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Sprengsätze

Die unzeitgemäße Gedanken des kolumbianischen Denkers Nicolás Gómez Dávila

Von Herbert Debes



Von den einen wird der kolumbianische Autor und Philosoph Nicolás Gómez Dávila als würdiger Nachfolger von Schopenhauer und Nietzsche gefeiert, den andern gilt er als elitär konservativer Thesenschmied. Er selbst sagt von sich: »Meine Überzeugungen sind die eines alten Weibes, das im Winkel der Kirche seine Gebete murmelt.« Heiner Müller zollte ihm auf seine eigensinnige Weise Respekt: »Der Klassenfeind greift zu den teuflischsten Mitteln, doch: Gruß über den Graben!« Und selbst Gabriel García Márquez erwies ihm die Ehre: »Wäre ich nicht Kommunist, ich dächte ganz wie Gómez Dávila.«
Sein einzigartiges Werk umfasst einige tausend Seiten, doch der 1994 verstorbene Eremit ist bei uns nur wenigen bekannt. Wer war dieser Solitär, Selbstdenker, freie Geist, der nie einen Roman schrieb, keine Theoriegebäude entwarf, lediglich Aphorismen, Fußnoten eines imaginären Welttextes. Wie hingeworfen wirken die Namen, die er den Büchern gab: Notas, Textos und vor allem Escolios.
Nur, muss man sagen, denn aus Dávilas Schreibwerkstatt kommen extrem verdichtete Miniaturen, jahrzehntelang geschliffene Diamanten von größter Härte, unter denen mancher Sprengsatz verborgen ist. Um die Verbreitung seiner Werke hat er sich nie besonders bemüht – aber jetzt, einige Jahre nach seinem Tod, scheint der Siegeszug von Nicolás Gómez Dávilas Aphorismen so etwas wie eine unaufhaltsame Notwendigkeit. Auf Deutsch erschien sein Aphorismenwerk - »Die Scholien« in dem kleinen Karolinger Verlag in Wien mit sprechenden Titeln wie: »Einsamkeiten«, »Auf verlorenem Posten« und »Aufzeichnungen des Besiegten«.
Nun ist in der Anderen Bibliothek eine »Auswahl seiner
Sprengsätze« erschienen. Martin Mosebach, seit Jahrzehnten ein Verehrer von Dávilas Hauptwerk, hat aus Tausenden von Seiten die Crème de la Crème herausdestilliert und stellt in dem Band, »Das Leben ist die Guillotine der Wahrheiten«, einen solitären Denker von Weltgröße vor. Der Autor Martin Mosebach hat den Eremiten über die Jahre in Santafé de Bogotá (Kolumbien) wiederholt besucht und seine Lebensumstände in dem atmosphärischen Essay Einsiedler am Rand der bewohnten Erde eindrucksreich illustriert, den wir mit freundlicher Erlaubnis des Matthes & Seitz Verlages hier wiedergeben.
Bei dem Titel dieses Bandes 263 der Anderen Bibliothek handelt es sich um ein Zitat aus dem Hauptwerk Davilás, den »Notas«, die bei Matthes & Seitz Berlin erfreulicherweise mittlerweile bereits in der 2. Auflage erschienen sind.
Der Bruder des Autors ließ 1954 in Bogotá dieses Werk als Privatdruck in einer Auflage von einhundert Exemplaren drucken, und erst im Jahre 2004 erschien die erste offizielle spanische Buchausgabe in Kolumbien. Nachdem die späteren Bücher von Gómez Dávila in Deutschland bereits Aufsehen erregten, wird dieses Hauptwerk überraschen: es konzentriert sich in vulkanischen Splittern auf die Sinnlichkeit des Menschen und die drei großen Fragen: Was Denken? Was Tun? Was Glauben? HD

