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Glanz&Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik

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Ein immergültiges Denkmal

Über Maja Haderlaps Romandebut »Engel des Vergessens«, für das sie mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 2011 ausgezeichnet worden ist.

Von Lothar Struck

Am Ende rekapituliert die einmal von ihrem Vater Mic genannte Erzählerin, dass der Engel des Vergessens schlichtweg vergessen habe, die Spuren der Vergangenheit aus ihrem Gedächtnis zu tilgen. Die Schutzengel, die das Kind behüten sollten und von der Mutter als kleine Bildchen am Kinderbett angebracht wurden, haben ihre Gestalt verloren und werden – was für eine Metamorphose - zum geschriebenen Wort, zur Erzählung.

Im Wirtshaus, am Küchentisch, vor dem Schlafengehen, bei der Familienfeier, am Totenbett, in der fremden Stadt - immer wieder brechen bei den Protagonisten des Romans von Maja Haderlap die Erinnerungen aus dem Vergangenheitskeller hervor. Und jetzt bei ihr, der Nachgeborenen, die Erinnerungen an die Erinnerungen. Das vielleicht heilsame Vergessen ist unmöglich, zu mächtig sind die Prägungen, die Verwundungen, zu tief die Narben, zu dominant das Gefühl in einem Land zu leben, das einem die Erinnerungen nehmen, sie usurpieren und verbiegen möchte.

Es beginnt in der schwarzen Küche der Großmutter, in den 60ern, die Erzählerin ist vielleicht sechs, höchstens sieben Jahre alt. Ein Bauernhof, das Dorf heißt Lepena (Leppen) bei Železna Kapla (Eisenkappel) in Kärnten. Die Familie gehört der Minderheit der Kärntner Slowenen an; die Umgangssprache ist slowenisch. Haderlap erzählt in der Ich-Form und viele im Buch erwähnte autobiographische Daten treffen auf sie zu, obwohl es natürlich eine Erzählung ist; ein fiktionales Werk. Es wird fast ausnahmslos im Präsens und bis auf die Partisanengeschichten chronologisch erzählt. Selten gibt es zurückblickend-reflexive Einschübe; manchmal Exkurse. Es gehört zu einer der ersten Verzauberungen dieses Buches, dass Maja Haderlap einen Ton findet, der weder kindlich noch kindisch daherkommt; es wird erst gar nicht versucht, die Sprache des Kindes als Erzähltrick zu evozieren. Erzählt wird nüchtern, aber nicht kühl, sinnlich und doch nicht überladen, manchmal pathetisch aber nie verklärend, zuweilen parteiisch aber niemals verbissen. Schnell fühlt sich der Leser eingeladen, ist nicht bloß Zuschauer oder gar Voyeur, sondern Gast.

Marienwallfahrt und Konzentrationslager, Scham und Genugtuung

Die lange Kindheitserzählung (sie ist noch bis fast zur Mitte des Buches elf, zwölf Jahre alt) gerät ihr nicht zur überladenen, falschen Idylle. Schon früh bemerkt man Haarrisse im bukolischen Bild. Da ist die resolute Großmutter, die es versteht, die Gunst ihrer Enkelin zu gewinnen. Sie übernimmt schließlich die Erziehung des Kindes; die Mutter tritt in diesem schwelenden Streit in den Hintergrund. Sie kann den Anforderungen, die ihre Mutter an sie stellt, nicht gerecht werden und kapituliert - vorläufig. Das Kind geht zwar weiter zur Schule, aber die Großmutter lehrt ihrer Enkelin die wichtigen Sachen: Weniger Lesen, mehr Kartenspielen. Das Bewirten von Gästen und das hohe Gut der Gastfreundschaft. Und tanzen. In den glücklichsten Momenten tänzeln die beiden wie die Bienen; die Großmutter ist die Königin. Und sie weiht das Kind in ihre Lebensgeschichte ein; sie eröffnet den Raum für das Partisanentum, die Sippenhaft, die Verschleppungen, die Lagergeschichten - und dies am eigenen Leib erlebt, dokumentiert und zeigbar. Sie beginnt das erzählen, denn schließlich kann das gesprochene Wort heilen (hiervon ist sie überzeugt). Einmal im Jahr fahren sie zu Verwandten auf ein Schloss. Die einfache Frau zeigt sich dann weltgewandt; sie hat dann ihr Kopftuch in den Nacken gelegt und die Melancholie ist wie weggeblasen. Sie fährt mit der Enkelin zum wöchentlichen Einkaufen in die nächstgrößere Stadt (ein Nachbar nimmt sie mit), unternimmt eine Marienwallfahrt und besucht das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen. Hier ahnt das Kind von der verborgene[n] Ursache der Todessehnsucht der Großmutter.

