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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Bücher & Themen
Artikel online seit 27.04.14

Lebenskrise als Glücksfall

Bodo Morshäusers Erzählung
»Und die Sonne scheint«

Von Lothar Struck





 

Es ist ein ungewöhnliches Buch. Ungewöhnlich, weil es trotz seines Gegenstands weder klagend noch sentimental daherkommt. Ungewöhnlich, weil der Ich-Erzähler sich irgendwann von seinem eigenen Schicksal ein Stück weit abstrahieren kann. Und ungewöhnlich, weil man danach tatsächlich ein bisschen weniger Angst vor dem "K"-Wort hat (wenn auch vielleicht nur für kurze Zeit).

Es sind wohltuende, ja fruchtbare Ungewöhnlichkeiten, die sich in Bodo Morshäusers Erzählung "Und die Sonne scheint" zeigen, sich dem Lesenden nahezu offenbaren (und nicht nur zwischen den Zeilen verborgen sind). Der Ich-Erzähler ist mit einem Gerstenkorn stationär in einem Krankenhaus. Und er erinnert sich an die Ereignisse von vor fünf Jahren in eben diesem Krankenhaus. Hier begann es, seine Behandlung des Tumors in seiner Lunge. Man merkt nicht sofort, dass der Erzähler zum Ort der vermeintlichen Katastrophe zurückgekommen ist und retrospektiv, manchmal assoziativ erzählt. Unprätentiös aber keinesfalls gleichgültig (wie auch) wird die Geschichte vorgetragen wie sie sich ereignete. Das Schwächerwerden des Körpers, die Intervention der Freundin Michelle, die anfangs üblichen Reaktionen der Ärzte, die schon ohne stichhaltige Diagnose dem Patienten raten, sich noch einmal ein paar schöne Wochen zu machen. Die Operation, die sich dann anschließende Chemotherapie, schließlich der Umschlag mit dem Ergebnis, welches darüber entscheidet, wie dieses Leben weitergeht (es wurden keine Metastasen gefunden).

Aber obwohl dies jetzt in der Kürze der Zusammenfassung so scheint - die vor dem inneren Auge bereits ablaufende leidlich bekannte Krebsgeschichte gibt es in dieser Form nicht. Morshäusers Erzählen ist zuweilen berückend selbst-distanziert; "begnadete Gleichgültigkeit" nannte Peter Handke dies einmal und man bekommt eine Ahnung davon, wie das gemeint sein könnte. Wie ein Forscher ein Insekt durch ein Mikroskop, so beobachtet sich der Erzähler selbst. Da kommt es einem kaum in den Sinn, Erzähler und Autor per se gleichzusetzen und darüber beispielsweise das literarische Urteil aus dem Auge zu verlieren. Morshäuser möchte keine billige Empathie. Selbst wenn nach der (gelungenen) Operation eine "Daseinsfreude" konstatiert wird (freilich unter Mithilfe der "Morphiumpumpe"), ist dies auf spektakuläre Weise unspektakulär.

So wird auch die Tortur der Chemotherapie nahezu stoisch angenommen, was nicht bedeutet, dass der Medizinapparat unkritisch betrachtet wird. Der Onkologe ist schon der "Chemikalienverkäufer". Der Patient, obgleich im "Tunnel", durchschaut die Hintergründe sehr wohl. Phlegma darf nicht mit Gleichgültigkeit gleichgesetzt werden. Es geht schon um Alles und es ist ein fast faustischer Pakt, in den man sich begibt; abgestoßen und angewiesen zugleich. Und so entsteht schon ein Gegensatz zwischen "Tumorhausen" und "Gesundheim" (eine Paraphrase von Christopher Hitchens). Da gibt es kleine essayistische Einschübe über Ernährungsverhalten und Krebs und warum man exakt die Nahrungsmittel als nicht empfehlenswert bezeichnet, die den Krebs hemmen. Oder warum Asiaten, wenn sie nach Europa kommen, verstärkt an Krebs erkranken während dieser in Asien kaum eine signifikante Rolle spielt. Und es gibt einen kleinen Querschnitt über die scheinbar fast magische Anziehungskraft von Metaphern in Bezug auf Krebs in der zeitgenössischen Literatur (neben Hitchens auch Wolfgang Herrndorf, Susan Sontag, Nicolas Born, aber auch Siddhartha Mukherjee). Metaphern, die dieser Erzähler konsequent vermeidet.

