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Aktuelle sozialdokumentarische Fotografie
Der
in Heidelberg ansässige Kehrer-Verlag hat sich mit seinem ambitionierten
Kunstprogramm etabliert und
zu einem
Zentrum der modernen sozialdokumentarischen Fotografie entwickelt.
Zugegeben, die genannten
Verlage sind nicht die einzigen, in denen außergewöhnliche Kunst- und Fotobücher
erscheinen. Aber es sind zweifellos die Schwergewichte auf dem deutschen Markt.
Der Anspruch, den sich die Macher des Hauses gegeben haben, ist hoch. Zeitgenössische Kunst und Fotografie sowie die Kunst des 17. bis 19. Jahrhunderts stehen im Fokus des Verlags, welches jeden seiner Titel nach eigener Auskunft in „enger Zusammenarbeit mit internationalen Künstlern, Autoren, Museen und kulturellen Institutionen“ herstellt. Das Ergebnis sind außergewöhnliche Titel, die sowohl inhaltlich als auch durch eine besondere Erscheinungsweise auffallen. Dem Autoren ist der Verlag mit dem Titel Georgischer Frühling erstmals aufgefallen. Dabei handelte es sich um den beeindruckenden Begleitband einer Ausstellung der Aufnahmen von zehn Fotografen der renommierten MAGNUM-Agentur, die im Frühjahr 2009 durch Georgien reisten und den Status Quo des Landes in Bildern festhielten. Die sozialen Zustände, historischen Wunden, traditionellen Zeremonien und ersten Spuren der Moderne in dem sich im Aufbruch befindenden Georgien hält dieser Band bis heute auf eindrucksvolle Weise fest. Dieser Bildband ist exemplarisch für Herangehensweise und Programm des Verlags. Sie alle sind von Neugier und gesellschaftskritischen Interesse an den Realitäten der Gegenwart geprägt, ohne dabei die Geschichte aus dem Blick zu verlieren. Zugleich stellen sie Liebhaberstücke der sozialen Fotografie dar, verbinden den Ansatz der sozialdokumentarischen Fotografie mit dem Anspruch cineastischer Erzählung. Ungewöhnliche Themen und Perspektiven werden darin aufgegriffen und visuell untersucht. Dabei werden Lücken geschlossen, von deren Existenz der Betrachter noch gar nichts wusste. Einige ausgewählte Titel der jüngsten Programme sollen dieses kühne Lob belegen. Der Bildband Desert Birds mit Aufnahmen des deutschen Fotografen Werner Bartsch, präsentiert Wracks. Schrittflugzeuge, rostige Treppenwagen und sinnlose Anzeigentafeln. Bartsch hat im Südwesten der USA, in den Weiten der Steppen und Wüsten von Arizona, Texas und New Mexico, die riesigen Flugzeuglagerplätze aufgesucht und die skurrilen Schrottlandschaften festgehalten. Es sind Überreste gigantischer Flugzeugflotten, die dort aufgereiht stehen, der Witterung und den Plünderern ausgeliefert. Bartsch hat in dieser Kulisse Perspektiven gefunden und Aufnahmetechniken angewandt, die die Schrottmaschinen zum Teil der Inszenierung einer düsteren Zukunftsvision machen. Wolfgang Bartschs Perspektiven inszenieren die metallenen Überreste zu Mahnmalen der Moderne. Die nicht selten langen Belichtungszeiten legen über die Bilder einen metallenen Film, der den Betrachter das Gefühl haben lässt, durch eine dystopische Landschaft zu wandern. Mit seinen Fotografien macht ruft uns Werner Bartsch den Weg ins Bewusstsein, den der Homo Sapiens in den zurückliegenden Dekaden eingeschlagen hat. Er erzählt die Geschichte der selbstverschuldeten Tragödie der ressourcenvernichtenden Globalisierung. Denn diese Flieger sind die Überreste der menschlichen Sehnsucht, jederzeit überall unter den immer gleichen Bedingungen leben und die eigene Welt in die Fremde und das Fremde in die eigene Welt transportieren zu können. Dieser menschlichen Sehnsucht nach der Fremde bedient sich auch der Verlag, etwa in seinem Band 1979. Die dort versammelten Fotografien sind Wegmarken auf der Suche nach einem gewissen Onkel Hamid, einem Verwandten des deutsch-iranischen Fotografen Maziar Moradi. Wer dieser Onkel ist, bleibt selbst nach der intensiven Betrachtung der versammelten 37 Farbfotografien verborgen. Die