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Glanz&Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik

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Die menschliche Komödie
als work in progress


Ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten,
die es in sich haben.

 

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Leistungsträger oder Steuersklaven

Zur
Diskussion über Peter Sloterdijk Statements
»Die nehmende Hand die gebende Seite«

"Nur muss der Fürst sich auf solche Art gefürchtet machen, dass er nicht verhasst wird; denn es kann recht gut miteinander bestehen, gefürchtet und doch nicht verhasst zu sein. Hierzu ist vornehmlich erforderlich, dass er sich der Eingriffe in das Vermögen seiner Bürger und Untertanen und in ihre Weiber enthalte. [...] Vor allen Dingen aber enthalte er sich, das Vermögen der Untertanen anzutasten, denn die Menschen verschmerzen allenfalls noch eher den Tod des Vaters, als den Verlust des Vermögens."

Neben vielen anderen verhallte auch diese Maxime von Niccoló Machiavelli, dem Autor des Buches Der Fürst - einem Werk, das rund 500 Jahre nach seinem Erscheinen heute noch eines der meisten missverstandenen Bücher überhaupt ist. Für jemanden wie Machiavelli war der heutige Steuerstaat, entstanden im 19. Jahrhundert und inzwischen unbekümmert und äußerst erfolgreich in die "Einkünfte der Untertanen" eingreifend, alleine schon aufgrund seines Aufstandspotentials unvorstellbar. Aus der Erfahrung seiner Zeit war mit einem derartigen Phlegma des Bürgers nicht zu rechnen.
 

Zwar hört man immer wieder von sogenannten Steuerflüchtlingen, die, wenn sie nicht Unternehmer in Sachen organisierte Kriminalität sind, ihre Vermögen in Steueroasen bringen, damit ihnen ihre Zinseinkünfte nicht wieder besteuert werden. Dem "normalen" Einkommensteuerzahler sind diese Möglichkeiten schon technisch genommen. Ihm wird in einem absolutistischen Administrativakt seine "Schuld" sofort einbehalten. So wenig vertraut der Staat seinem Bürger, dass, sollte die Einkommensteuerschuld im folgenden Zeitraum höher zu erwarten sein als im zurückliegenden Jahr, sogar Vorauszahlungen zu erbringen sind, die dem Gusto des jeweiligen Sachbearbeiters und seiner Schätzung obliegen. Verspätet man sich nur einen Tag in der Vorauszahlung flattert einem umgehend ein Inkassobescheid ins Haus, der sofort Säumniszuschläge auflistet. Obwohl die "Steuerschuld" noch gar nicht manifest geworden ist, wird bereits ein Versäumnis konstatiert. Der Ton ist fordernd. Schuld stapelt sich auf Schuld. Der Steuerzahler ist kein Geber, er ist Schuldner. Er ist schuldig geworden, dem Staat von seinem Verdienst bis zu 50% (inklusive sogenannter Versicherungen, die, würden sie nicht von Staats wegen zwanghaft oktroyiert, von jeder Staatsanwalt sofort ob ihrer Konditionen als sittenwidrig bezeichnet würden) zu bezahlen. Die Gelder, die der Staat auf diese Weise einnimmt, sind Input für gewaltige Verteilungen. Über 50% des eingenommenen Geldes werden für Sozialabgaben (hauptsächlich Transferleistungen) im weitesten Sinne verwendet.

Desweiteren finanziert der Steuerzahler eine Armee, die er womöglich ablehnt. Er finanziert den Autobahnbau, obwohl er vielleicht kein Auto besitzt. Sein Geld dient zur Aufrechterhaltung und Pflege eines gewaltigen politischen Apparats, den er so nicht möchte. Er finanziert Subventionen, die von Klientelparteien durchgesetzt wurden. Für die tatsächlich wichtigen Aufgaben ist - darüber klagt jede Gemeinde - kaum noch Geld da. Eltern werden gebeten, bei der Renovierung der Schulen ihrer Kinder mitzuhelfen. Bürger sollen finanzielle Beiträge für die Beseitigung von Straßenschäden leisten. Irgendwie ist der Geldstrom, der dies bezahlen sollte, versiegt. Die Gleichzeitigkeit zwischen immer perfide entwickelten Steuern und Abgaben und dem chronischem Mangel von Mitteln vor Ort ist fast so unerklärlich wie unheimlich. Manchmal ahnt man allerdings, wo das Geld geblieben sein könnte. Etwa wenn man an leerstehenden Gewerbeflächen oder anderen Fertigbauruinen vorbeifährt, die irgendwelche größenwahnsinnigen Bürger- oder Oberbürgermeister, Stadt- oder Oberstadtdirektoren als höchstpersönliche Denkmäler bar jeder ökonomischen Notwendigkeit errichtet hatten.