So langsam, wie Vater Zdravko für die Erzählerin immer wichtiger wird, so behutsam wird er in den Roman eingeführt. Wie er, der Ungeduldige, vor seinen Bienen sitzt. Sein zunächst episodisch, später stärker auftretender Jähzorn ist das Produkt einer großen Schwermut, die in Selbsttötungsgedanken gipfelt und ihn mit zuweilen dem Gewehr in den Wald oder ins Bienenhaus treibt. Dann wird er von der Großmutter mit einer Gusseisenpfanne mit rauchenden Weidenruten, die sie im Raum herumschwenkt, "geheilt" werden. Man praktiziert einen strenggläubigen Katholizismus (wobei Glauben und Kirche getrennt werden; auf letztere sei, so die kluge Großmutter, kein Verlass) – mit starken animistischen Ausprägungen.

Diese dunklen Momente des Vaters, sein zweites Wesen, diese jahrelangen Nervenkrisen, manchmal direkt an einen leichten Moment anschließend. Sie wirken als stilles Gift, dass Tröpfchen für Tröpfchen eingeflößt wird. Die Familie hat den Furor des Wütens auszuhalten, der einen Schmerz zeigt, der nur zu erahnen ist, aber nicht nachempf[u]nden werden kann. Er fühlt sich von allen verraten und verrät uns alle, die bereit sind, seinen Verdächtigungen zu glauben. Nachdem der Sturm abgeklungen ist und sich das Leben fortzieht in die Ernüchterung, schweigt Vater tagelang vor Entsetzen und Bedauern, aus Scham oder Genugtuung darüber, dass er sich wieder einmal gründlich ausgesprochen hat.

Schwermut und Kummer

Aber nur einmal wendet sich die Tochter von ihm ab: Ich spüre, dass er es auf meine Kindheit abgesehen hat, spüre, dass er eine Scharte in meinen Rücken geschlagen hat… Wie verletzlich dieser Mann ist - und wie stark er gerade in dieser Verletzlichkeit noch wirkt. Er baut seiner Familie ein Haus. Schließlich gibt es immer mehr Geschwister (die jedoch im Buch kaum vorkommen). Dafür muss das alte Haus (man findet einen Stein mit der Jahreszahl 1743) gegen den Widerstand der Großmutter abgerissen werden. Auch die Aussicht auf einen Kühlschrank vermag ihre Skepsis nicht zu zerstreuen (sie brauche so etwas nicht). Auf zwei Seiten entwirft Haderlap eine Binnenerzählung, die dieses längst abgerissenen Haus für einen kurzen, fabelhaften Lesemoment wiederherstellt.

Nur mühsam setzt sich der Vater mit seiner natürlichen Autorität durch und lässt immerhin den alten Keller stehen. Es wird am Ende ein Haus ohne Zentralheizung, ohne Warmwasser, auf unbehütetem Fundament. Die Achtjährige hat nun ihr eigenes Zimmer, aber es ist im Winter bitterkalt. Manchmal geht sie dann noch zur Großmutter. Ein Haus, wie ein Symbol für das Leben seines Erbauers.

Immer mehr gerät das Kind in den Sog der Geschichten und der Geschichte. Die Großmutter wurde am 12. Oktober 1943 verschleppt. Sie erzählt, wer noch mit ihr gefasst und deportiert wurde, wer zurückkam und wer nicht. Sie erzählt von ihrer Odyssee, die bis Ravensbrück führte. Und sie erzählt, wie sie dort die Gunst der Stunde ergriff und die Identität einer Toten annahm, um nicht deportiert zu werden, dann "illegal" im Lager lebte, bis es dann schließlich befreit wurde.