»Eine unverwechselbare und reine Stimme«
In seinem Nachwort schreibt Franco Volpi: »Es gibt Schriftsteller, die scheinbar aus dem Nichts auftauchen. Die auf ungeahnte Weise in einem ihnen fremden Umfeld hervortreten, ohne daß sie von etwas oder jemandem vorbereitet wurden, ohne Vorläufer, ohne Begleitumstände oder Erkennungszeichen, mit denen sie sich leichter bestimmen ließen. Sie sind exzentrisch, unbequem und ungewöhnlich, nicht einzuordnen und ebendeshalb unverwechselbar.
Nicolás Gómez Dávila gehört durch die Art, wie er schreibt, und durch das, was er schreibt, rechtmäßig zu ihnen. Sein Werk ist in der Literatur und Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts ein eher einzigartiger als sonderbarer Fall: Das in diesem Werk geschaffene Universum, worin Stil und Ideen zu einer festen Einheit verschmelzen, bietet sich als ein geschlossener Raum dar: Um ihn zu betreten, helfen kein rationales Herangehen und keine logische Folgerung. So etwas läßt sich nur erreichen, wenn man sich in ihn hineinversetzt. Das Verständnis ist in diesem Fall tatsächlich eine Frage der Empathie, daß man es vermag, in die Gedankenwelt des Autors einzudringen, indem man Intuitionen und Visionen, Sympathien und Idiosynkrasien, Vorlieben und Anathemata vereint. Glücklicherweise verfügen wir über ein hilfreiches hermeneutisches Instrument, das uns Gómez Dávila hinterlassen hat, ohne eine derartige Absicht damit zu verbinden: ein Band, der in den fünfziger Jahren auf Anregung seines Bruders Ignacio – ebenfalls eines Schriftstellers – unter dem einfachen Titel Notas. Dabei handelt es sich um ein ganz eigentümliches Werk: einen experimentellen Text, der aus Notizen, Maximen, Bemerkungen, Aussprüchen und Meinungsäußerungen besteht. Es erlaubt uns, einen Einblick in die Werkstatt Gómez Dávilas zu erhalten, seine schöpferischen Regungen von Anfang an zu verfolgen, seinen Geist zu verstehen, seine Genialität zu ahnen und den unverwechselbaren Stil zu genießen, der mit blitzartigen sprachlichen und gedanklichen Verkürzungen arbeitet. Im Grunde liefert uns Notas den – theoretischen, poetischen, manchmal auch persönlichen und biographischen – Schlüssel, um die Sichtweise Gómez Dávilas zu ergründen.«

Einsiedler am Rand der bewohnten Erde

Vorwort von Martin Mosebach zu Nicolás Gómez Dávila - Notas - Matthes & Seitz Berlin


Sein Haus war von feierlicher Stille; vor siebzig Jahren hatte es zu seiner endgültigen Form gefunden. Eine feingraue Blässe lag über allen Gegenständen. Ich kann mir nur schwer vorstellen, daß seine Interieurs nicht mehr existieren, denn sie hatten etwas von ägyptischen Grabkammern, die erst nach dem Tod des Grabherrn ihre Aufgabe zu erfüllen haben. Nicolás Gómez Dávila hätte das Bedauern der Freunde, die von ihm einmal geschaffene und dann nie mehr veränderte Umgebung schon bald nach seinem Tod zerschlagen zu sehen, hingegen nicht verstanden. Dem antiken Lakonismus seines Werks wäre das Anekdotische einer wohlkonservierten Dichterresidenz nicht angemessen gewesen. Man hätte von seinem Haus als einem Kleid sprechen können, das er nicht mit in den Sarg nahm. Und doch lohnt es sich, an die matte Patina und das schon historisch gewordene Unpersönliche seiner Räume zu erinnern, in denen er sich wie auf den Straßen und Plätzen einer verlassenen Stadt bewegte. Bei meinem ersten Besuch sah ich vor dem aus Sandsteinquadern errichteten Tudor-Haus eine Indianerin Blumen verkaufen. Ich hatte keine Gabe bei mir, denn der alte Familienfreund der Gómez, der mich begleitete, hatte mich gewarnt, dass »Don Nicolás nichts mehr ißt, trinkt und liest«. Blumen dürfte ich auf keinen Fall mitbringen, sagte der Mann, wie mir vorkam, etwas verächtlich. In diesem dem trivialen Leben weit entrückten Haus hätten frische Blüten tatsächlich geradezu schockierend gewirkt, wie unanständig mit Lebenssaft prahlend. Die umliegenden Villen waren durch stacheldrahtrollenbewehrte Mauern gesichert, in Schilderhäuschen hockten bewaffnete Wächter. Das Haus Gómez Dávila wurde offenbar nur von seinen blinden, bleigefaßten kleinen Fensterscheiben geschützt. Omnibuskarawanen rollten an ihm vorbei; gegenüber gab es einen hochmodernen Supermarkt mit Computerbildschirm über jedem Mangohaufen. Das Haus lag weit entfernt von der barocken Altstadt, an einer schnurgeraden Achse, an der entlang das neue Bogotá ins leere Land vorrückte. Häufig ist die Andenhochebene, die sich mehr und mehr mit den Hütten bäuerlicher Zuwanderer und Betonunrat füllt, in eine Nieselregenwolke gehüllt. Obwohl die Stadt hoch liegt, ist es in ihr wie in einer Unterwelt. Santafé de Bogotá ist ein Verbannungsort. Es verblüfft zunächst, daß ein Nicolás Gómez Dávila hier lebte und nicht in Neuilly oder auf den Parioli-Hügeln. Doch dann fragt man sich: Wo anders als am Rand der besiedelten Erde hätte ein Mann wie er wohnen sollen?

