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Materialsammlung eines Gegenwartschronisten

Die Nullerjahre als Fotobuch für insider:
Rainald Goetz »elfter september 2010«

Von Stefan Möller

Man kann in den Band elfter september 2010 ganz viel reingeheimnissen, man kann, wie Volker Weidemann in der FAZ, zum Schluss kommen, dass Goetz seinen Verlag gebeten [hat], einen schönen blauen Umschlag um das Fotoalbum mit den Bildern seiner Freunde zu binden. Eine etwas intensivere Betrachtung lohnt dann aber doch.

Chronologisch geordnet und in 3 Kapitel unterteilt, liefert Goetz seine Betrachtung des vergangenen Jahrzehnt, der Nullerjahre, ab. Erzählen in Bildform ist nicht ganz neu bei Goetz, bereits im 1999 erschienenen, von Christian Kracht herausgegebenen Band Mesopotamia. Ernste Geschichte am Ende des Jahrtausends hat Goetz eine Fotoerzählung unter dem Titel Samstag, 5. Juni 1999. Hotel Europa beigesteuert, in der sich Motive und Personen finden, denen man im vorliegenden Band wieder begegnet.

Vordergründig ist es vor allem eine Schau der Kulturschickeria. Viele Bilder zeigen bekannte Gesichter. Christian Krachts Anzüge sitzen immer perfekt, Volker Panzer mit Monokel (und Bierflasche im Bücherregal), Diedrich Diederichsen trinkt Kaffee, DJ Hell bei der Arbeit, Westbam mit Buch; wichtigste Accessoires sind Weingläser oder Bierflaschen (immer die elegante Beck’s-Flasche, niemals eine ordinäre braune Halbliterpulle). Viele der Gezeigten werden in den Bildunterschriften namentlich nicht genannt, (Er-)Kennen wird vorausgesetzt. Fixpunkt des Goetz’schen Kosmos ist Berlin, Berlin Mitte; das Gros der Aufnahmen ist in Berlin entstanden. So ist es denn auch ein Berlin-Mitte-Buch geworden, Spiegelung einer Stadt in der Stadt, eines Soziotops, in dem sich, nimmt man die Bilder als Maßstab, junge Menschen, Schriftsteller, Intellektuelle, Medienmenschen und Künstler tummeln. Im Klappentext heißt es, in den Gesichtern wütet die Zeit. Das Wüten kann so dramatisch nicht gewesen sein, zu attraktiv erscheinen die Gesichter. Dafür fällt etwas anderes auf. Gesichter und Menschen haben sich im Lauf der Nullerjahre nicht verändert. Auf dem zweiten Bild des Bandes (Seite 11), das 2000 entstanden sein dürfte, blickt der Betrachter auf zwei junge Frauen, sich umarmend, eine hält einen halbvollen Plastikbecher in der Hand. Eines der letzten Bilder (Seite 199), dass bei Einhaltung der Chronologie im Sommer 2010 entstanden sein muss, zeigt wieder zwei junge Frauen, sich umarmend, eine hält eine Dose RedBull in der Hand. Zehn Jahre liegen zwischen beiden Bildern und doch kann man sie gegeneinander austauschen, ohne Bedeutungsverlust. Benjamin von Stuckrad-Barre im Abstand von zehn Jahren – mit Sonnenbrille und Zigarette, aber scheinbar nicht gealtert. Ebenso zeitlos erscheint die Mode. Die Nullerjahre also eine Dekade der ästhetischen Stagnation? Fragen beantworten die Bilder nicht.

Die Kapitelüberschriften scheinen auf den ersten Blick gewohnt kryptisch, sie lauten In den Ruinen der Projekte, Ruine und Werkwärts 3&4.