Der Vater war seinerzeit mit kaum zwölf Jahren der jüngste Partisan; ein Kind, das Schreckliches erlebt hatte. (Der Bruder Zdravkos, der drei Jahre ältere Anton Haderlap, der seine Erlebnisse 2008 niederschrieb, bleibt seltsam verschwommen.) Ungeplant und unprogrammierbar diese Selbstbezichtigungen, die wie Satzgeschosse heraustreten. Aus heutiger Sicht reflektiert die Erzählerin: Das Kind begreift, dass es die Vergangenheit ist, mit der es rechnen muss. Es kann nicht nur seine Wünsche und die Gegenwart hochhalten. Die ausladende Gegenwart, die den Erwachsenen dazu dient, von einem Zeitufer aus das Gewesene zu überblicken, das damals, als es noch Gegenwart war, die Sicht auf alles verstellte. Noch ist die Kindheit wie selbstverständlich auf das Kommende gerichtet, aber auf dem Boden des Vergangenen erweist sich die Zukunft als Leichtgewicht. Was soll sie schon bringen, wohin wird sie führen? Reicht es nicht, wenn es zum Leben reicht, denkt Vater, denkt manchmal das Kind. Mit ihrer Pubertät, die Haderlap wunderbar dezent skizziert, wird der Vater endgültig zur zentralen Figur - Held und Gebrochener, sensibel und cholerisch, todeshungrig und lebensdurstig. Sie hat das Gefühl, ihn vor seiner Schwermut beschützen zu müssen, die Aufgabe der Ehefrau, ihrer Mutter wahrnehmen zu müssen, weicht kaum von seiner Seite, saugt seine Berichte auf - sei es von ihm erzählt oder von anderen.

Früh erfährt das Kind wie es sein kann, das Weiterleben als Schuld zu empfinden. Beim Baden auf dem Schloss ertrinkt das Küchenmädchen Iris, welches auf die Kinder aufpassen sollte und sie macht sich Vorwürfe, diesen Tod wenn nicht mitverursacht so doch nicht verhindert zu haben. Jahrzehnte später erfährt sie, dass Iris einen epileptischen Anfall bekommen hatte. Hätte ich das gewusst, ich hätte als Kind mein Überleben leichter ertragen und wäre nicht mit Bangen in jedes Schwimmbecken gestiegen.

Entfernungen

Schließlich setzt sich die Mutter nachdrücklich dafür ein, dass das Kind das Gymnasium in Klagenfurt besuchen soll. Vater und Großmutter sind dagegen - vergeblich. Die glücklichen Momente des Ehepaares werden seltener, etwa wenn sie bei einem Fest eine Polka tanzen (etwa eine Weltverdruss-Polka?) und alle zuschauen. Immer deutlicher zeigt sich, dass die Mutter unzufrieden mit ihrem Leben ist, mit ihrer Ehe, diese als Fehler ansieht. Die Vaterschaft für ihr 5. Kind verweigert der Vater (man erfährt nicht, ob es dabei blieb). Mit einem Moped erweitert sie ihren Kreis. Sie beginnt, zu lesen (auch moderne Literatur), versucht, Gedichte zu schreiben und geht in Kur. Der Kummer der Mutter ist ein anderer, auf die Gegenwart bezogen: ihr wunschloses Unglück speist sich aus einem diffusen Gefühl, etwas versäumt zu haben. Der Vater zieht sich zurück in die immer weniger werdende Landwirtschaft, geht wieder "in die Wälder". Und wenn möglich, geht die Tochter mit.

Irgendwann dann die Entfernung von der Großmutter (absichtsvoll wird nicht der Terminus der "Entfremdung" gewählt). Die Vertrautheit mit ihr lässt nach, weil sie sich in ihr Wenigerwerden zurückzieht. Wenige Monate später ist sie tot. Haderlap erzählt diesen Abschied detailgenau und mit großer Ergriffenheit. Und das längst nicht mehr erlaubte Totenzeremoniell wird mit zuweilen ethnographischer Präzision dem Vergessen entrissen.

Mit der Matura und dem beginnenden Studium im Wien geraten die Besuche nach Hause zu Zeitexpeditionen. Sie sieht sich zwischen einem dunklen, vergessenen Kellerabteil des Hauses Österreich und seinen hellen, reich ausgestatteten Räumlichkeiten hin- und herpendeln. Ein noch Jahrzehnte danach gespaltenes Land, in dem die Geschichtsvarianten…nebeneinander existieren und in einem Wirtshaus der Vater immer noch als Bandit und Spitzel bezeichnet werden kann, obwohl er längst als Widerstandskämpfer vom Bundespräsidenten ausgezeichnet wurde. Spätestens hier erinnert man sich an das Anschreiben Josef Winklers gegen das "wilde Kärnten".

