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Glanz&Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik

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Die menschliche Komödie
als work in progress


Ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten,
die es in sich haben.

 

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Seitwert


Lob des Plagiats

 

Über David Shields originelles, keinesfalls originales, »ultrahippes« Manifest »Reality Hunger«

Von Nebukadnezar Böhm

 

 

Im Zentrum von David Shields Manifest »Reality Hunger« stehen die Fragen: Was ist Wirklichkeit, was ist echt, was authentisch, und in welchen Formen stellen wir unser Leben in der Kunst dar? Shields Kultur des Sampelns, der kreativen Montage und freien Benutzung anderer Texte lassen Urheberrechte als Relikte aus der alten Welt erscheinen. Anything goes!

Die meisten Abschnitte in diesem Buch stammen aus anderen Quellen. Shields mixt und scratcht den ganzen Scheiß auf das Level, auf dem sich sein eigener Kopf befindet. Es ist ein provozierendes und höchst informatives Werk, das ihn zum Godfather of ripp-off macht. Sein Text, gesponnen aus Zitaten, Aphorismen und Anekdoten, kommt spielerisch, unterhaltsam und originell daher. Der Leser wird feststellen, dass niemand für seine Ideen Eigentumsrechte geltend machen kann. Er ist in gewisser Weise in einer Artaudschen Situation, in der alle Ideen keinen Ursprung und keine Quellen haben. Dennoch bin ich ratlos vor die Aufgabe gestellt, einen Leser auf ein Buch vorzubereiten, dessen größter Wert nur scheint, dass es, wie die Dinge heute liegen, keinen Leser finden kann, keinen wenigstens, den ich »einführen« könnte.

Shields gesamtes Projekt lässt sich vielleicht in der Vorstellung zusammen fassen, dass die Menschen sich in einer Welt nicht nur über die Normen der gesellschaftlichen Wirklichkeit orientieren, in die sie hineingeboren werden, sondern auch über die Wahrheitsereignisse, die den Subjekten die Richtung aus dem weisen, was übrig geblieben ist und das sich nicht in einen gemeinsamen Raum der Vernunft transponieren lässt.

Ich halte Shields für einen in mancherlei Hinsicht bemerkenswerten Autor, jedenfalls für einen, der - das ist seine Diktion - sein Handwerk besser versteht als die meisten anderen Autoren. Er schreibt zumeist einfach und klar, seine Argumente scheinen nachvollziehbar, sein Sinn für die Komposition und die Pysiognomik mancher Texte ist durchaus differenziert und artikuliert und auch, untrennbar davon, seine Fähigkeit zu literaturhistorischer Klassifikation. Häufig gelingt es ihm, seine Plagiate in überzeugend zugespitzten Sentenzen oder Formeln auf den Punkt zu bringen; nur manchmal sind diese Formeln klischeehaft und werden unabhängig von dem jeweiligen Gegenstand etwas grob und allzu griffig angewandt. Oft sind sie aber treffend, und nicht selten außerordentlich witzig, und dieser Witz macht sich selten selbstständig, sondern behält zumeist die legitime Funktion, ein überraschendes Licht auf die zu plagiierende Sache zu werfen.
Merkwürdig, dass bis heute immer wieder die Frage nach der Authentizität, nach den autobiographischen Momenten in seinen Dialogen auftaucht. Literaturwissenschaftler und Kritiker suchen nach ihm in seinen Werken, als ob es darauf ankäme, Beute zu machen. Hierbei verfahren Kommentatoren seines Werkes so, als wäre die Form des Werkes ein rein dekorativer Nebenaspekt. Mit anderen Worten, ihre Deutungspraxis scheint vorauszusetzen, dass es ohne weiteres möglich ist, die philosophischen Edelsteine aus ihr herauszubrechen. Wenn solche Exegeten behaupten, dass Shields seine Einsichten eher indirekt als direkt formuliere oder sie dadurch mitteile, dass er versuche zu sagen, was er nicht sagen könne, schreiben sie dies einem Hindernis zu, dass es dem Autor verunmögliche, das auszudrücken, was er gerne ausdrücken würde. In Reality Hunger heißt es dazu: »Tatsächlich konnte ich ja sagen, er war zwar unglücklich in seinem Unglück, aber er wäre noch unglücklicher gewesen, hätte er über Nacht sein Unglück verloren, wäre es ihm von einem Augenblick auf den anderen weggenommen worden, was wiederum ein Beweis dafür wäre, daß er im Grunde gar nicht unglücklich gewesen ist, sondern glücklich und sei es durch und mit seinem Unglück, dachte ich. Viele sind ja, weil sie tief im Unglück stecken, im Grunde glücklich, dachte ich.«

Es steht mir selbstverständlich nicht zu, die Anekdoten aufzulesen, die im Winde des Zufalls einherwehn und von Lektüren zu plaudern, die zu dem Buch, das gelesen wurde, keine Beziehung mehr haben. Die literarische und die wissenschaftliche Welt haben sich verändert. Die kleinen Prosastücke gleichen einander wie ein Ei dem andern, und das Hier und Jetzt des Originals macht nicht länger den Begriff seiner Echtheit aus. Analysen chemischer Art an der Patina einer Bronze können der Feststellung ihrer Echtheit ja auch nicht förderlich sein; entsprechend kann der Nachweis, dass eine bestimmte Handschrift des Mittelalters aus einem Archiv des fünfzehnten Jahrhunderts stammt, der Feststellung ihrer Echtheit so wenig förderlich sein wie irgendeine andere Quellenangabe. Der gesamte Bereich der Echtheit entzieht sich der Welt des 21. Jahrhunderts. Auf diesen Tatbestand reagiert das Manifest sehr eindrucksvoll. Denn der Autor hat von den Angelsachsen gelernt, mit dem O-Ton zu schwimmen. Dagegen ist zum Beispiel Hegemanns Sprachkrise eine ornamentale Unpässlichkeit. Der heutige Sarkasmus, die Röntgentechnik des Plagiators, ist Shields kritische Leistung, seine vorläufige Position.

Wie es weitergeht, kann sich jeder denken, der sich im öffentlichen Sprachschatz der letzten zwei Jahrzehnte auskennt. Mit einem Wort, die Unduldsamkeit, mit der manche Leute auf eine achtungsvolle Kritik an der Wirkung eines geschätzten Autors reagieren, lässt auf dunkle Regungen schließen. Offenbar wurde ein Glaube getroffen, der so total ist, dass eine Diskussion schon als Anschlag gilt. So erledigt sich die Frage, ob das Literatur ist, ganz von selbst.[1]

 

[1] Gleiches gilt von diesem Text, einem Sample verschiedener Autoren, unter ihnen: J. Roth, T. Bernhard, D. Grünbein, F. Sieburg, F.J. Czernin, H. Debes, P. Feyerabend, F. Blei, E. Santner und der Klappentext des Buches.
 

David Shields
Reality Hunger
Ein Manifest
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
C.H.Beck
224 Seiten, gebunden
18,95 €
ISBN 978-3-406-61361-6

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