten wir die Sorge um das Selbst, die zivilisatorisch verdrängte Angst vor dem Tod, in dem wir ihm wirklich nahe sind. Der Exzess ist der transzendentale Akt des Daseins, die tiefste Revolte des Menschen gegen seine »Geworfenheit«, ohne die indes eine gesellschaftliche Ordnung nicht möglich ist. Da zum menschlichen Leben die »gewaltsame Erregung« gehöre, könne man nicht auf die Künste verzichten. Mit diesem Wissen um die »Literatur und das Böse« importiert Bataille eine ästhetisch moderierte Intensität, die sublimiert »auslebt«, was als Exzess radikal formuliert wird. Jenseits psychologischer oder ontologischer Zustandsbeschreibungen entsteht aus diesem Glauben eine produktive literarische Theorie, die zahlreiche literarische Epiphanien des Bösen je schon demonstrierten. Gegenüber der mitunter der Pose anverwandelten Exzessivität erweist sich Georges Bataille damit als heimlicher Kathartiker, der den so verfemten wie unabdingbaren Untergrund von Zivilisation und Kultur bezeichnet, ohne nun in einer blanken oder gar politisch systematisierten Revolte Prinzipien kollektiver Selbsterhaltung abzuschaffen. Bataille war im bürgerlichen Beruf Bibliothekar, der neben der Theorie erotische Werke verfasste, die gegenüber den Exzessen de Sades eher überschaubare Fantasien inszenierten. Insofern ist es schwer, in diesem leidenschaftlichen Plädoyer einer abundanten und verworfenen Natur anderes als literarisch raffinierte Fantasien zu sehen, denen eben politisch keine postbürgerlich radikalisierte Kultur eines leidenschaftlichen Heidentums folgt. Diese nur vordergründig erstaunliche Wendung des literarischen Exzesses macht klar, warum Schriftsteller zu Sachwaltern des Bösen werden konnten. Schriftsteller verführte je das Böse, weil es der herausragende dramatische Spannungspol ist, in dem die Verstrickung des Menschengeschlechts in einen katastrophischen Weltenlauf sehr viel eindringlicher geschildert werden kann als in den Konkurrenzerzählungen ewiger Liebe. Der Kurzschluss beider, in der »La divina comedia« und im »Faust« ist dann der eigentliche literarische »overkill«. Faust hat viele Schriftsteller motiviert, den Pakt mit dem Bösen zu schließen. Hier avanciert das Böse zum Prinzip einer Verführung zum Augenblick, zur Welthaftigkeit des wahren Seins, das der Teufel seiner Kundschaft schon immer versprach. Er bietet - wie er es schon zuvor Jesus gegenüber getan hat - die Schätze der Welt an, die Erfüllung aller diesseitigen Wünsche, wenn nur der Mensch sich an den Pakt hält. Denn der Teufel will doch bloß die Seele für ein irdisch unüberbietbares Vergnügen, für die Schätze der Welt und die greifbaren Sinnlichkeiten, über die er verfügt. Bis heute verbünden sich in dieser Rollenzuweisung Schriftsteller mit dem Bösen, weil es die immer flüchtigere Aufmerksamkeit in sinnlicher Direktheit garantiert. Friedrich Schillers Drama «Die Räuber« führte angeblich bei seiner Erstaufführung zu tumultartigen Szenen: »...das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht!« Der Unterschied zwischen Schauspieler und Figur war medienkompetentiell noch nicht hinreichend differenziert, was indes in den heutigen Verwischungen prominenter Ikonen längst nicht so fundamental anders ist. Wer oder was ist Lady Gaga? So wird der Mythos der Figur über die Rolle hinaus produziert, was das kapitalistisch wuchernde Star-System so transgressiv und leidlich lustvoll macht. Georges Bataille leitet seine literarischen Betrachtungen mit der Feststellung ein, dass seine Generation »tumultuarisch« ist. Im Blick auf jene furiose Erstaufführung Schillers ging es aber um einen umgekehrten Tumult, weil die Intensitäten der Literatur im Laufe langer Schreibzeiten erheblich gelitten hatten. Die Literatur war zur Zeit des frühen Bataille nur noch Literatur, Teil eines Betriebs, institutionell erstarrt. Diese Grenzen wollten Dadaisten, Futuristen und Surrealisten sprengen, was zwangsläufig die Frage nach entschiedeneren, härteren, direkteren, mit anderen Worten, böseren Mitteln forcierte. Für Jean-Paul Sartre stellte sich das so dar: »Sobald die Poesie sich das Böse zum Gegenstand wählt, vereinen sich die beiden Arten einer Schöpfung mit begrenzter Verantwortung und gehen ineinander über.