Der überraschende Ausweg

So weit, so bekannt. Peter Sloterdijk ging in seinem "Die Revolution der gebenden Hand" im Juni 2009 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die pointierte Diagnose dieses Ist-Zustands weit hinaus, in dem er im letzten Absatz einen Ausweg beschrieb, der eine durchaus beachtliche Erregungswelle erzeugte. Sloterdijk schrieb:

Die einzige Macht, die der Plünderung der Zukunft Widerstand leisten könnte, hätte eine sozialpsychologische Neuerfindung der "Gesellschaft" zur Voraussetzung. Sie wäre nicht weniger als eine Revolution der gebenden Hand. Sie führte zur Abschaffung der Zwangssteuern und zu deren Umwandlung in Geschenke an die Allgemeinheit - ohne dass der öffentliche Bereich deswegen verarmen müsste. Diese thymotische Umwälzung hätte zu zeigen, dass in dem ewigen Widerstreit zwischen Gier und Stolz zuweilen auch der Letztere die Oberhand gewinnen kann.

Immerhin brauchte Axel Honneth zwei Monate, um in der "Zeit, die von nun an das Zentralorgan organisierten Sloterdijk-Bashings wird, zu reagieren. Honneth sezierte zunächst nicht weniger als das Gesamtwerk Sloterdijks, attestierte ihm die Verletzung der intellektuellen Redlichkeit und bescheinigt ihm "über nichts Geringeres" nachzudenken "als über einen Umsturz all unserer herkömmlichen Werte und Gepflogenheiten". Sloterdijk habe, so Honneth, den Sozialstaat als "institutionalisierte 'Kleptokratie'" bezeichnet.  Eine Unterstellung, die, wenn sie nicht auf veritable Leseschwäche zurückzuführen ist, nur als böswillige Verzerrung gelten kann. Honneths Gegenrede befriedigt zwar den handelsüblichen Theoretiker des deutschen Sozialliberalismus der 70er Jahre. Für denkende und fragende Zeitgenossen bietet diese Form der Unterstellungsprosa allerdings nur wenig Substanz.

Im Büchlein "Die nehmende Hand und die gebende Seite" geht nun Peter Sloterdijk gleich zu Beginn ausführlich, deutlich und ernsthaft auf seine Kritiker - die er nicht zu Unrecht in den Vertretern der Frankfurter Schule sucht und findet - ein. Neben dem FAZ-Essay (der im Buch plötzlich "Kapitalismus und Kleptokratie. Über die Tätigkeit der nehmenden Hand" heißt) sind noch zwei weiteren Aufsätzen Sloterdijks abgedruckt. Zum einen handelt es sich um Auszüge aus dem Cicero-Beitrag "Aufbruch der Leistungsträger" vom November 2009 (im Buch: "Tragische Sozialdemokratie") und das Buch wird beendet mit dem Beitrag aus dem "Spiegel" vom 08.11.2010, der im Buch unter "Letzte Ausfahrt Empörung" geführt wird (leicht gekürzt unter Der verletzte Stolz. Über die Ausschaltung der Bürger in Demokratien zu finden). Eingebettet sind diese Beiträge in insgesamt zehn Interviews (manchmal auch Gesprächen) mit insgesamt neun Fragern über einen Zeitraum von fünf Jahren, in denen Sloterdijk insbesondere auch zu den Implikationen der sogenannten Finanzkrise von 2008/2009 Stellung bezieht. Sie sind von unterschiedlicher Qualität; manches ist fast erzwungenermaßen redundant. In den besten Fällen gelingt es, Sloterdijk zu weitergehenden Thesen und Äußerungen zu inspirieren. Am Beispiel des Interviews mit Stephan Maus vom "stern" zeigt sich, dass es für beide Seiten unbefriedigend ist, wenn sich der Frager nicht auf sein Gegenüber einlässt und ihn stattdessen nur mit vorgefertigten Parolen konfrontiert. Dies bleibt jedoch glücklicherweise die Ausnahme. 

