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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Falsche Barone, Doppelgänger und verlorene Söhne

Der neue Karl May Sammelband »Verschwörung in Wien«
bietet auch Einblicke in die  Werkstatt des Autors:

Von Jürgen Seul

Als 1892 im Freiburger Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld mit »Durch Wüste und Harem« (später in den sittsameren Titel »Durch die Wüste« umbenannt) der erste Band von »Carl May‘s Gesammelten Reiseromane« erschien, hätten wohl weder der Verleger noch der Autor selber zu hoffen gewagt, dass die Buchreihe im Jahr 2014 noch mit einer Neuveröffentlichung fortgesetzt würde. Tatsächlich ist mit »Verschwörung in Wien« der inzwischen 90. Band von »Karl May’s Gesammelten Werken« (so der Reihentitel seit 1913) im Bamberger Karl-May-Verlag erschienen. Zu dessen wechselvoller und beeindruckender Verlagsgeschichte erschien im vergangenen Jahr eine umfangreiche Festschrift (»100 Jahre Karl-May-Verlag«), die vertiefte Einblicke in die Editionsgeschichte gewährt und dabei auch die Hintergründe offenbart, warum es bis heute immer noch möglich ist, den Lesern einen neuen grüngoldenen Karl-May-Band zu präsentieren.

»Verschwörung in Wien« ist ein Sammelband, in dessen Mittelpunkt die titelgebende Geschichte um die kriminellen Ränkespiele des Betrügers und Hochstaplers Baron Egon von Stubbenau in der Metropole des k.k. Haupt- und Residenzstadt steht. An der Seite dieses Verbrechers agieren der zum Wüstling herabgesunkene Sänger Criquolini alias Krikelanton und die durchtriebene, leichtlebige Tänzerin Valeska. Als Opfer ins Visier gefasst wird die Sängerin Ubertinka (alias Murenleni), auf die es die Schurken abgesehen haben. Und wenn es Täter und Opfer gibt, fehlt es gerade in der Karl May’schen Welt nicht an dem Helden, der für Ordnung und Verbrechensaufklärung sorgt. In diesem »Wiener Fall« ist es der vor allem der Wurzelsepp, eine kauzig-schlaue Mischung aus Hadschi Halef Omar und Sam Hawkens, der auch schon aus anderen Bänden (z.B. »Der Wurzelsepp«, Band 68), dem Leser bekannt ist. Überhaupt sind alle der genannten Protagonisten keine Unbekannten, was daran liegt, dass die Titelgeschichte keine tatsächlich bis dato unveröffentlichte Frucht May’schen Schaffens ist. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine mehr oder weniger in sich geschlossene Episode, die ursprünglich Kapitel 10 des voluminösen Kolportageromans »Der Weg zum Glück« von 2.616 Seiten bildete. Dieser Roman war erstmals zwischen 1886 und 1888 im Dresdner Münchmeyer-Verlag erschienen. Auf eine spätere 1:1-Übernahme in die »Gesammelten Reiseromane« bzw. »Gesammelten Werke« hatten sowohl Fehsenfeld als auch der Karl-May-Verlag als sein editorischer Nachfolger verzichtet. Der Mitherausgeber des Sammelbandes, Prof. Dr. Christoph F. Lorenz – ein ausgewiesener und brillanter Kenner von Mays Gesamtwerk –, erläutert diese Hintergründe.