Das erste Kapitel umfasst die Jahre 2000-2003. Goetz zeigt in seinen Bildern nicht den Moment, in dem Projekte zu Ruinen werden, er liefert durch seine Bildauswahl die Ansatz- oder Reizpunkte. Wir sehen Jürgen W. Möllemann und erinnern uns an das Projekt18, aus dem bei der Bundestagswahl 2002 etwas mehr als 7 Prozent wurden. Die Berliner Dependance der FAZ ist zu sehen, in der das Projekt „Berliner Seiten“ 2002 zu Grabe getragen wurde. Zahlreiche Bilder zeigen die Baustelle Chausseestraße 118-120, aus dem geplanten Wohn- und Geschäftshaus wurde ein Hotel. Und immer wieder Partybilder, die sich nicht so recht unter die Kapitelüberschrift einordnen lassen. Aber diese Bilder sind das Element, dass sich durch das gesamte Jahrzehnt zieht.

Im zweiten Kapitel verlagert sich der Fokus, die Berliner Republik und ihr Politikbetrieb ist das Thema der Jahre 2004-2007. Gleichzeitig ist dies auch das Eingeständnis eines Scheiterns. Rainald Goetz plante einen Roman über den Politikbetrieb, die Bilder sind Teil seines Eintauchens in die Thematik. Der geplante Roman wird aufgegeben, Goetz bekannte in einem Interview mit dem ZEITmagazin: Es gibt eben den optimalen Text zu diesen Dingen schon, täglich, im politischen Journalismus, von Günter Bannas beispielsweise. […]Da kommt man als Literat mit diesem komischen Nervositätssensibilismus überhaupt gar nicht mit.

Die Nullerjahre waren über weite Strecken keine produktive Zeit des Autors Rainald Goetz. Zwischen 2001 und 2008 veröffentlichte Goetz, mit Ausnahme einer Art Best-of-Buches, nichts, er überlegt, den Schriftstellerberuf zumindest zeitweise aufzugeben und als Arzt zu praktizieren. Zum Schreiben zurück findet er erst 2007 wieder, mit seinem Vanity-Fair-Blog, der im Jahr darauf unter dem Titel Klage bei Suhrkamp erscheint. Und so klärt sich auch der Name des letzten Kapitels. Zum einen ist da der Bezug zu Brinkmanns Gedichtsammlung Westwärts 1&2. Westwärts erschien kurz nach dem Unfalltod Brinkmanns und war die erste Veröffentlichung nach einer längeren Zeit, in der Brinkmann seinen Gedichte und dem Nachwort Fotografien zur Seite stellt. 

Zum anderen sind die Jahre seit 2007 diejenigen, in denen es für Goetz wieder werkwärts geht. Waren die Neunzigerjahre das Jahrzehnt des Techno und Goetz dessen literarische Stimme, so fehlte es nach dem Scheitern des Politikvorhabens an einem Thema. Auf Klage folgt 2009 loslabern, eine entlarvende Betrachtung des Kultur- und Medienbetriebs. Und es scheint, als habe der Autor hier sein neues Thema gefunden. Und auch im Bildband sind zahlreiche Medienvertreter zu finden, bei der Arbeit, bei abendlichen Lustbarkeiten.

elfter september 2010 ist Teil 4 des Zyklus’ Schlucht, zu dem auch Klage und loslabern gehören.

Man kann elfter september 2010 als Materialsammlung eines Gegenwartschronisten betrachten, als festgehaltene Augenblicke eines Jahrzehnts, dass trotz vermeintlicher Rasanz seltsam statisch blieb. Goetz ist ein guter Fotograf, einige der durchgehend in schwarzweiß gehaltenen Bilder, vor allem seine Portätfotos - sind unglaublich schön.  Bleibt noch die Frage nach der Wahl des Titels. Natürlich steht kein anderes Datum so prägend für die Nullerjahre. Im Buch findet sich der 11. September lediglich auf einen Bild, das Ulrich Wickert während der Tagesthemen zeigt. Vielleicht ist der ansonsten abwesende Bezug Goetz’ Verarbeitung. Aber zu viel reingeheimnissen will man dann doch nicht.
 

Rainald Goetz
elfter september 2010
suhrkamp
Gebunden, 224 Seiten
ISBN: 978-3-518-42207-6
D: 34,90 €
A: 35,90 €
CH: 49,90 sFr

 


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