Die üblichen Bunkerreflexe

Die Kollateralnutzen insbesondere aus den Ausführungen zu Beginn des Buches sind zahlreich. So spießt er fast en passant die vier Allgemeinplätze des aktuellen politischen Feuilletons auf - unter anderem den des gute[n] Gebrauch[s] des Skandals als eines der Mittel, das utopische Potential der politischen Lebensform Demokratie am Leben zu halten. Um dann zu konstatieren, am Ende siege regelmäßig die Erschöpfung über das Lernen.

Das klingt vermutlich witziger, als es gemeint ist, zumal medial geschürte Affektskandalisierungen nicht mehr auf das politische Feuilleton beschränkt sind, sondern längst auf die sogenannte seriöse Berichterstattung übergegriffen haben. Diese beansprucht schon seit längerer Zeit nicht mehr als nur beschreibend tätig zu sein, sondern gestalterisch - wie das Revival der Selbstbezichtigung als der "Vierten Gewalt" dokumentiert. Dabei wird nonchalant vergessen, dass die klassische Gewaltenteilung einer Entität auf gegenseitige Kontrolle beruht, wogegen sich die selbsternannte Vierte Gewalt erbittert wehrt. Dabei gilt das Hanns-Joachim-Friedrichs-Diktum, sich mit keiner Sache gemein zu machen selbst wenn es eine "gute" wäre, längst als verstaubt. Journalisten sind immer mehr zu Meinungsdarstellern in eigener Sache geworden. Der Unterschied zu vergangenen Zeiten liegt darin, dass sie glauben, ihre persönlichen Ansichten nicht mehr zu Gunsten einer abstrakt empfundenen Objektivität camouflieren zu müssen. Sie erwecken dabei gar nicht mehr den Anschein einer in der Vergangenheit eher als verkrampft empfundenen Ausgewogenheit, sondern produzieren mehr oder weniger galant ihre Meinungsinjektionen subkutan in die Wahrnehmungsorgane ihrer Kundschaft.

Zwar sind sie einerseits Getriebene, die im Wettlauf um die kostbare Aufmerksamkeit des Rezipienten möglichst knalliges und somit zumeist komplexitätsreduzierendes abliefern sollen. Andererseits forcieren sie damit noch den "aufrechten Gang in die Belanglosigkeit" (ein Bonmot von Sloterdijk aus "Die Verachtung der Massen"), wenn sie einem vorauseilendem Irrtum anheimfallen, der Medien-Konsument sei für die Darstellung komplexer Sachverhalte nur noch über die Verschlagwortung derselben für kurze Zeit aufnahmebereit.

Sloterdijk geht auf diese paternalistischen Anwandlungen seiner Kritiker, in denen er Bunkerreflexe gegen die Störung der Routinen sieht, durchaus ein. Er listet die Möglichkeiten eines Staates auf, sich Mittel von seinen Bürgern zu verschaffen und schlägt manchen Bogen in die Geschichte. Er beschreibt das Phänomen der erodierenden Mitte als Entfremdung des Bürgern von seiner Funktion des Staatsbürgers. Bösartige Polemik, dass eine solche Entfremdung durchaus in das Konzept einer Entpolitisierung der Bevölkerung passen könnte, stellt Sloterdijk nicht an. Er erläutert auch noch einmal fast geduldig, wie sein Konzept der De-Automatisierung der fiskalen Abläufe, also mindestens Teile des Steueraufkommens über freiwillige Gaben einzunehmen zu einer höheren und stärkeren Identifizierung mit so etwas wie dem Gemeinwesen und Solidarität bedeuten könnte. Freiwillige Solidarität, so der Tenor, ist ergiebiger und sozialverträglicher als erzwungene. Gleichzeitig böte ein solches Verfahren einen potentiellen Ausweg aus der Unzufriedenheitsfalle resultierend aus einer amorphen Wohlstandsverdrossenheit, die sich immer mehr in Synergien von Sozialstaat und Sensationsindustrie zeigen.

