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André Kertész: Die Werkschau

Der Berliner Martin-Gropius-Bau zeigt in der weltweit ersten Retrospektive das Gesamtwerk des in Ungarn geborenen Fotografen André Kertész.

Von Thomas Hummitzsch

Siebzehnjährig gab Andor Kertész seinem fotografischen Werk intuitiv sein lebenslanges Leitbild vor, als er im Januar 1912 in sein Tagebuch notierte: „Ich versuche, in allem das Poetische zu entdecken“. Im selben Jahr nahm der ungarische Fotograf mit einer unhandlichen Holzkamera eines seiner berühmtesten Bilder auf. Schlafender Junge ist bis heute eine Ikone der Fotografie. Als eine der ersten Aufnahmen, die überhaupt von Kertész bekannt ist, zeigt sich hier schon sein Gespür für die Komposition eines Bildes. Wie Linienverläufe und Formen einander beeinflussen und welche Wirkungen sie auf den Betrachter haben – Kertész sah dies wie kaum ein anderer. Schon in dieser frühen Fotografie wird das deutlich.

Schlafender Junge steht am Anfang einer biografischen Reise, auf die man sich momentan im Berliner Martin-Gropius-Bau begeben kann. Es ist eine Reise durch Zeit und Raum mit dem einzigartigen, in Ungarn geborenen Fotografen André (Andor) Kertész (1894 – 1985). Dessen Werk wird nun, ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod, erstmalig in einer Gesamtschau gezeigt.

André Kertész kam aus bescheidenen Verhältnissen. Sein Vater verdiente sich als fliegender Buchhändler, die Mutter betrieb ein Café, um den Unterhalt der fünfköpfigen Familie (Kertész hatte zwei Brüder, Imre und Jenö) aufzubessern. Oft war Kertész gemeinsam mit dem Vater unterwegs und machte dabei Aufnahmen in den Straßen Budapests und auf dem Land. Fern von Perfektion spürt man in diesen Aufnahmen noch das wilde Suchen ihres Schöpfers, aber zugleich strahlen sie eine geradezu magische Anziehungskraft aus, als wäre man selbst Zeuge des fotografischen Akts. 1915 konnte Kertész erstmals Aufnahmen in der Budapester Illustrierten „Interessante Zeitung“ unterbringen, wurde jedoch kurz darauf von der Armee eingezogen. Er musste an die Front. Völlig überfordert von der Situation im Krieg wurde die Kamera zu seinem Schutzschild und besten Freund. Er fotografierte wie vom Wahnsinn gepackt, aber stets heimlich – schließlich war er zum Schießen und nicht zum Fotografieren einberufen worden. Seine Fotografien zeigen Abschied nehmende Familien, Briefe schreibende Soldaten oder eine Marschkolonne, die sich bis zum Horizont zieht (Langer Marsch). Inmitten des Elends erlebte Kertész Momente von einmaliger Schönheit. In seinem Tagebuch findet sich folgende Notiz: „Wir waren im Morgengrauen losmarschiert. Plötzlich sah ich ein herrliches Bild: ein kampierendes Bataillon bei Tagesanbruch. Eine Landschaft im Nebel mit schlafenden Soldaten, die friedlich träumen.“

Aufgrund einer Kriegsverletzung musste er sich 1917 in Esztergom einer Physiotherapie unterziehen. Zahlreiche Aufnahmen entstanden in der ländlichen Idylle. In Erinnerung geblieben ist jedoch eine Aufnahme, welche er am Schwimmbecken der Heilanstalt machte. Die Fotografie Unterwasserschwimmer lebt vom Licht- und Schattenspiel der Sonne auf der unruhigen Wasseroberfläche, welches dafür sorgt, dass der Kopf des Tauchenden im Bild verschwindet. Doch nicht nur aufgrund dieses Effekts, sondern wegen der gesamten Bildkomposition ist diese Fotografie von einzigartiger Qualität. Kertész muss in der Situation das Gespür für die richtige Perspektive und den richtigen Moment erkannt haben, denn die Elemente auf der Fotografie wirken wie angeordnet. Der Schwimmer bildet die das Bild akkurat durchtrennende Diagonale, seine Füße sind noch eben vollständig über den linken Bildrand gerutscht, vor den Händen ist noch etwas Platz, die Tauchrichtung andeutend – die gesamte Haltung des Schwimmers erinnert an einen abgeschossenen Pfeil.