Es ist gewiß ungewöhnlich, über einen philosophischen Schriftsteller zu sprechen, indem man seine Zimmer beschreibt, bei Nicolás Gómez Dávila aber aufschlußreich, weil sich in diesen Räumen eine Einheit von Denken und Leben offenbart. Die große Halle war kahl, hatte einen Steinboden und einen dicken schwefelgelben Teppich mit einem wappenartigen Muster in der Mitte, kein Familienwappen übrigens, die Familie besaß keins, ungeachtet ihrer Tradition und ihrer bis in vorrepublikanische Zeiten zurückreichenden Geschichte. Einziger Schmuck der Wände war ein Mönchsporträt aus dem 18. Jahrhundert, sehr schwarz, ein ehemaliger spanischer Vizekönig. Er hatte sich in seiner Staatskarosse zu einem Franziskanerkloster fahren lassen, um dort Minderbruder zu werden. In der Rückwand der Halle war eine Glastür zum Innenhof; hier stand ein schwarzer Buick aus den vierziger Jahren. Auf Frontscheibe und Lack lag gelblicher Staub: Kaiser Rotbarts Limousine im Kyffhäuser hätte so aussehen können. Im Salon hatte gewiß selten ein Mensch Platz genommen. Rot und silbern gefasste Prunkmöbel im kolumbianischen Kolonialbarock paradierten vor den Wänden, Erbstücke der Dávilas aus der Sklavenhändlerstadt Santa Marta. In der Mitte stand ein Boulle-Tisch aus dem zweiten Kaiserreich, wahrscheinlich in Paris auf der Weltausstellung gekauft. Ein bleigrauer venezianischer Spiegel reflektierte schemenhaft eine ebenso bleigraue spanische Kolonialbarock-Madonna in pyramidenförmigem Ornat, ihr kleiner Kopf war indianisch dunkelhäutig. Das Eßzimmer war mit Art-Déco-Möbeln eingerichtet, sehr kühl in schwarzem Lack und grauen Bezügen. Es glich dem Salon einer Yacht. Der Mann, der nach seinen Pariser Jugendjahren nur noch eine einzige Reise, nach dem zweiten Weltkrieg nach Europa, unternehmen sollte, konnte sich bei seinen Mahlzeiten wie auf einem Paqueboot fühlen. Das Eßzimmer war wohl ein Geschenk der Eltern für den frisch verheirateten Don Nicolás. Über dem Beginn der Ehe lag etwas Dramatisches: Der soeben aus Paris zurückgekehrte Zwanzigjährige hatte sich in eine verheiratete Frau von einundzwanzig Jahren verliebt — welche Anstrengungen erforderlich waren, diese Ehe im Kolumbien der zwanziger Jahre zu annullieren, ist mir nicht bekannt; der neuen Ehe war es bestimmt, sechzig Jahre zu dauern, bis zu Don Nicolás Tod.