Losgelöst von dieser Erzählung bietet das Buch noch zwei weitere Glanzpunkte. Zum einen die zuweilen fast versteckten Einschübe über die Wahrnehmungen des vermutlich schizoiden Ich-Erzählers bei seinen Waldspaziergängen. Sie oszillieren zwischen halluzinativen Erscheinungen und dystopischen Phantasien und sind sehr genau gearbeitet. Verblüffend, wie sie sich bei einer zweiten Lektüre noch weiten und intensiver wirken. Und zum anderen fesselt die Abrechnung des Ich-Erzählers mit sich selber, die mit der ersten Diagnose bereits initiiert wird: "Es mußte alles anders werden. Ich hatte ausgespielt". Alles wird befragt. So  erschnüffelt er seine Wohnung, die durchsetzt mit Rauch und altem Staub ist. Er überlegt, welchen Umweltgiften er bisher ausgesetzt war, beispielsweise an seinen diversen Arbeitsplätzen. Er stellt das Rauchen ein. Zwar gibt es keinen kausalen Beleg zwischen seinem Zigarettenrauchen und seinem Krebs, aber in dem er diesen Zusammenhang sozusagen annimmt, beginnt die mentale Distanzierung von seinem gehabten Leben bereits. Der im philosophischen Salon leger vorgebrachte Lebensänderungsimperativ wird hier zur existentiellen Notwendigkeit erklärt.

Nach Operation und Chemotherapie wird das Leben neu begründet. Er hat einem konkreten Umzugstermin in einigen Monaten und konfrontiert sich bis dahin in der Begegnung mit seinen alten Briefen, Tagebüchern, Musikaufnahmen (meistens Platten), Büchern, kurz: mit seinem gehabten Leben der letzten 27 Jahre. Er liest Briefe, gerichtet "an den, der ich einmal gewesen war", nimmt Bücher aus vergangenen Jahrzehnten in die Hand,  liest die eingelegten Rezensionen und ist verblüfft über die Ausführlichkeit und Emphase der Rezensenten damals; etwas, was inzwischen gänzlich verschwunden ist. Es kommt zu bewegenden und verblüffenden Szenen, wenn dem Erzähler plötzlich eine Erinnerung oder eine Parallelität (beispielsweise zu zwei Musikstücken) überkommt, die sich dann, bei der Überprüfung, als irrig herausstellt. Wenn Erinnerung schon trügt, so kann man sie auch als fiktionale Empfindung apostrophieren: "Meiner Erinnerung, lernte ich, war absolut nicht zu trauen. Meine Erinnerungen waren im Grunde Täuschungen. Mit meinen Erinnerungen schuf ich Erzählungen, die nichts mit der Vergangenheit zu tun hatten, jedenfalls nicht mit meiner." (Was natürlich, wenn man es streng auslegt, für die vorliegende Erzählung gilt.)

Das meiste von dem, was einst wichtig, gar unerlässlich schien, kann somit entsorgt werden (endlich scheint dieses Wort einmal am richtigen Platz: da wird die Sorge um den weiteren Verbleib aufgehoben). Das gehabte Leben bleibt, aber die meisten Objekte erzeugen keinen zuverlässigen Erinnerungsraum mehr. Das bedeutet nicht, dass die Vergangenheit einfach "vergessen" wird. Sie bleibt präsent, ist aber nicht konstitutiv für die Zukunft. In einer der letzten Szenen des Buches geben die Möbelpacker, die die aussortierten Sachen auf die Ladefläche ihres LKW verladen haben, dem Erzähler noch einmal die Möglichkeit, einen Blick darauf zu werfen, ob man nicht vielleicht einen Gegenstand irrtümlich aufgenommen habe. Die Reaktion ist passend: "Ich schaute auf die Ladefläche ihres Wagens und erkannte kein einziges der Stücke wieder als meines."

Selbst das einst so belebend empfundene Wohnviertel ist nur noch ein "Laufsteg" der Eitelkeiten. Der Kiez als Bühne langweilt ihn nur noch. Als er eines Tages das Wort "Zweizimmerexistenz" aufschnappt, rattert die Gedanken- und Assoziationsmaschine auf Hochtouren. Und immer wieder reflektiert der Erzähler sein Verhalten, in dem er zum Beispiel seinen "Hochmut gegenüber anderen" feststellt, "die so lebten wie früher ich". Welch Privileg, diesen Überlegungen folgen zu dürfen.

Zunächst als Krankengeschichte daherkommend, verwandelt sich mit dem Erzähler auch Bodo Morshäusers Buch. "Und die Sonne scheint" ist damit auch eine Entwicklungsgeschichte. Wie das neue Leben des Erzählers aussehen soll, bleibt eher im Ungewissen und erlaubt dem Leser einen breiten Reflexionsraum. Am Ende, als man fast schon die Ursache dieser Veränderungen vergessen hatte, wird dann wieder ein Diagnoseumschlag geöffnet. Und dann ist das Buch zu Ende. Leider.

 

Bodo Morshäuser
Und die Sonne scheint
Hanani
Englische Broschur mit Fadenheftung
148 Seiten
€ 16,-    
978-3-944174-03-7

Leseprobe


 

 


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