1919 kehrte Kertész aus dem Krieg zurück. Es war eine Rückkehr in die Arme der geliebten Familie, deren Mitglieder nun häufig auf seinen Fotografien zu finden sind. 1921 entstand Der blinde Musikant, ein weiterer Beleg für Kertész Gespür, wann er auf den Auslöser zu drücken hatte. Ein halbes Jahrhundert nach der Aufnahme erinnerte sich Kertész an die Situation mit folgenden Worten: „Ich habe das Foto an einem Sonntag gemacht; die Musik hatte mich geweckt. Dieser blinde Geiger spielte so schön, dass ich den Klang noch genau im Ohr habe. Vielleicht wäre er ein großer Geiger geworden, wenn er in Budapest oder Wien, und dann in einer anderen Familie, zur Welt gekommen wäre.“ Wenngleich man auch seine Zweifel haben darf, ob Kertész tatsächlich von der Musik geweckt worden ist und in Windeseile seine unhandlichen Fotografenutensilien in Position gebracht hat und obgleich die Melodie, an die er sich zu erinnern scheint, möglicherweise eine Imagination ist, so wird hier doch deutlich, wie ausschlaggebend das Gefühl und die Stimmung für Kertész war, wenn er seine Fotografien machte.

Die Nachkriegszeit in Ungarn war für einen jüdischen Künstler, selbst wenn er wie Kertész immer wieder seine Areligiosität betonte, eine Unzeit. Die ohnehin schon rare Auftragslage verschlechterte sich für Kertész durch den aufkeimenden europäischen Antisemitismus, der auch in Budapests Kunstszene zu spüren war. Kertész sah sich gezwungen, Ungarn zu verlassen. Ausgerechnet er, der außer dem Ungarischen keine andere Sprache beherrschte und auch künftig nicht beherrschen sollte, musste Ungarn verlassen.

Einzig mögliches Ziel schien ihm Paris, in den Zwanzigern neben Berlin die pulsierende Metropole Europas. Außerdem hatte sich im Quartier Latin, wo sich André Kertész nach seiner Einwanderung 1925 in eine Pension einmietet, bereits eine beachtliche ungarische Künstlergemeinschaft gebildet, der er sich anschließen konnte. Nahezu täglich traf er nun ungarische Künstlerfreunde wie Fernand Léger, László Moholy-Nagy, Lajos Tihanyi, Sandor Marai, Magda Förstner, Helén & Géza Blattner, Brassaï u.v.m. Zahlreiche Fotografien aus der Zeit belegen das rege gesellschaftliche Leben der ungarischen Exilanten in Paris. Einigen dieser Freunde begegnet der Ausstellungsbesucher im Laufe der Ausstellung wieder, etwa die Tänzerin Magda Förstner in der Aufnahme Satiric Dancer oder den taubstummen Filmemacher Lajos Tihanyi, der auf dem Porträt von Kertész eine Rauchfahne ausstößt – das bildliche Symbol für seine Unfähigkeit, zu sprechen.

Zwar konnte André Kertész in diesem Kreis sicher sein, dass man ihn verstand, aber im Alltag stieß er mit seinem rudimentären Französisch an Grenzen. Er wand sich schließlich der einzigen Sprache zu, die er intuitiv beherrschte – der Sprache der Fotografie. Zugleich führte ihn diese verbale Sprachlosigkeit zunächst in die innere Isolation – Kertész zog sich zurück, lebte in äußerst knappen Verhältnissen.

