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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Bücher & Themen
Artikel online seit 06.02.14

Eine Wunderkammer

Hugh Raffles erzählt Wunderbares von Insekten und Menschen
und von der Magie des Lebens.

Von Georg Patzer



 

Blattwanzen sind ihre Leidenschaft: »Eine Blattwanze zu finden ist das Höchste«. Nicht nur wegen ihrer Schönheit: »Es war etwas in ihrem Charakter. Sie haben ein Gefühl für bestimmte Situationen, das ich überaus erstaunlich finde.« Und sie sehen nicht einmal alle gleich aus: »Die individuellen Unterschiede sind in der Tat erstaunlich.« Das geht so weit, dass sie zu ahnen beginnt, dass die Wanzen »mitbekommen, wann sie in der Nähe ist, dass sie fühlen, wenn ihr Blick sie berührt.«

Begonnen hat es damit, dass Cornelia Hesse-Honegger als wissenschaftliche Zeichnerin am Zoologischen Institut an der Universität Zürich arbeitete und Ende der sechziger Jahre mutierte Drosophila melanogaster, Fruchtfliegen, zeichnen musste. In standardisierten, erbgutverändernden Versuchen hat man ihnen Futter gegeben, das mit Ethyl-Methyl-Sulfonat durchmischt worden war. Sie saß dann am Mikroskop und musste penibel genau die wechselnden Erscheinungsformen der Mutanten dokumentieren, verkrüppelte, entstellte, bizarr verformte Tiere. An den Präparaten waren für die Zeichner die inneren Organe jedes Fliegenkopfs zersetzt worden, sodass nur noch das Gesicht als eine Art Maske übrigblieb.

Diese Mutationen haben Hesse-Honegger nicht mehr losgelassen. Selbst in ihrer Freizeit malte sie veränderte Insekten, die sie in der Natur fand. Als der Reaktor in Tschernobyl 1987 explodierte, änderte sich ihr Leben drastisch. Sie reiste nach Österfärnebo in Schweden, weil diese Gegend in Europa am stärksten vom radioaktiven Ausfall betroffen war. Sie sammelte Insekten, betrachtete sie im Mikroskop und war entsetzt über die Verformungen. Sie wusste bereits, dass Blattwanzen gute biologische Indikatoren sind, dass sie sehr sensibel auf veränderte Umweltbedingungen reagieren, dass sie Gifte schnell aufnehmen, weil sie Flüssigkeiten direkt aus Blättern und Sprossen saugen. »Doch in den siebzehn Jahren, in denen sie Blattwanzen gemalt hatte, war ihr nichts dergleichen vor Augen gekommen. ‚Beim Betrachten wurde mir fast schlecht. Eine Wanze hatte das linke Bein merkwürdig verkürzt, andere hatten Fühler wie unförmige Würstchen, und bei einer Wanze wuchs etwas Schwarzes aus dem Auge.‘«

Sie geht an die Öffentlichkeit, aber sie wird nicht ernstgenommen. Nicht einmal, als sie nach Three Mile Island, Cap de la Hague, Hanford, Sellafield reist und ähnliche Deformationen bei den Insekten findet. Nicht einmal, als sie in der Nähe der angeblich so sicheren und sauberen Atomreaktoren in der Schweiz Verformungen dokumentiert, die sie auf die Radioaktivität im Normalbetrieb zurückführt. Für die Wissenschaftler ist sie ein Laie, und Laien muss man nicht zuhören. Es ist wie bei Galileo Galilei, als er seine Mitmenschen bittet, durch das Fernrohr zu schauen, um sich den Mond anzusehen, den auch er mit all seinen Kratern und Bergen malerisch dokumentiert hat: Nein, es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Der in New York lehrende, englische Anthropologe Hugh Raffles hat ein wunderbares Buch über Insekten geschrieben. Alphabetisch aufgebaut wie ein Lexikon beginnt es mit A wie »Aether« (der Äther, in den sich Entomologen aufschwangen, um Insekten auch in anderen Höhen zu fangen als am Erdboden), B wie »Berückung«, wo er von riesigen gelben Schmetterlingen, borboletas de verao, erzählt, »eingefangen in Raum und Zeit, wie Mini-UFOs, die uns einfach besuchen, nur eine Stippvisite, in unser Leben wehen und alles verwandeln, für einen Augenblick, ein Glanz von einer anderen Welt, und wieder fort«, und C wie »Core«, wo er von Cornelia Hesse-Honegger und ihren Blattwanzen berichtet.

Es sind staunenswerte Fakten, die er aufzählt und erzählt: Dass Spinnen die Technik des »ballooning« beherrschen, sich nicht nur nach unten abseilen können, sondern auch nach oben, um in der Luft irgendwo ihren nächsten Haltepunkt zu suchen. Dass selbst kleinste Insekten sich nicht vom Wind treiben lassen, sondern Kontrolle über die Flugrichtung haben. Dass es in Shanghai ein Museum für Kampfgrillen gibt. Dass viele Chinesen früher mit den Zikaden, ihren »singenden Brüdern«, ein kameradschaftliches Verhältnis hatten, dass sie sich »mit den Drei Rassen und Zweiundsiebzig Persönlichkeiten auskannten, wussten, wie man einen Siegertyp erkennen, aus den Kämpfern das Äußerste herausholen konnte, wie man die bleistiftdünnen Pinsel aus Rispengras oder Schnurrhaaren von Mäusen benutzen musste, um die Kiefer der Insekten zu reizen und zum Kampf anzustacheln.« Dass die im Labor, quasi »industriell erzeugte Fruchtfliege«, die man zu Forschungszwecken benutzt, und der Mensch einige Gene gemeinsam haben. Fakten über Fakten.