Hart geht Sloterdijk mit dem misanthropischen Weltbild derjenigen alt-linken, gelegentlich sogar alt-leninistische[n] und paläo-maoistische[n] Journalisten und Sozialwissenschaftler ins Gericht, die eine Massenflucht vor dem Klingelbeutel vorhersagen und vermuten, dass eine Mehrheit der Geber die Freiwilligkeit als endgültigen Ausstieg missbrauchen würden. Er attestiert ihnen einen Mangel an sozialer Phantasie, denn der Mensch sei immer auch als ein von Grund auf anteilnehmendes Wesen zu denken, dessen affektives Repertoire durch Empathie, Stolz, Generosität und Gebenwollen mitbestimmt ist. Dennoch dürften Gaben wie die von Professor Jochen Hörisch, der unlängst bekannte, 10.000 Euro an sein Finanzamt überwiesen zu haben, um seinen Anteil an den Staatsschulden zu tilgen, die Ausnahme bleiben. Sloterdijk ignoriert die in den 00er Jahren versuchten Experiment, Produkte oder Dienstleistungen nach dem "Zahle-was-Du-Willst"-System honorieren zu lassen. Erstaunlich, dass in den im Band abgedruckten Interviews niemand dieses Beispiel heranzog.

Leistungsträger und Nehmerautonomie

Als Gedankenspiel ist diese Geberphilosophie durchaus erfrischend. Ganz abwegig erscheint sie auch nicht, wenn man sie mindestens für Teile des bisher eingezogenen Steueraufkommens ermöglichen würde, mit denen der Bürger dann selbst steuern (sic!) könnten, wofür seine Gaben verwendet würden. Schließlich stimme man in der Schweiz ja auch seit langem über die Höhe [der] Steuern ab, ohne daß es je zu Hungersnöten gekommen sei, wie Sloterdijk einmal anmerkt.

Beeindruckend die analytisch-diagnostischen Schärfe vom Bild des fordernden Steuerstaates und der Behandlung des "Citoyen" durch diesen. Mit großem Vergnügen filettiert er Guido Westerwelles falsche historischen Assoziationen mit denen er versuchte, sich als Interessenvertreter einer Mittelschicht zu gerieren, in dem die Bezieher von Transfereinkommen pauschal denunziert werden. Luzide beweist Sloterdijk, wie der Siegeszug der Sozialdemokratie in der deutschen Politik nicht unbedingt etwas mit der Sozialdemokratischen Partei zu tun haben muss und outet sich als bisher treuer SPD-Wähler. Überhaupt keine Probleme hat er mit der oft pauschal pejorativ versehenen Definition des Begriffs "Leistungsträger". Für ihn sind Leistungsträger jene 25 Millionen steueraktiven Haushalte, die zur Stunde praktisch die Gesamtheit des Steueraufkommens in der Bundesrepublik tragen - bei einer Gesamtpopulation von 82 Millionen Einwohnern.

Die Betonung liegt hier auf "Haushalte". Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gab es in Deutschland 2006 "39,8 Millionen Haushalte mit rund 82,6 Millionen Haushaltsmitgliedern." Dabei ist zu berücksichtigen, dass die rd. 27% der Steuerpflichtigen mit Einkommen über EUR 37.500,-- fast 80% der festgesetzten Lohn- und Einkommensteuereinnahmen bestreiten. Spezifiziert man weiter, so ergibt sich, dass 8% der Steuerpflichtigen mit einem Jahreseinkommen von EUR 66.200,-- 50% des Einkommensteueraufkommens beitragen (Zahlen von 2004). Durch ihre Konsummöglichkeiten tragen diese Haushalte auch erheblich zum Verbrauchssteueraufkommen bei. Und da ihre Steuerzahlungen in Transferleistungen fließen, zahlen sie indirekt die Verbrauchssteuern dieser Konsumenten mit. Definiert man den Begriff des "Leistungsträgers" derart umfassend, dürften sich klassenkämpferische Parolen, hier rede jemand der Spaltung der Gesellschaft das Wort, endgültig erledigt haben. (Ersatzweise könnte man den "Leistungsträger" durch "Steuersklave" ersetzen.)