Mit der Landschaft verbündet

Und immer wieder einer jener Exkurse, die dieses Buch umschmiegen, wie dieses kurzzeitige Einswerden in, mit und aus dieser Landschaft; ein utopisches Land, heraufbeschworen im Futur II: Manchmal, nach einem längeren Fußmarsch durch einen steilen, verwachsenen Wald, wird mich der Landstrich mit ungeahnten Aussichten beschenken, die das Gebiet lieblich und freundlich erscheinen lassen werden. […] Das Weiß des Berges wird sich am längsten gegen die dunkleren grünblauen Farbtöne der beginnenden Ebene behaupten. Das Meer wird sich im Himmel spiegeln. Und die Landschaft, in der ich in diesem Sommer Unterschlupf finden werde, wird in den kräftigsten Farben strahlen. Das Licht wird über den Hügeln fluten, die Luft wird flirren. […] Über das Hochtal wird eine Gruppe von Männern schreiten…Mit dem Bruder werde ich vor meiner Haustür in eine Tramway einsteigen.

Oder schließlich diese offensiv-eruptive Typologie des Partisanen: Ein Partisan muß sich mit der Landschaft verbünden, in der er kämpft. Er muss die Farben und Formen des Landstrichs annehmen, unsichtbar werden, ein Berg und ein Bach sein, eine Fichte, ein Haus, ein Hügel, ein Wald, ein Kautz, eine Schlange. […] Er muss sein Haus und sein Feld, seine engere Heimat verteidigen. Und die Furcht ist sein Bruder, seine Schwester, sein Name, denn die Furcht vor dem Tod lässt ihn alles ertragen, den Hunger, den Ekel, die Einsamkeit. Die wildeste Verzweiflung kann ihn retten, die falsche Klugheit kann ihn vernichten. Die Kärntner Partisanen sahen sich nicht als Visionäre; sie hatten ein Ziel, das bekämpft werden musste und wollten danach wieder zurück in ihr "normales" Leben. Sobald der Krieg geschlagen ist, wird der unbekannte Partisan der Landschaft zurückgeben, was der Landschaft gehört. Er wird…unter die Menschen gehen, die wieder Menschen geworden sind, in ihrer Gestalt, er wird unkenntlich bleiben aus Ähnlichkeit. Freilich gibt es auch die Möglichkeit, die Revolution auf die blutende Spitze zu treiben, wie dies die Tito-Partisanen gemacht haben, diejenigen, die eine Ideologie hatten. Sie erkennt, dass innerhalb der Kämpfer keine Einigkeit herrschte, die über den gemeinsamen Feind hinausging. Die Tito-Kämpfer erwarteten Unterordnung, wollten den Kärntner Partisanen den Kommunismus aufpflanzen und den Katholizismus vertreiben. So grenzt sich der Partisan vom ideologisch geprägten Milizionär ab. Die Frage der Zugehörigkeit Kärntens (Jugoslawien oder Österreich) stellte sich den Kärntner Partisanen kaum.

»…nichts ist wieder ganz gut«

Einmal bilanziert der Vater mit trockener Lakonie: Alles ist gut geworden…und nichts ist wieder ganz gut. Nie mehr hatte er sich für Politik interessiert; alles von sich gewiesen. Auch der Opferrhetorik mancher Ehemaligen war er überdrüssig; er hatte das Theater satt. Die Kärntner Partisanen – sie wirken für Maja Haderlap wie Findlinge, die man aus der Revolutionsgeschichte fallen ließ. Sie sind Verlorene der Geschichte. Den einen wie den anderen nicht geheuer. Sie mussten sich so gut es ging den Klischees der jugoslawischen und dann, von den 90er Jahren an, der slowenischen Seite, widersetzen. Und sie wurden nie von der Mehrheit respektiert, geschweige denn anerkannt.

Die Erzählerin zieht nach Ljubljana, um den zunehmend größer werdenden Abstand vom Slowenischen (vor allem auch der Sprache; sie hatte schon Gedichte in slowenisch veröffentlicht) hin zum Deutschen zu bannen. 1991 wird das unabhängige Slowenien ausgerufen, aber sie reist noch am Tag der Unabhängigkeitsfeier nach Österreich, weil sie Angst vor einem Einmarsch der Jugoslawischen Volksarmee hat. Der Vater und viele seiner Mitkämpfer - sie werden fast wahnsinnig, als die Kriege in Jugoslawien eskalieren. Das schreckliche Kriegsgetöse, die Granaten, die Geschosse bohrten sich in sie, sie könnten stundenlang nicht einschlafen, wälzten sich im Bett hin und her. Die Erinnerungen der Grabenmenschen revoltieren, begehren auf. Nehmen wieder von ihnen Besitz.