einzelnen Aufnahmen stehen in keinem sich erschließenden Sinnzusammenhang. Ihre scheinbar willkürliche Anordnung hebt jeden Bezug, der möglicherweise einmal zwischen den Bildern bestand, auf. So wird des Betrachters Phantasie angeregt, der nun Referenzen sucht, wo vielleicht nie welche waren. Zeitliche und räumliche Zusammenhänge werden selbst kreiert, um dem Ganzen ein Sinn zu geben. Es ist ein geradezu filmischer Prozess, der hier beim Betrachter provoziert wird. Die Ästhetik der zeitlosen Aufnahmen Moradis erinnert dabei wohl nicht zufällig an die Bildsprache des aktuell sehr erfolgreichen, iranischen Kinos. 1979 ist die anregende Spurensuche einer dramatischen Familiengeschichte, die in der Vergangenheit verankert ist und zugleich zahlreiche Anspielungen auf die iranische Gegenwart enthält. In die Vergangenheit ist auch Yael Ben-Zion eingetaucht, als sie die 5683 Meilen auf sich genommen hat, die sie von ihrem neuen Zuhause New York und ihrer alten Heimat Tel Aviv trennen. Ihr dokumentarischer Bildband 5863 miles away ist der Versuch, sich Israel und seiner besonderen Situation aus der Ferne zu nähern. Dabei rückt sie Israel förmlich auf den Leib. Ihre Detailaufnahmen erzählen von Ben-Zions Befremden gegenüber dem israelischen Alltag, der von dem Zustand der Militarisierung und Abschottung geprägt ist. Ben-Zion will mit ihrer Details einfangenden Fotografie keine moralische Diskussion über Schuld und Unschuld oder Täter und Opfer führen. Sie will auch nicht nach der Berechtigung der nahöstlichen Paranoia fragen. Sie will nur nüchtern aufzeigen, wie sehr dieser Zustand den israelischen Alltag durchdrungen hat. Ihre Objekte sind die Metaphern dieses absurden Daseins: die Katze vor der Eingangsschwelle zum Luftschutzbunker, die nackte Barbie vor der französischen Ausgabe von Schindlers Liste, die gefallene Krone. Als Yael Ben-Zion noch in Israel lebte, wären ihr diese Dinge und deren Symbolhaftigkeit nicht aufgefallen. Erst der Blick aus der Fremde hat dies möglich gemacht. Ihr Kaleidoskop der Eindrücke ergibt am Ende das Bild eines Landes im Ausnahmezustand, den man erst von außen gesehen als kafkaesk wahrnimmt, weil er von innen betrachtet Normalität ist. Normalität – diese hat André Lützen in Vietnam gesucht, genauer gesagt in Hanoi. Die in dem Band Public Private Hanoi versammelten Aufnahmen zeigen ungeschönt die sozialen Gegebenheiten in der vietnamesischen Hauptstadt. Aufbruch und Verfall, Tradition und Moderne, Lebenslust und Seelenleid, Reichtum und Armut, verzaubernde Romantik und nackte Realität sind nur einige der Pole, zwischen denen sich Lützens Fotografien bewegen. Sie zeigen nicht nur, dass die schimmlige Patina in dem tropisch-feuchten Klima hartnäckig die Häuserwände im Griff hat, sondern auch, wie die Spuren der tragischen Geschichte Vietnams die Menschen und ihren Alltag prägen. Public Private Hanoi ist vor allem aber auch eine Dokumentation des öffentlich zelebrierten Privatlebens. Wenn die eigenen vier Wände zu klein oder muffig sind, wird das Wohnzimmer vor die Eingangstür und der Küchentisch auf dem Bürgersteig gesetzt. André Lützens Hanoi-Band ist eine facettenreiche Liebeserklärung an die nordvietnamesische Stadt und ihre Bewohner, die voller Bewunderung für deren Lebensmut angesichts der sie umgebenden Umstände sind.
Die hier exemplarisch
vorgestellten Fotobände stellen nur eine Auswahl des anspruchsvollen Programms
dieses bemerkenswerten Kunstbuchverlags dar. Mit einigem Recht kann sich der
Verlag Kehrer als deutsches Zentrum der modernen sozialdokumentarischen
Fotografie fühlen. Die Achtung der hier versammelten Fotografen vor der
Wirklichkeit und ihre aufgeschlossene Einstellung gegenüber dem Menschlichen
erinnern an den Anspruch der MAGNUM-Fotoagentur. |
Werner Bartsch
Maziar Moradi
Yael Ben-Zion
André Lützen
Andrej
Krementschouk
Andrej
Krementschouk
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