Die neuen Perspektiven in Paris aber forderten ihn heraus. Die endlosen Blicke über die von Schornsteinen gesäumten Dächer, die weiten Boulevards, die zahlreichen Vogelperspektiven, die sich ihm boten, die Vielfalt neuer Formen und Linienverläufe in der Pariser Architektur, das pulsierende Leben, die ständige Bewegung – all das führte dazu, dass er seinen Stil in den ersten Pariser Jahren perfektionierte. Sein Bruder Jenö schrieb ihm schon 1926, nachdem er einige der neuen Fotos begutachten konnte: „Als wir Abschied nahmen, warst Du unsicher; es mangelte dir an Selbstvertrauen und Individualität; vieles war Imitation. Nun macht nicht mehr allein die Kamera die Bilder, sondern das Objektiv fängt ein, was Du aufnehmen willst … ich weiß nicht einmal, wie Du es gemacht hast. Technisch sind die Fotos makellos, und in der Komposition erkenne ich Dich nicht wieder … Offenbar hast Du ein Jahr der quälenden Sorge ums tägliche Brot gebraucht, um innerlich unabhängig und gefestigt zu werden.

Insbesondere die Pariser Witterung und damit einhergehend die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Lichtverhältnissen und Reflektionen scheint Kertész’s fotografisches Vorankommen zu beeinflussen. Die Aufnahmen, die er im Jahr seiner Ankunft machte, legen dies nahe. Diese Pariser Straßenszenen, die im Gropiusbau zu sehen sind, erinnern an den Flaneur Eugène Atget, denn auf ihnen wird die kompositorische Formstrenge, die die Fotoarbeiten des Ungarn bisher prägten, in den Hintergrund gedrängt. Erst 1926 kehrten auch die geografischen Perspektiven wieder zurück in Kertész Fotografie, die nun die surrealen, kubistischen und abstrakten Kunstrichtungen verband. Insbesondere die Verbindungen zu Künstlern wie Piet Mondrian, Ossip Zadkine, Fernand Léger und Alexander Calder scheinen dies unterstützt zu haben.

Seine Fotografie war nicht mehr nur beobachtend, sondern erzählend. Kertész nahm nicht mehr Situationen auf, sondern er schuf mit seiner intuitiven Inszenierung, basierend auf den drei Bausteinen Perspektive, Bildgeometrie und Belichtung, Gegebenheiten. Er löste das zu Fotografierende aus der Realität heraus und schuf eine neue, bisher unbekannte  Wirklichkeit (Mondrians Brillen und Pfeife, Paul Armas Hände, Die Gabel, Eiffelturm). Spätestens 1928 hatte André Kertész seinen Stil gefunden, eine eigene, flaneurhafte Straßenfotografie, die sich mit perfekter Bildkomposition verband. Kertész setzte Akzente, die vor ihm keiner gesetzt hatte. Die Aufnahmen Place de la Concorde, Zerbrochene Scheibe oder Pont des Arts durch die Uhr des Institut de France belegen dies eindrucksvoll.

Zu Beginn der Dreißiger Jahre zog das Experimentieren mit Licht und Schatten stärker als zuvor in sein fotografisches Werk ein. Diese Effekte verwendet er nicht nur, um sein Spiel mit Linien und Formen auf die Spitze zu treiben (Schatten des Eiffelturms, Stühle am Medici-Brunnen, Champs-Élysées, Montmartre), sondern um Dinge sichtbar zu machen, die sonst unsichtbar bleiben (Der Schattenmaler, Selbstporträt).

In seiner Pariser Zeit entstanden auch die Aufnahmen, die er 1976 unter dem Titel Distorsions (dt. Verzerrungen) herausgab und die nun ebenfalls im Gropiusbau zu sehen sind. Es sind Steigerungen dieses Experimentierens, Aufnahmen von Reflektionen in Hohl- und Zerrspiegeln aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Zerrung oder Stauchung der aufgenommenen Porträts oder Akte reicht dabei bis ins Groteske, Unkenntliche, so dass einer der Kuratoren der Ausstellung, Michel Frizot, im begleitenden Katalog nicht zu Unrecht von Antifotografien spricht.