Dann kommt man zum Buchstaben J, und man erschrickt. Bei J heißt die Überschrift »Juden«. Dieses Kapitel beginnt mit einem Zitat von Heinrich Himmler vom 4. April 1943: »Mit dem Antisemitismus ist es wie mit der Entlausung. Es ist keine Weltanschauungsfrage, dass man die Läuse entfernt. Das ist eine Reinlichkeitsangelegenheit.« Und genauso sei es mit den Juden: »Wir sind bald entlaust. Wir haben nur noch 20.000 Läuse, dann ist es vorbei damit in ganz Deutschland.« In einer gewagten, aber präzisen Argumentationskette schlägt Raffles den Bogen von der Vertierung der Menschen zum Massenmord der Nazis an den Juden. Denn erst mussten sie zu Schädlingen gemacht werden, und die Naziideologie und -propaganda benutzte nicht umsonst die Insekten dazu, ihre Fähigkeit, überall eindringen zu können, alles zu infiltrieren, die Nähe mancher Insekten zu tödlichen Krankheiten, die sie oft übertragen. Von da zur »Ausmerzung« (ein Nazibegriff), zur Ausrottung, zur Ermordung der europäischen Juden ist es nur noch ein kleiner Schritt.

Spätestens hier merkt der Leser, dass das Buch noch etwas ganz anderes ist als ein Buch über Insekten. Es ist ein Buch über die Beziehung der Menschen zu den Insekten. Und damit zu ihrer Umwelt. Und damit zu ihren Mitmenschen. Das ist eines seiner Themen, die sich durch das Buch ziehen. Das andere ist die Arroganz des Menschen, der sich anmaßt, die Krone der Schöpfung zu sein. Dabei versteht er sie nicht einmal ansatzweise.

Beispielsweise die Biene. Wie lange hat es gedauert, bis Karl von Frisch seine bahnbrechenden Studien über die Kommunikation unter den Bienen unternahm und einen winzigen Teil davon entschlüsselte, nämlich dass sie durch eine Art Tanz den anderen Bienen mitteilen konnte, in welcher Richtung und Entfernung Nahrung zu finden ist. Ein paar Jahre später, nach dem Zweiten Weltkrieg, verfolgte sein Schüler Martin Lindauer, eine einzelne Biene, die er »107« nannte, und  notierte, was sie tagsüber so tat. Dabei erwies sich, dass diese Arbeiterbiene »nicht nur mehr Zeit mit anderen als mit der einen zugewiesenen Aufgabe verbrachte, sondern auch ziemlich viel herumwanderte (…) und ziemlich viel Zeit mit Nichtstun verbrachte (tatsächlich vierzig Prozent ihrer Zeit, auf dem Sofa).« Das Herumwandern erklärte er als Patrouillieren, »eine Art Hausüberwachung, die es der Biene erlaubte, unmittelbar Bedürfnisse zu bemerken und ihre Zeit entsprechend abzustimmen«. Für das »Herumlungern« fand er keine Begründung. Und es passiert noch etwas anderes, ergänzt Raffles, etwas bis heute Unerklärtes: »Die Bienen sind ständig in körperlichem Kontakt, ertasten einander Kopf und Fühler, riechen den Duft der anderen, reichen einander komprimierte Pollen, teilen und tauschen den zuckersüßen Mageninhalt, nehmen Vibrationen, die Aufschluss über eine nahe Futterstelle geben, in Empfang. Unentwegt umeinander in tiefer gemeinsamer Dunkelheit, tauschen sie Stoffe aus, saufen und würgen, berühren, fühlen, riechen, schmecken, tasten. Im warmen Dunkel umeinander, in Berührung, saugend fühlend in Berührung, riechend schmeckend in Berührung. Ein anderes Land. Eine andere Bienensprache.«

Das ist das ganz große Thema in Raffles' wundersamem und wundervollem Buch: Die Insekten leben in einer anderen Welt. Sie sehen sie anders, und wir wissen nicht, wie: Forscher wissen nur, »dass Bienen, wie Menschen, trichromatisch sind, sie besitzen drei Typen photosensitiver Pigmente, die in verschiedenen Bereichen des Spektrums maximal absorbieren (und zwar eher im grünen, blauen und ultravioletten, anstatt wie wir im roten, grünen und blauen Bereich). Und sie wissen auch – obwohl es wenig Möglichkeiten gibt herauszufinden, was das eigentlich bedeuten könnte  -, dass Libellen und Schmetterlinge oft pentachromatisch sind, sie besitzen fünf Pigmenttypen. (Sie wissen außerdem, dass Krabbenmantiden Rezeptoren haben, die empfänglich für zwölf verschiedene Wellenlängen sind!)«

Denn Insekten haben Organe, die wir bis heute nicht kennen, wie manche hören, weiß man nicht: »Können wir versuchsweise annehmen, dass auch Borkenkäfer, wie viele Schmetterlinge, Motten, Mantiden, Grillen, Grashüpfer, Fliegen und Neuroptera im Ultraschallbereich hören?« Man weiß auch nicht, wie sie kommunizieren, vielleicht u.a. durch Vibrationen, die sie auch selbst erzeugen können. Auch wie und was man durch facettierte Augen sieht, ist noch nicht abschließend erforscht.