« Bernard-Henri Lévy lehnt für Sartre zwar die Vorstellung ab, dass sich das Gute und das Böse - in welcher Dialektik auch immer - versöhnen. Für Sartre existiere das Böse als komplementäres, aber antagonistisches Prinzip. Zugleich verweist Sartre aber auf die uns inzwischen wohl vertraute hinkende Dialektik, wenn er die Sünde als Anerkennung des Guten nobilitiert. In der literarischen Welt liegt diese Motivwahl aber nicht nur in der poetischen Expressivität des Bösen, sondern vielleicht mehr noch darin, das Böse zu beherrschen. Dieses semantisch geformte Böse tut nicht weh, worauf Roland Barthes in seinen Bemerkungen zu de Sade hingewiesen hat. So wie die Lust an vielen abjekten Zuständen ist das Böse in den manipulierten Zeichen sicher domestiziert, was dann die ästhetische »Rehabilitation des Bösen« (Peter Brinkemper) bei späteren Adepten wie Karl Heinz Bohrer und anderen Vertretern des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs gut verkraftbar erscheinen lässt. Ästhetische Sicherheiten lassen jeden Schrecken zu. Dieser Diskurs des Schreckens, der das Unbehagen in der Zivilisation spannungsgeladen zombifiziert, hat viele Ableger. So ist die Literatur seit dem 18. Jahrhundert angefüllt mit diabolischen Szenen, während die gesellschaftlichen Kontexte immer vernunftgeladener werden und das heilige Opfer nur noch eine Reminiszenz ist. Im furiosen Klassiker zur schwarzen Romantik »Ritter, Tod und Teufel« analysierte Mario Praz die diversen Aufgipfelungen des laut tönenden bis sublimen Bösen, das in der Literatur in dem Moment mit poetischer Macht auftritt, als seine besten Zeiten auf den realen Scheiterhaufen dieser Welt längst vorbei sind. Der Teufel und seine Varianten, Vampire, Werwölfe, Monster, Wiedergänger markieren das Gegenprinzip zu einer rationalisierten Welt, die so viel Unbehagen auslöst, dass sie sich in den schwarzen Phantasien vom Zivilisationsdruck erholen muss. Das Böse ist das unangepasste Prinzip, der inkarnierte Widerborst, die Kontingenz, der schreckliche Zufall, der eben in technophilen Gesellschaften längst nicht ausgetrieben ist. Das Böse wandert in das System ab (Florian Rötzer), verwandelt sich zu einer immer bedrohlicheren Tücke des Objekts und einer logistisch operierenden Herrschaft der Administratoren. In der Rationalisierung der Welt begreift sich das literarische Prinzip als Irritation, als Provokation einer metaphysisch entzauberten Ordnung, die das Subjekt nur noch als solches gelten lässt. Dieses Subjekt verfügt weder über sich selbst noch findet es Remeduren in einer zuvor metaphysisch so spendablen Welt. Die Literatur steht außerhalb wie innerhalb dieser Welt, wenn sie jene Zustände beschreibt, die der vorgängigen Ordnung ausgetrieben wurden. Doch schon erhebt sich die Frage, inwieweit die rationale Ordnung der Wirklichkeit nicht selbst eine Prätention ist, während sich permanent in diesem Anspruch just jene Exzesse vollziehen, die weder literarisch heterologisch noch pathologisch respektive kriminologisch weggeräumt werden können. Insofern wartet die rationalisierte Wirklichkeit nicht weniger mit dem »Bösen« auf, dessen Perfidie nun gerade darin liegt, sich zu entschwefeln und in System- und Technikimperativen auf Unsichtbarkeit zu hoffen. Der faschistische Staat wird zum Faszinosum, was Georges Bataille den Vorwurf einbrachte, hier in Abgrenzungsnöte seiner Theorie zu geraten. Bleibt für die Literatur in diesem flüchtenden Diskurs überhaupt noch Stoff übrig? »Aber natürlich ist für die Geschichte des Bösen die Erfahrung der Shoa eine ganz besondere. Durch sie kommt die Frage auf, ob man das Böse noch ästhetisieren darf.« (Peter-André Alt) Nicht nur hier erweist sich Theodor W. Adornos Verdikt als folgenreich, wiewohl gerade die pointierte Ästhetisierung seiner Philosophie in ihrer eigenen Selbstbespiegelung eine durchaus ambivalente Antwort auf die Frage gibt. Die Gratwanderung, den Schrecken zu positivieren und ihn andererseits als das Erhabene, der Anschauung Entzogene zur Literatur werden zu lassen, demonstrierte zuletzt Jonathan Littells «Die Wohlgesinnten«.