An anderer Stelle habe ich beschrieben, wie ich im Haus Gómez Dávila bei meinem ersten Besuch empfangen wurde: wie sich hinter der schweren, mit schmiedeeisernen Nägeln beschlagenen Tür nach dem Klingeln zunächst nichts rührte, bis schließlich durch ein Fensterchen das Pfannekuchengesicht eines Faktotums sichtbar wurde, die Tür sich öffnete und die gesamte Casa Gómez Dávila, nach Rang und Alter, eine Art Ehrenspalier zu dem Greis bildete, der sich vor der trüben Glastür und dem staubigen Buick aufgestellt hatte. Der achtzigjährige Gómez Dávila, dem das Stehen schwerfiel, stand im Raum, wie er wohl sein ganzes Leben gestanden hatte, leicht gebeugt, wie hochgewachsene Leute es zu tun pflegen, die gewöhnt sind, sich ihren Mitmenschen zuzuneigen. Er war im Morgenrock und hielt eine kalte Zigarre zwischen den Lippen. Als er mich begrüßte, fiel sie zu Boden, was mir die Gelegenheit gab, ihm zu Füßen zu fallen und sie aufzuheben. Ich sah seinen großen Schädel mit der gewölbten Stirn, le front bombé, wie bei den Statuen der späten Gotik, die Wangen wirkten eingefallen, die Lippen bildeten einen schmalen dunkelroten Strich. Mit einer Handbewegung bat er mich in die Bibliothek. Er lächelte nicht. Er gebrauchte keinerlei konventionelle Begrüßungsformeln und stellte keine rituellen Fragen nach dem Verlauf meiner Reise. Ich war Tausende von Kilometern zu ihm gereist; am ganzen Kontinent Südamerika interessierte mich er allein, und auch in Kolumbien würde für mich nur bedeutsam sein, was mit ihm in Verbindung stand. Obwohl erst sehr wenige ausländische Leser zu ihm gefunden hatten, erschien es ihm selbstverständlich, daß ich zu ihm kam und mit ihm sprechen wollte. Die Bibliothek war ein kleiner Saal mit Regalen bis zur Decke. Ein langer Tisch war hoch mit Büchern beladen, auch unter dem Tisch stapelten sie sich, als wüchsen sie aus dem Boden. Wir setzten uns vor den Kamin, auf dessen Sims die alte Enzyklopädie der kastilischen Sprache aus dem 17. Jahrhundert stand. In der Feuerstelle stand ein Gasöfchen, das trotz der Kälte nicht angeschaltet war. Draußen der Nieselregen, hier drinnen die schönen, dämmrigen, seit Jahrzehnten in einem Prozeß der Petrifizierung begriffenen Zimmer. Gómez Dávila konnte auf sein Haus wie auf ein weit entrücktes Stück Geschichte blicken, wie auf eine untergegangene Epoche, mit der er sympathisieren mochte, ohne sich über ihre Unwiederbringlichkeit zu täuschen. Er übte sich in der Kunst, sich von seinem erloschenen Öfchen nicht wegzubewegen und doch nicht zu Hause zu sein. Er sah sich nicht als Bürger seines Landes und nicht als Zeitgenossen. Seine Leidenschaft galt der Beschäftigung mit der Geschichte, aber nicht um aus der eigenen Zeit in geisterfüllte Räume zu fliehen, obwohl er glaubte, daß etwa die Jahrhunderte zwischen Konstantin dem Großen und Dante »goldene Zeiten« waren. Dennoch war Geschichte für ihn nicht die Erzählung eines Niedergangs. Schöpferische Epochen, Gipfelpunkte der Kultur, Austrocknung, Barbarei und Unfruchtbarkeit wechselten sich in seinen Augen regellos ab; sein Weg durch die Geschichte führte ihn, über wenige Anhöhen, vor allem durch Täler, Sümpfe und Abgründe. Das Geschichtsbild des Christen beschrieb er so: »Die Geschichte beginnt mit einer Katastrophe, erlebt in ihrer Mitte ein Wunder und endet im Kataklysmus.« Schon deshalb gab es für ihn kein Verweilen in besseren Zeiten: er suchte vielmehr nach einem Schlupfloch, um der Geschichte zu entkommen. In seiner Verachtung der Gegenwart machte es ihm zwar Freude, den Begriff Reaktionär schon allein deshalb für sich zu beanspruchen, weil das Wort in keinem politischen Lager Prestige besaß, aber er stiftete damit für oberflächliche Leser – die ihm freilich gleichgültig gewesen wären – auch ein Mißverständnis: der Reaktionär bekämpft, aus marxistischer Sicht, die Revolution, um das Rad der Geschichte zurückzudrehen, und über eine solche Absicht hätte Gómez Dávila nur den Kopf geschüttelt.

Das Vorwärts- wie das Rückwärtsdrehen waren für ihn gleich absurde Unterfangen. Ihm ging es darum, den historischen Zusammenhang ganz zu verlassen. Das Recht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation kannte auch für sehr kleine oder gar kleinste politische Einheiten, die keinem Territorialherrn, sondern dem fernen Kaiser – und damit oft genug in Wahrheit niemandem – unterworfen waren, den Begriff der Reichsunmittelbarkeit. Es verblüfft, wenn sich im 20. Jahrhundert in den Anden einer als reichsunmittelbar bezeichnet, aber genau das tat Gómez Dávila, sogar auf deutsch, das er offenbar mühelos las. Reichsunmittelbarkeit war für ihn etwas Ähnliches wie der Ultramontanismus, der den deutschen Katholiken im späten 19. Jahrhundert von den Preußen unterstellt wurde, daß sie nämlich einer Macht »jenseits des Gebirges« loyal waren. Seine Heimat war weder das durch seine Kolonialgeschichte subaltern gewordene Kolumbien noch das durch die dominante ökonomische Mentalität barbarisierte 20. Jahrhundert. Er betrachtete sich als Sohn der katholischen Kirche, die er nicht einfach als eine von mehreren christlichen Konfessionen ansah, sondern als das große Sammelbecken aller Religionen, als Erbin aller Heidentümer, als fortlebende Urreligion. Daß die Kirche nach dem II. Vatikanischen Konzil diesem Ideal nicht mehr entsprach, war niemandem schmerzhafter bewußt als ihm. Um so leichter fiel ihm die Emigration aus der Gegenwart, deren Analyse ihm freilich half, gegen sie seine Bruchstücke einer »ewigen Anthropologie« zu formulieren.

