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Glanz&Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik

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Das Ende des Parteienstaats

Christoph Seils lesenswerte Analyse zum Phänomen der Parteiendämmerung.

Von Michael Knoll

Schon aus dem Buchtitel wird eine der grundlegenden Thesen des Buches offensichtlich: Volksparteien sind Geschichte. Vielleicht, so eine weitere These, hat es sie nie gegeben. Diese Thesen gibt Christoph Seils weniger im feuilletonistischen Stil eines Journalisten wieder, der er ist, sondern im analytischen Ton eines Politikwissenschaftlers, der er eben auch ist. Das Schöne an diesem Buch ist, dies als erstes Lob, dass es analytisch klar und gut begründet ist, zugleich aber auch noch gut geschrieben. Weil diese beiden Eigenschaften nicht immer zusammen kommen, seien sie hier erwähnt.

Gehen wir den Begründungen Seils nach. Zunächst stellt er die Frage, ob wir mit dem Begriff „Volkspartei“ nicht einer Chimäre zum Opfer fallen. Volkspartei sei ein deutscher Mythos, ein Ehrentitel für Union und SPD, den die kleinen Parteien gerne tragen würden. Was eine Volkspartei allerdings konkret ist, was sie ausmacht, ist schwer zu definieren. Im Englischen gibt es keine wörtliche Entsprechung, hier heißen sie Catch-All-Parties und der Name verweist auf eine der möglichen Bestandteile, die immer wieder erwähnt werden, wenn es darum geht, Volksparteien zu beschreiben: Sozial heterogen, alle Schichten übergreifend und mit modernen Kommunikationsmöglichkeiten versuchend, möglichst viele Wähler anzusprechen. Aber selbst wenn der Begriff „Volkspartei“ schwer zu definieren ist, muss auch Seils konstatieren, dass Union und SPD als Volksparteien in den letzten sechs Jahrzehnten „die Politik in Deutschland geprägt und „maßgeblich zur Stabilität des politischen Systems beigetragen“ haben. Wie kommt es nun dazu, dass etwas, was eigentlich gar nicht existiert, politisch so erfolgreich war, dass sein Niedergang nun lautstark beklagt oder begeistert gefeiert wird? Denn seit der Bundestagswahl 2009, so die dritte These von Christoph Seils, steht das Parteiensystem von einer tiefgreifenden Zäsur. Es stehe nicht mehr die Frage an, ob die Volksparteien noch zu retten sind, sondern was nach ihnen kommt. Kurzum, die Parteiendämmerung steht an!

Diese Thesen lassen sich alle gut belegen. So haben bei der Bundestagswahl 1972 90,7 Prozent aller Wählerinnen und Wähler eine der beiden großen Parteien gewählt, vier Jahre später gar 91, 2 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2009 lag die Zustimmung für Union und SPD allerdings nur noch bei 56,8 Prozent. Beide Parteien mussten sich mit historisch schlechten Ergebnissen zufrieden geben. Dabei sind diese Prozentzahlen sogar noch geschönt. Rechnet man die Wahlbeteiligung mit ein, so haben nur noch 40,2 Prozent der Wahlberechtigten CDU, CSU oder SPD gewählt, zieht man zudem die Menschen ab, die aufgrund ihrer migrantischen Herkunft nicht in Deutschland wählen dürfen, haben nur etwa 37 Prozent aller in diesem Land lebenden Menschen eine der vermeintlichen Volkspartei gewählt. Auch der Organisationsgrad der genannten Parteien ist zurückgegangen und beträgt lediglich zwei Prozent. Er hat sich gegenüber den Zahlen aus den 70er Jahren damit halbiert.

Wie sind solche Entwicklungen zu erklären? Der Autor nennt zwei wesentliche Gründe:
Fehlende Feindbilder und zerfallene Milieus: Die klassischen sozialdemokratischen und konfessionellen Milieus gibt es nicht mehr, mit der historischen Wende von 1989 ist der Dualismus zwischen Freiheit und Sozialismus abhandengekommen. Wenn die Zahl von überzeugten Katholiken, Protestanten, Arbeitern, Sozialisten und Antikommunisten schrumpft, schwindet auch die Zustimmung zu den etablierten Volksparteien. Frauen- und Friedensgruppen, Anti-AKW- wie weitere Umwelt- und soziale Bewegungen in den 80er Jahren, der Humus der Grünen Partei, widersetzten sich den traditionellen, zentralistischen und paternalistischen Parteienstrukturen. Eine Anti-Partei formierte sich gegen die Volksparteien. 
Das Ende des Parteienstaates: Zwischen den 60er und 80er Jahren konnte das richtige Parteibuch beim beruflichen Aufstieg nutzen. Die Parteien verteilten Fördergelder und Subventionen, schufen Arbeitsplätze im sich aufblähenden Staatsdienst und genossen Privilegien, so dass es den einen oder anderen materiellen Grund gab, sich einer der großen Parteien anzuschließen. Zurückgehende Möglichkeiten, die eigenen Anhänger finanziell zu bevorteilen, lassen Volksparteien materiell zunehmend unattraktiv erscheinen.