1936 floh André Kertész erneut vor dem heraufziehenden Krieg. Doch so richtig, wie 1925 seine Ankunft in Paris war, so falsch war damals das Ankommen in Amerika. Die Eindrücke des Gigantischen und Monumentalen überforderten ihn völlig. Hinzu kamen seine sprachlichen Defizite, so dass sich Kertész schnell isoliert fühlte. Zum äußeren Exil trat ein inneres hinzu. Unterstützt wurde dieses Gefühl der Fehlplatziertheit von der Tatsache, dass seine Fotografie nicht dem amerikanischen Trend der die Sensation suchenden Fotoreportage entsprach. Während sein Landsmann Robert Capa – der von ihm in Paris, wie übrigens auch Brassaï, das fotografische Handwerk gelernt hatte – mit seinen Reportagen von Großereignissen reüssieren konnte, erhielt Kertész zunächst so gut wie keine Aufträge. Seinen weiterhin von einer besonderen Bildgeometrie geprägten Aufnahmen fehlte die Sensation. Selbst eine Einzelausstellung ein Jahr nach seiner Ankunft änderte nichts an seiner miserablen Situation. Die Fotografie Verlorene Wolke ist der bildhafte Ausdruck nicht nur seiner inneren Einsamkeit, sondern auch der Sehnsucht nach Erfolg.

Als er 1939 endlich von Life den Auftrag bekam, eine Reportage über den New Yorker Hafen zu machen, stürzte er sich in die Arbeit. Doch keines seiner über 200 eingereichten Fotos wurde gedruckt. Der Life-Redakteur habe gesagt, so erinnerte sich Kertész Jahre später, dass seine Bilder „zuviel reden“ würden. Welch bittere Ironie: Er, der mit seinen Fotos Geschichten zu erzählen vermochte, weil er Emotionen und Befindlichkeiten ins Haptische übersetzen konnte, wurde kritisiert, weil seine Bilder zuviel redeten. Seine Enttäuschung muss gigantisch gewesen sein. Sie fand Eingang in sein Werkarchiv im Bild der Melancholischen Tulpe.

Was folgte, war eine jahrelange Durststrecke. Während Capas Kriegsbilder in kaum einem Magazin fehlen durften, wurde Kertész nahezu ignoriert. Dies schien auch seine eigene Kreativität und Schaffenskraft zu lähmen, denn die Abstände zwischen den Aufnahmen in den 1930er und 1940er Jahren wurden immer größer. 1945 nahm er schließlich eine Stelle beim Magazin House & Garden an, um sein Einkommen zu sichern. Er blieb dort bis 1962, „lebendig begraben“, wie er später sagen wird.

Kertesz hat in dieser Phase kaum Muße, sich dieses Land mit der Kamera anzueignen. Man sieht den wenigen Aufnahmen, die in diesen Jahren entstanden, an, wie sehr er um Themen rang. Kertész’s Gespür für das perfekte Bild aber blieb davon unbeeinflusst. Mitte der 1950er Jahre entstanden seine legendären Aufnahmen vom Washington Square, dessen Zauber er über zehn Jahre lang immer wieder fotografisch festhielt. Insgesamt aber zerrte diese Situation an seinen Nerven. Als ihn Brassaï 1956 besuchte, begrüßte er ihn mit den Worten: „Du siehst einen toten Mann.“