Der Steuerzahler gibt also, wie wortgewaltig ausgeführt wird, gezwungenermaßen und einflusslos. Der Nehmer – der Staat - verbittet sich jegliche Einmischung. Es ist erstaunlich, dass Sloterdijk die Parallele im Geber-Nehmer-Verhältnis zwischen Staat und Transferleistungsempfänger nicht gesehen hat. Sobald nämlich der Staat seine Rolle als Geber ausübt, sind ihm ähnliche Grenzen durch die Nehmer gesetzt. Auch der Nehmer der Sozialleistungen verbitten sich Einmischungen in eventuelle Prioritäten der Geber. Entsprechend sind die Entrüstungen, wenn Anteile von staatlich legalen Suchtmitteln wie Nikotin, Alkohol und Glücksspiel aus dem virtuellen Geberkorb entfernt werden sollen. Unternehmungen, die Subventionen oder Steuerprivilegien in Anspruch nehmen, reagieren ähnlich, wie man an der Umsatzsteuerbevorzugung des Hotelgewerbes 2010 erkennen kann. Statt die Preise für die Hotelgäste entsprechend zu reduzieren, wurde das Geld einbehalten – angeblich um notwendige Investitionen zu tätigen. Der Fortschritt der Moderne zeigt also: Nicht der bestimmt, der gibt, sondern derjenige, der nimmt. Die nehmende Hand handelt in vollständiger Autonomie von den Intentionen der gebenden Seite.

Die zweite Demütigung

Mit dem ungelenken wie falschen Einwand der "spätrömischen Dekadenz" in Bezug auf die Transferleistungsempfänger lieferte Guido Westerwelle ungewollt ein Selbstportrait einer an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeiten gestoßenen Politik. Sie sieht sich in zwei Funktionen gefangen. Sie will (1.) den sozialen und (2.) den europäischen Frieden erhalten - beides fast wörtlich um jeden Preis. Die Worst-Case-Szenarien für beide Fälle liegen in den jeweiligen Giftschränken der politischen Administrationen in Berlin und Brüssel/Straßburg/Luxemburg. Von Fall zu Fall werden sie hervorgeholt, um als moralische Schutzschilde die als alternativlos dargestellten Maßnahmen zu rechtfertigen.  

Sloterdijk bezeichnet Art und Weise des Steuereinzugs als semi-sozialistisch. Vielleicht hat er nur übersehen, dass der Sozialismus bei uns in einem Punkt schon lange eingeführt ist und perfekt funktioniert: In der Akzeptanz der Politik, die von der Wirtschaft selbst verschuldeten Verluste an die Allgemeinheit zu delegieren. Die Sozialisierung der Folgen verfehlter oder vorsätzlich risikobeladener Geschäfte von Banken oder Unternehmen ist die zweite Demütigung der gebenden Seite durch eine sich ohnmächtig fühlende nehmende Hand.

Man braucht kein Prophet zu sein um festzustellen, dass die von Sloterdijk vor zwei Jahren in Aussicht gestellte Revolution der gebenden Hand im festgestellten Wirtschaftsaufschwung vorerst ausfällt. Sie sucht sich nur mehr vereinzelt ihren Weg, in dem sie beispielsweise die Zwangsabgaben für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk vehement kritisiert. Man bezahlt lieber schweigend tausende Euro im Jahr in einen diffusen Staatstopf als vergleichsweise geringe Gebühren für qualitativ taumelnde Medien, die damit auch noch die Programmfunktionäre für die Anbiederung an den Massengeschmack fürstlich entlohnen. Die Aufregung um die haushaltsweise erhobenen GEZ-Gebühren ist eine hübsche Ersatzspielweise für den längst resignierten Bürger, der ohnmächtig (= ohne Macht) zusehen muss, wie die zwangsneurotisch betriebene "systemischen" Erhaltung maroder Banken und Staaten betrieben wird.

Schade, dass man nicht mitbekommt, wie in den Geschichtsbüchern diese Zeit einmal genannt werden wird. Lothar Struck
 

Peter Sloterdijk
Die nehmende Hand und die gebende Seite
Beiträge zu einer Debatte über die demokratische Neubegründung von Steuern
edition suhrkamp
Broschur, 166 Seiten
12 Euro
ISBN: 978-3-518-06141-1

Leseprobe

 


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