Und Haderlap orchestriert nun in einem großen, suggestiven Requiem die Geschichte des Widerstands und deren Prägungen auf die Familien, auf die Landschaft, auf das Zusammenleben aufs Neue. Ein atemloser Geschichtenstrom über den Krieg, Mord, Sippenhaft, Verschleppung. Zwei Partisanen in der Stube beim Bistričnik, das Haus von Polizisten umstellt, vor der Tür die erschossene Tante, hinter dem Haus ein gefallener Kämpfer, den sie gefoltert haben beim Nachbarn, nackt und zerschlagen die Leichen der Partisanen, denen man die Gräber gräbt unter den Fichten, hinter den Wiesen am Waldrand. Auch die Todesurteile der geheimen Partisanengerichte werden nicht verschwiegen. Schließlich das Ende, der triumphlose Sieg und die Briten, gerade noch Verbündete werden zu Gegnern, sie durchsuchen die Häuser nach Waffen und Propagandamaterial.

Und dann das ganze Leben des Vaters in der Vorschau auf die Vergangenheit: Vater wird eine Herausforderung annehmen und vor sein Elternhaus treten…Der Krieg wird ihn verwandelt haben. Mit zwölf Jahren wird er das Gefühl haben, vertraut zu sein mit der Gewalt und der Todesangst. In der Nacht wird er schreiend auffahren aus seinem Bett. Er wird sich Großvaters Flüche anhören, wird, als Partisanenfunktionäre vorbeischauen, um Großvater davon zu überzeugen, seine Buben doch in die Schule schicken. Riskant, aber gekonnt: Er wird nicht bei den Nachbarn sitzen und Geschichten erzählen […] Er wird den Apfelbäumen mit Erziehungsschnitten zu schönen Kronen verhelfen. Er wird die Kinder beobachten, sie nicht zur Arbeit drängen, er wird nichts anordnen, nur ab und zu bitten und er wird an den Tod glauben, denn der Tod kann alles verändern wie die Gewalt.

Mitte der 90er muss das sein und er wird immer kränker und an einem Sommertag wird er seinen Bauernwillen zu Grabe tragen. Seine beste Kuh, hochträchtig, rutscht in einen Bach. Das Kalb ist nur halb geboren schon verendet. Das Tier versucht aufzustehen und blickt uns elend an. Die Augen der Kuh. Schweren Herzens muss sie vom Tierarzt getötet werden. Die Mutter hatte die Kuh auf die Weide gelassen; der Zaun war defekt. Er werde es der Mutter nie verzeihen.

Im vorletzten Lebensjahr bekommt Vater aus dem neu gegründeten Österreichischen Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus eine symbolische Wiedergutmachung ausbezahlt. Er freut sich vor allem darüber, dass sein Leiden wahrgenommen wurde. Den Lähmungen folgen immer stärker werdende Schmerzen. Der Vater wird zum Schmerzensmann. Wenige Tage nach seinem Geburtstag stirbt er. Die Mutter hatte ihn in den Tod begleitet; sie ist auf dem Höhepunkt einer Monate, wenn nicht Jahre dauernden Erschöpfung angelangt. Die Tochter kann nicht loslassen vom zuschauen auf die Dämonen des Verdrängens. Ich lerne im selbstvergessenen Kärnten nicht vergessen zu können….Immer wiederkehrend, verfällt das Land in einen Taumel, in dem es eine Geschichte beschwört, die nichts anderes ist, als ein Rechtfertigungsphantom, mit dem es sich auf der richtigen Seite wähnt.

Mit einem Ausschnitt aus diesem Roman (Seite 75-91) hat die Autorin verdient den Ingeborg-Bachmann-Preis 2011 gewonnen. Dennoch erschien mir selten ein Romanausschnitt untypischer gewählt. Maja Haderlap setzt ihrem Vater, der Großmutter, den Kärntner Slowenen, diesen Verstreuten, den vielfach Versehrten ein immerwährendes und immergültiges Denkmal. "Engel des Vergessens" ist Dorf- und Landschaftserzählung, Erlebnisbericht, Bildungsroman, Familienchronik, Geschichts(be)schreibung, Gesellschaftsskizze und ein Pamphlet für die Gerechtigkeit. Bei allem Furor ein Buch ohne süßliche Sentimentalität und mit außergewöhnlichem Sprachgefühl. Ein wunderbares Epos; herausragende, großartige Literatur. Lothar Struck

Alle kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
 










Maja Haderlap

Engel des Vergessens
Roman
Wallstein Verlag
288 Seiten
gebunden, Schutzumschlag
€ 18,90
978-3-8353-0953-1

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