Erst sein Bruder Jenö holte ihn 1962 aus der Lethargie. Mehr als 30 Jahre hatte er dessen Stimme nicht mehr gehört und als er ihm seinen Zustand geklagt hatte, entgegnete ihm dieser: „Du bist immer noch André Kertész. Du bist immer noch der größte Fotograf der Welt.“ Wie ein Weckruf muss dieser Anruf auf den Fotografen gewirkt haben, denn Kertész kündigte daraufhin bei House & Garden und stürzte sich wieder in seine eigene kreative Arbeit. 1964 kehrte er zurück zu seiner „besten Freundin“, wie er Paris liebevoll nannte. In der Nationalbibliothek wird ihm eine Einzelausstellung gewidmet. Zwei Monate wird er als ein in den USA verfemtes Genie gefeiert. Seine Frau Erzsébet, mit der er zu diesem Zeitpunkt seit über 45 Jahren liiert war, erlebte das nur aus der Ferne, denn sie blieb in New York. Ein Bruch für das Paar: Das Selbstporträt des Paares aus den 30er Jahren kadrierte Kertész neu. Es zeigt jetzt nur noch seine Hand auf ihrer Schulter und ihr halbes Gesicht. Die Zeit, in der sie sich beide ganz gehörten, schien vorbei zu sein.

Nach der Pariser Schau hatte Kertész auch in den USA immer mehr Erfolg. Er erhielt das Angebot, Mitglied in der MAGNUM-Fotoagentur zu werden, Fotos von ihm werden in der internationale Ausstellung The concerned photographer neben Aufnahmen von David Seymour, Dan Weiner, Werner Bischof und Robert Capa in Tokio, London und Paris gezeigt und die MOMA in New York zeigt noch 1964 eine umfassende Werkschau. Der amerikanische Durchbruch – eine Genugtuung.

Zwar reiste André Kertész in der Folge wiederholt nach Paris, dauerhaft aber blieb er in den USA. Seine Amerikafotos zeugen davon, dass er sich dieses Land in all den Jahren einzig über die Geometrie hatte erobern können. Sein in Paris perfektioniertes Spiel mit Formen und Linien, Licht und Schatten übertrug er auf die amerikanischen Strukturen. Seine Aufnahmen von Schornsteinen Mitte der 60er Jahre wirken wie Kopien der Fotos über den Pariser Dächern aus den 30er Jahren, sein Abzug mit dem Titel West 134th Street legt den Vergleich mit Schatten des Eiffelturms nahe.

Nach dem Tod seiner geliebten Erzsébet wurde es zwar nicht völlig ruhig um den Ungarn, aber es legte sich ein Schatten über sein Leben und seine Fotografie. Über die Beziehung zu seiner Kamera sagte André Kertész einmal: „Die Kamera ist mein Werkzeug. Mit ihrer Hilfe mache ich alles um mich herum sinnvoll.“ Kann man daraus ableiten, dass der Sinn eines Bildes und damit auch die Empfindungen des Fotografen im Bild selbst auffindbar sein müssen? Wenn dies möglich ist, dann bezeugen die letzten Bilder der Retrospektive diesen Schatten. Dann sind sie Dokumente seiner Einsamkeit nach Erzsébets Tod, wie auch des tief empfundenen Alleinseins, welches Kertész im amerikanischen Exil niemals abgelegt hatte.

Stellt sich der Besucher am Ende dieser wunderbar kuratierten und arrangierten Schau noch einmal vor den Schlafenden Jungen von 1912, dann wirkt dieses Bild aufgrund seiner tiefen Melancholie und unterschwelligen Tristesse wie eine zukunftsweisende Metapher für den Lebensweg des säkularen jüdischen Fotografen André Kertész.
 

Michel Frizot, Annie-Laure Wanaverbecq (Hrsg.)
André Kertész
Gestaltung von Julien Boitias
Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet, Barbara Heber-Schärer & Barbara Holle.
Hatje Cantz 2010.
360 Seiten, 544 farbige Abbildungen
26,00 x 31,90 cm.
49,80 Euro

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Die Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau ist noch bis zum 11. September 2011 zu sehen.

Die Zitate aus diesem Text sind entnommen aus:
Kati Marton
Die Flucht der Genies.
Aus dem Englischen von Ruth Keen. Neun ungarische Juden verändern die Welt.
Eichborn 2010
390 Seiten,
 32,- Euro.


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