Sicherlich wird man konstatieren müssen, dass der »Verschwörung in Wien« die typische Dialoglastigkeit der Kolportage anhaftet, aber zugleich zieht sie den Leser in das zunächst rätselhaft erscheinende Handlungsgeschehen hinein. Viele verschiedene Szenen reihen sich aneinander und sorgen für eine sorgfältig vorbereitete Positionierung der Figuren im Rahmen der Gesamtdramatik des letzten Drittels. Erstaunlich ist dabei Mays Fähigkeit, mit dem literarischen Instrument des Perspektivenwechsels Spannung aufzubauen und dem Höhepunkt zuzutreiben. In dieser Vorgehensweise zeigt er sich als versierter Dramaturg. Und selbst wenn man es hier mit einem frühen Werk des Schriftstellers zu tun hat, zeigt May doch schon viele Elemente seiner späteren Meisterschaft im Spannungsaufbau und der Figurenzeichnung – vor allem, wenn es um humoristische Personen wie den »Wurzelsepp« geht. Ein weiterer nicht unwesentlicher Aspekt der Geschichte, auf den auch Lorenz zu Recht hinweist, besteht darin, dass zwei unterschiedliche Künstlerwege (zum einen der des liederlichen Criquolini und zum anderen jener der redliche Ubertinka) zugleich zwei mögliche Wege zur Kunst – und zu Glück oder Unglück sein können.

Weitere Erzählungen des Bandes (»Aus dem Kelch des Schicksals«, »Der Doppelgänger«) berühren Mays lebenslanges Trauma der Vorstrafen und die damit verbundene Stigmatisierung innerhalb der Gesellschaft. Es handelt sich hierbei um zwei in sich abgeschlossene Nebenepisoden, die der frühere Mitarbeiter des Karl-May-Verlags, Franz Kandolf, aus Mays Kolportageroman »Der verlorene Sohn« (1884 – 1886) herausgeschält, bearbeitet und 1934 in der Zeitschrift »Das Vaterhaus« veröffentlicht hatte. Bis heute sind beide Texte gesuchte Einzelstücke auf dem antiquarischen Markt und dürften in der vorgelegten, nun allgemein zugänglichen Form, nur wenigen Kennern geläufig sein. 

In den letzten Jahren hatte der Karl-May-Verlag verstärkt seinen Lesern auch immer wieder Einblicke in Mays literarische Werkstatt gewährt, in dem verschiedene Varianten und Entwicklungsstadien einzelner Erzählungen und Motive publiziert wurden. Diese Einblicke bietet auch Band 90 mit den Humoresken »Die Laubtaler«, »Im Wasserständer« und »Das Dukatennest« wieder. In den drei Geschichten arbeitet May mit den gleichen Grundmotiven (Brautwerbung eines armen, jungen Mannes, heimliche Tête à Têtes, ein Talerversteck, dazu turbulente, slapstickhafte Einlagen), variiert und kombiniert sie zu Situationskomödien, die auch für den heutigen Leser noch erheiternd und lesenswert sind. Einige der Figurenzeichnungen sind besonders liebevoll gelungen und verraten Mays Liebe zum detaillierten Beschreiben drolliger Macken und Eigenarten seiner Protagonisten, wie man sie auch von den berühmten Reiseerzählungen her kennt.

Der Band beinhaltet des Weiteren eine Reihe von Gedichten und Fragmenten, die bislang – jedenfalls zum Teil – unveröffentlicht gewesen sind. Ein besonderes »Schmankerl« stellt dabei der fragmentarische Text »Der verlorene Sohn« dar, der laut Verlagsauskunft weit über 100 Jahre im Archiv verborgen war. Es handelt sich dabei um den Auftakt einer leider unvollendeten Dorfgeschichte, die nichts mit dem bereits erwähnten gleichnamigen Kolportageroman Mays zu tun hat. Der Auftakt ist verheißungsvoll und zeigt Mays großes Talent, auf nur wenigen Seiten eine spannende und geheimnisvolle Situation zu inszenieren.
 

Der Band bietet eine lesenswerte Mischung aus bunter Unterhaltung in bester May’scher Tradition und interessanten Einblicken in die Arbeitsweise eines erstaunlichen Schriftstellers, der das Glück hat, dass es ein nimmermüder Verlag seit nunmehr über 100 Jahren immer wieder versteht, das Interesse an ihm wachzuhalten.

Artikel online seit 26.11.14
 

Karl May
Verschwörung in Wien
Karl May’s Gesammelte Werke, Band 90
Herausgeber:  Bernhard Schmid und
Christoph F. Lorenz
Bamberg/Radebeul 2014
559 Seiten
19,90 €
978-3-7802-0090-7

 


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