Das
Böse in der Literatur und noch stärker in neuen Medien ist jenseits des sich
selbst bestreitenden Verdikts gegen seine Poetisierbarkeit zu einer Spielfigur
geworden, die einerseits die dramatische Spannung sichert, andererseits aber
auch das Groteske, Lächerliche in unzähligen Horrorfantasien garantiert. Der
Exzess, der Georges Bataille so unabdingbar als Moment der conditio humana
erschien, wird
»in
der verwalteten Welt« oft genug auf Schwundstufe gefahren. Müssen wir das so
reine wie heilige Böse unter Artenschutz stellen? Das Böse ist jedenfalls
gefährdet, vom realen Schrecken in die banale Ästhetik der Geisterbahn und ihrer
Nachfolgeeinrichtungen verräumt zu werden. Von dieser Banalität spricht Hannah
Arendt nicht, sondern von einem Bösen, das sich (vergeblich) dem Zugriff durch
seine personale Freizeichnung im administrativen Kontext, in der verdinglichten
Sphäre des Staates entziehen will. Die Diskussion über Hannah Arendts Diktum
macht weiterhin die Fährnisse einer instrumentellen Vernunft deutlich. Denn es
bleibt das Banale wie das Radikale des Bösen als Diskurshemmnis bestehen, als
die Provokation, woran nach Arendt das Denken scheitert. Insofern könnte der
literarische Widerstand gegen das vordergründige Verstehen wichtig bleiben, der
provokanter ist als die zahlreichen Kategorisierungsversuche, das Böse in den
rationalen Griff nehmen und endgültig austreiben zu wollen.
»Die
Literatur und das Böse« bleibt hierin trotz aller Ambivalenzen des verhandelten
Modells, den Exzess als natürliches Dasein zu feiern, eine eminent wichtige
Verunsicherung unserer triebökonomischen Selbstbeschreibungen, die
offensichtlich wenig geleistet haben, so unterschiedliche Horrorszenarien wie
Abu Ghraib oder das Familienvergewaltigungsverlies des Josef Fritzl bis hin zum
alltäglichen Töten und Foltern in vorgeblich chirurgischen Kriegen endgültig in
die Geschichte menschlicher Irrungen und Wirrungen zu versenken. Wer sich nicht
in persönlicher Selbstbefragung auf den Diskurs Georges Batailles einlässt,
läuft jederzeit Gefahr, sich just dem Personal zuzugesellen, dessen so exzessive
wie bewusstlose Haltlosigkeit je die besten Gründe fand, zum Wolf des Menschen
zu werden. Denn wie erläuterte Josef Fritzl sein schändliches Tun:
»Ich
hab' es eigentlich gut gemeint.« Hätten die Diktatoren dieser Welt sehr viel
anders geredet? Wir lesen dagegen »Die Literatur und das Böse« in der Hoffnung,
so böse zu werden, wie es eine Welt verdient, die
stets das Gute verkündet und nicht
stets, aber oft genug, damit
das Böse schafft. |
Georges Bataille Alt, Peter-André: Ästhetik des Bösen, München 2010 Arendt, Hannah: Über das Böse, München 2007 Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1986
Georges
Bataille
Peter V.
Brinkemper zu
Peter-André Alts »Ästhetik des Bösen«,
in:
Andreas Hetzel,
Peter Wiechens (Herausgeber):
Eagleton,
Terry:
Habermas,
Jürgen
Bernard-Henri
Lévy
Lorenz, Konrad
Winfried
Menninghaus:
Rötzer,
Florian (Hrsg.): Safranski, Rüdiger: Das Böse, Frankfurt/M. 1999
Mark Twain,
Der geheimnisvolle Fremde, |
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