Seine meist jüngeren Freunde bedauerten, daß ich Gómez Dávila erst in der Hinfälligkeit seines hohen Alters kennenlernte, nicht mehr als den eleganten, ja dandyhaften Reiter und Gesellschaftsmenschen seiner mittleren Jahre. Aber mir war, als stimme das Leben, das er nach schwerer Krankheit führte, dies Sitzen im Schlafrock in der kalten Bücherhöhle, mit seinem Werk in höchstem Maße überein. Da er die Zeit nicht mehr für fähig hielt, große intellektuelle Architekturen wie die Aquinatische Summa aufzunehmen, behandelte er seine gefeilten, zu äußerster Reduktion gebrachten Sätze, als wären es Löwenzahnsamen, die man in die Welt bläst. Wenige Schriftsteller sind achtloser mit ihrem Werk umgegangen. Wenn die Bücher mit den auf keinerlei Wirkung bedachten Titeln Notas, Textos und Escolios nicht in Privatdrucken erschienen – oder eben nicht »erschienen« –, dann in winzigen Auflagen und bei nichtkommerziellen Verlagen. Es gehört zum Tröstlichsten in einer vom Kommerz vielfältig bedrohten Literaturwelt, daß sich dies lange verborgene Werk gleichsam osmotisch in viele Länder verbreitet, ohne Werbung und öffentliche Unterstützung zu erfahren. Wie Pavel Florenskij, dem Gómez Dávila trotz vollständig verschiedener Biographie und andersartiger geistiger Herkunft nah verwandt ist, wurde auch der Kolumbianer im deutschen Sprachraum früher bekannt als in seinem Heimatland.

Die Mühe, mit der Don Nicolás sprach, die Zeit, die zwischenseinen Sätzen verfloß, waren wie eine Art Anleitung, die scheinbar ungeordnete Abfolge der Aphorismen in den drei »Glossen«-Sammlungen richtig zu lesen. Sein Denken offenbarte sich in der Stille seiner Bibliothek als ein hochkomprimiertes Notgepäck für den unbefristeten Aufenthalt in eisigen Regionen. Bei mehreren Besuchen sah ich den alten Mann auch von Familie und Freunden umgeben, und dennoch verlor ich nie das Gefühl, einem Einsiedler von der Art der großen Wüstenväter begegnet zu sein.

Copyright by Matthes & Seitz Berlin

 









Nicolás Gómez Dávila

Das Leben ist die Guillotine der Wahrheiten
Ausgewählte Sprengsätze
Martin Mosebach (Hrsg.)
Die andere Bibliothek Band 263
Eichborn
€ 28,5/ sFr 52
3-8218-4572-4

Nicolás Gómez Dávila
Notas
Unzeitgemäße Gedanken
Batterien 73 -
Mit einem Vorwort von Martin Mosebach
Aus dem Spanischen von Ulrich Kunzmann - Mit einem Nachwort von Franco Volpi
Matthes & Seitz Berlin, 441 Seiten
€ 34,90 / sFr 60,40 / ISBN 3-88221-855-X

Die Scholien - Das Aphorismenwerk
Einsamkeiten -
Deutsch von Günter Sigl - Mit einem Nachwort von Franz Niedermayr -
Geb., 200 Seiten, ISBN 3-85418-034-9

Auf verlorenem Posten
Neue Scholien zu einem inbegriffenen Text - Deutsch von Michaela Meßner - Mit einem Aufsatz von F. Pizano de Brigard - geb., 240 Seiten, ISBN 3-85418-053-5

Aufzeichnungen des Besiegten
Fortgesetzte Scholien zu einem inbegriffenen Text - Deutsch von Günter Maschke - Mit einem Essay von Martin Mosebach , Geb., 112 Seiten, ISBN 3-85418-065-9
Texte und andere Aufsätze
Aus dem Spanischen von H. Redondo, mit einem Nachwort von Till Kinzel - Geb., 204 Seiten, ISBN 3-85418-107-8
Alle Titel erschienen im Karolinger Verlag, Wien


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