Oder der Sex. Bei den Tieren, so wurde lange und wird noch heute angenommen, hat Sex eine Funktion: die Fortpflanzung. Alles, was nicht der Fortpflanzung dient, wird als Irrtum hingestellt, als Ausnahme oder Pathologie. Dabei ist nicht nur von den berühmten Bonobos bekannt, dass sie auch andere Sexpraktiken kennen: »Von zahlreichen Arten liegen Zeugnisse über ein abwechslungsreiches sexuelles Repertoire vor, etwa bei Ziegen (Paarbildung unter Männchen), Delphinen (solo und gegenseitige Masturbation, oraler Sex und 'Petting'), Eidechsen (Voyeurismus und Exhibitionismus), amerikanischen Bisons (männlich-männliche und weiblich-weibliche Paarbildungen) und vielen anderen.« Aber: »Noch bevor Biologen das Verhalten beobachten, ja noch bevor sie sahen, was es war, bevor sie überhaupt seine Existenz wahrgenommen hatten, glaubten sie schon, seinen Zweck zu kennen.« Dabei ist es vielleicht nur Lust. Lust am Leben, Lust am Sex, wie der Biologe Paul Vasey bei seinen Studien über weibliche japanische Makaken behauptete.

Auch Raffles plädiert für Offenheit: »Wer weiß, ob Vasey mit dieser Ansicht über schwule Affen richtig liegt. Zumindest hat er eine gute Geschichte, die besser ist als die Behauptung, sie tun es, weil sie den Unterschied nicht kennen.« Für ihn ist die Welt der Insekten eine wunderbare Welt, die es wert wäre, vorurteilsfrei studiert zu werden. Eine Welt voller Töne und Bilder, die wir einfach nur nicht wahrnehmen können. Und immer wieder, mäandernd, neu ausgreifend, immer wieder auf einen Punkt kommend, denkt er darüber nach, wie diese Welt sein könnte, was uns mit ihr verbindet, was uns von ihr trennt. Wie ein Montaigne der Insektenforschung wirft er einen argumentativen Stein ins Wasser, dessen Ringe sich ausbreiten und alle möglichen Gegenstände berühren, ins Schwingen bringen, ins Schaukeln.

Auch sein Stil ist Montaignes ebenbürtig. Manchmal spielt er, ohne eigentlichen Sinn, mit den Worten, wie im Buchstaben X: »Von Frischs kleine Hausgenossen sind extraordinär und, auf ihre Weise, exzeptionell. Er exploriert die Extreme ihrer Existenz, expliziert ihre Extravaganzen, examiniert ihre Exuberanzen und exaltiert sich, unter Exklusion von Extratouren, an ihren Extrovertiertheiten.« (So geht es einen ganzen Abschnitt lang weiter...) Über den lustvollen, zweckfreien Sex zwischen Tieren schreibt er: »Doch selbst wenn dem so wäre, kaum etwas wäre dadurch erklärt: es wäre bloß der winzigste, ziemlich ausgefranste Zipfel einer der kompliziertesten Geschichten, die das Leben zu bieten hat.« Einmal schreibt er ein ganzes Kapitel über seine Albträume mit Insekten, einmal eine impressionistische Träumerei, im Kapitel K wie »Kafka« kommt Kafka selbst nur ganz am Schluss in einer Nebenbemerkung vor – kurz: Raffles spielt mit der Sprache wie mit den Beobachtungen, Untersuchungen und Theorien über die Welt der Insekten. Dabei schreibt er immer einfach, präzise und sinnlich, auch wenn er manchmal poetisch, manchmal spielerisch wird. Aber nur so kann man sich diesen phantastische Insektenwelten nähern, die sich plötzlich vor einem ausbreiten.

Raffles »Insektopädie« ist eines der ungewöhnlichsten Bücher, das in den letzten Jahren herausgekommen ist, er öffnet eine Wunderkammer über die Insekten und die Menschen, macht Vorschläge, wie magisch die Welt sein kann, wenn man sie mit offenen Augen und Ohren betrachtet und nicht mit vorgefassten Wertungen. Kein Wunder, dass es schon mit zahlreichen Preisen bedacht wurde. Es hat sie alle verdient.

 

Hugh Raffles
Insektopädie
Verlag Matthes & Seitz
Reihe Naturkunden
Übersetzt von Thomas Schestag
384 Seiten
38,- Euro
978-3882210804

 


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