Zudem haben sich mit den gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte völlig neue gesellschaftliche Konfliktlinien aufgetan. Seils erwähnt Globalisierung und Individualisierung, Digitalisierung, Demografie und Migration. Immer deutlicher trete zum Beispiel der Generationenkonflikt zu Tage, auf denen die Volksparteien mit ihrer überalterten Mitgliederschaft und deren Interessen nicht adäquat reagieren könnten. Die Belange der jüngeren Generationen spielen nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Parteien sind in eine Generationenfalle gestolpert, verstärkt durch die Digitalisierung der Lebenswelten junger Menschen. Facebook, Twitter und Youtube prägen eher ihre Meinungen als Fernsehen oder Zeitungen. Mit der Piratenpartei kündigt sich hier eine Interessensvertretung an, die selbst die Grünen alt aussehen lassen. Wesentlich sei zudem, dass mit der politischen Auseinandersetzung, auf welchem Niveau auch immer, es zu einem neuen Kultur- und Glaubenskonflikt gekommen ist. Hinter (schlechten) Büchern wie dem von Tilo Sarrazin und der dazu gehörenden Debatte steht leider ein Großkonflikt rund um Einwanderung und Integration, mit dem sich Emotionen und Ängste schüren lässt. Seils verweist auf die Entwicklungen in den Niederlanden und prognostiziert auch für Deutschland die Möglichkeit, dass am rechten Rand eine Partei wie die „Partij voor de Vrijheid“ von Geert Wilders entstehe. Die Schwierigkeiten, eine solche Partei auch in Deutschland politisch zu bekämpfen, liegen darin, dass sie eben nicht klassisch rechts ist und damit auch nicht mit NPD oder DVU vergleichbar sind. So distanziert sich Wilders vom Antisemitismus und vertritt die Interessen Israels. Er tritt für die Rechte von Homosexuellen und Frauen ein, verteidigt die Meinungsfreiheit und die Grundrechte, um umso härter gegen den politischen Islam zu agitieren, den er für faschistisch und totalitär hält. Diesem vermeintlich gesellschaftspolitisch fortschrittlichen Rechtspopulismus prophezeit Seils auch in Deutschland ein erhebliches Maß an Erfolgsaussichten. Wohl nicht zu Unrecht. Dem Parteiensystem in Deutschland mit den in der Zwischenzeit fünf etablierten Parteien könnte eine weitere hinzukommen.

Ob es wirklich dazu kommt, ist meines Erachtens noch offen. Wird sich wirklich eine sechste Partei bundesweit etablieren können? René Stadtkewitz, dem Gründer der Partei „Die Freiheit – Bürgerrechtspartei für mehr Freiheit und Demokratie“ geht das Schillernde, das die politischen Verhältnisse Verdrehende eines Geert Wilders ab und reiht sich eher in die Kategorie einer Schill-Partei ein. Überraschungen sind möglich, aber nicht mehr. Wie geht es weiter mit der Partei Die Linke? Im Osten weiterhin Volkspartei, im Westen wieder auf dem Weg zur Splitterpartei. Ein Thema ist für eine politische Partei eben zu wenig. Dies spürt auch die FDP, die die Linke auf dem Weg zur Bedeutungslosigkeit im Westen (wie im Osten) begleiten könnte. Eine Steuersenkungspartei, die keine Steuern senkt, ist politisch überflüssig. Die Positionen, die sie mit einem möglichen Vorsitzenden Philipp Rössler oder Christian Lindner besetzen könnten, sind von der Union, SPD und den Grünen bereits besetzt. Mit Marketing lässt sich Politik vielleicht besser verkaufen, Marketing ersetzt aber keine Politik. Dies müssen die jungen liberalen „Hoffnungsträger“ noch lernen.

Es bleiben die CDU, die Mariam Lau kürzlich als „letzte Volkspartei“ bezeichnet hat, die SPD, die kaum noch jemand als Volkspartei betrachtet, und Bündnis 90/Die Grünen übrig. Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg am 27. März 2011 haben gezeigt, welches Potential diese Partei ausschöpfen kann. Was von den grünen Träumen übrig bleiben wird, wenn sie mit einem Ministerpräsidenten die Verantwortung des erfolgreichsten Bundeslandes übernehmen, wird sich zeigen.

Eines war an den Wahlen im Südwesten der Republik wie in Rheinland-Pfalz bemerkenswert: Die gestiegene Wahlbeteiligung. Sie zeigt, dass Menschen an Politik interessiert sind, dass sie politisierbar und motivierbar sind. Dass wirklich erstaunliche an den Wahlen im Süden Deutschlands war zudem, dass eine gestiegene Wahlbeteiligung nicht mehr automatisch den etablierten Großparteien zu Gute kommen. Aber auch nicht den kleinen. Politik ist in Deutschland unübersichtlich geworden, gut so. Sie ist anstrengender geworden, auch nicht schlecht. Dass die Bundesrepublik die Eigenschaft als Parteienstaat verliert, ist begrüßenswert. Dass sich neue politische Formen der Partizipation durchsetzen und entwickeln, ebenso. Die Auseinandersetzungen um den Bahnhofsumbau in Stuttgart belegen dies.

Auch auf diese Entwicklungen verweist Seils in seinem Buch. Er, der beinahe selbst einmal Politiker geworden wäre, wie er im Vorwort verrät, und nun die Online-Ausgabe von Cicero verantwortet, legt ein überzeugendes Buch über den deutschen Parteienstaat und seine Zukunft dar. Für seine Analysefähigkeit und den Mut, politische Entwicklungen zu prognostizieren, gebührt ihm ein großes Lob. Ihm ist ein Buch gelungen, das man als politischer Mensch gelesen haben sollte. Dass ich ihm nicht in allen seinen Prognosen zustimme, gehört ebenfalls zum Politischen. Eine Auseinandersetzung mit Seils und seinem Buch macht Spaß und lohnt sich.

Das Politische ist zurück in der Politik der Bundesrepublik. Und diese Renaissance des Politischen macht Lust auf mehr. Mit so klugen, lesenswerten Büchern wie „Parteiendämmerung“ von Christoph Seils umso mehr.
 

Christoph Seils
Parteiendämmerung
oder: Was kommt nach den Volksparteien?
wjsverlag
120 Seiten
Broschur
16,9 €

 


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