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Theorie der Uniform
Gut
150.000 Seiten alliierter Abhörprotokolle aus dem
II. Weltkrieg dienen Sönke Neitzel & Harald Welzer als Grundlage für eine
Mentalitätsstudie
deutscher
Wehrmachtssoldaten. Wer angesichts der Sinnlosigkeit zu Kriegszeiten nicht verrückt werden will, darf die Realität des Grauens nicht allzu nah an sich heranlassen. Emotionale Belastungsfaktoren werden deshalb ausgeblendet oder auf reine Logik reduziert, um Gefühlskonflikte zu kontrollieren; Wertvorstellungen und Normen Vorgesetzter werden bis hin zur völligen moralischen Regression fraglos übernommen. Ist die Extremsituation vorüber, können Tatsachen auch verleugnet, beschönigt oder dramatisiert, bedrohliche oder emotional unerträgliche Situationen verneint und komplett geblockt, tabuisiert werden. Wahrnehmungsverzerrungen und Realitätsverlust sind Begleiterscheinungen aller Kriegshandlungen. Wenngleich viele Soldaten nicht nur Opfergeist und Fanatismus besaßen, sondern auch große Lust am Töten überkam und sie zum Beispiel der „Einladung zum Judenschießen“ im Zweiten Weltkrieg gerne gefolgt sind, so sind andere an ihrer Aufgabe, den als Feind definierten Gegenüber zu vernichten, zerbrochen — nicht nur in den beiden Weltkriegen, sondern schon im Dreißigjährigen Krieg, dann in Vietnam, in Jugoslawien, Afghanistan und anderswo auf der Welt. Da es bekanntlich kein richtiges Leben im falschen gibt, kann es auch kein falsches im richtigen Leben geben, meinen Sönke Neitzel und Harald Welzer in ihrem Buch „Soldaten“, einer ersten Auswertung von rund 150 000 Abhörprotokollen, die Briten und Amerikaner von deutschen und italienischen Kriegsgefangenen aus Wehrmacht und Waffen-SS gefertigt haben. Denn schließlich war der Krieg die Lebenswelt der Soldaten und in dieser Welt haben sie sich eingerichtet. Zum Beispiel, wenn ein Soldat zu Protokoll gibt: „Wir sind stündlich mit einem Schwarm geflogen … und haben den Befehl gehabt, auf alles zu schießen, nur auf nichts Militärisches. Wir haben Frauen und Kinder mit Kinderwagen umgelegt.“ (110). Dennoch, so die Autoren, „leben die Soldaten in einem moralischen Universum, in dem sie das Gefühl haben …, wie Heinrich Himmler es genannt hat, »anständig geblieben zu sein«.“ (201). Der Kommentar: „Die nationalsozialistische Ethik speist sich nun vor allem aus dem Motiv, sich nicht persönlich zu bereichern oder individuellen Vorteil … zu ziehen, sondern dies alles stets eines höheren Zwecks willen.“ (201). So erschießt ein Soldat einen Franzosen auf dem Fahrrad, weil er das Fahrrad haben wollte (204). Höherer Zweck? — Gefühle mögen täuschen. Aber, wie Neitzel und Welzer schreiben, hatte der „Holocaust … seine eigenen Pfadabhängigkeiten“ (206). Wenngleich diese „Pfadabhängigkeiten“ bisweilen schwer verdaubar sind, so rufen sie doch kaum Erschütterung oder gar Sprachlosigkeit hervor, weil zu erwarten war, dass Soldaten der Wehrmacht nicht zum Kuchenbacken an die Front geschickt worden sind — Töten war ihr Beruf. Neitzel und Welzer üben sich nun darin, einen „unmoralischen Blick“ auf die Wehrmachtprotokolle zu werfen und das Handeln der Soldaten im Zuge einer „Referenzrahmenanalyse“ zu verstehen. Der knapp 60seitige Grundkurs Hermeneutik markiert die Eckpunkte der Soldatenwelt und kontextualisiert das Handeln der Wehrmacht: „Viele Verbrechen, die heute zu Vernichtungskrieg und Holocaust gerechnet werden, wurden zeitgenössisch ganz anders eingeordnet … Insofern hat man es hier mit der Unterschiedlichkeit zweier Referenzrahmen — des zeitgenössischen und des gegenwärtigen — zu tun.“ (145) Das stimmt nur zum Teil, weil bereits der Angriff auf Staaten ohne Kriegserklärung sowie die zahlreichen Geiselerschießungen und Racheaktionen auch damals schon völkerrechtswidrig und insofern verbrecherisch waren. Selbst wenn man diesen Aspekt so großzügig wie die beiden Autoren auslegt, ist festzuhalten, dass der Versuch, Neutralität zu wahren, nicht immer gelingt. Denn die Wortwahl verrät, dass ihre Darstellung alles andere als wertfrei ist. So „führte die Wehrmacht den Kampf mit großer Brutalität“ (135), übte „extreme Gewalt“ (135) aus und bestritt einen „Kampf, der sich jenseits von Völkerrecht und westeuropäischem Kriegsbrauch bewegte“ (135). Es waren „Exzesstaten“ (137), und es gab „schreckliche Zustände in den Gefangenenlagern“ (142). Auch über die „Judenvernichtung“ und „Kriegsverbrechen“ (145) lesen wir: „Die Beschreibungen gehören zum Grausigsten, was Literatur und Ermittlungsakten festhalten.“ (177) Und „das Grauen … überschreitet eine weitere Grenze des Vorstellbaren.“ (206). Schließlich haben wir es hier mit den „brutalsten Taten“ (392) zu tun. Das ist alles korrekt und wäre nicht weiter der Erwähnung wert, wenn nicht der neutrale Blick im Zuge der Rahmenanalyse so betont worden wäre. Die Analyse ist aber auch teils deshalb verwirrend, weil es ein ganzes Set verschiedener Rahmen gibt: Das Dritte Reich, das Militär, die Partisanenbekämpfung, der Krieg, die Massenerschießungen, die Argumentation der Soldaten, die Vernichtung und die männerbündische Kameradschaftlichkeit werden allesamt als Referenzrahmen herangezogen. Es folgt eine thematische Auflistung von „Abschießen“ über „Jagd“ bis „Technik“. Für die einzelnen Themen werden jeweils Beispiele aus den Abhörprotokollen angeführt. Die Aussagen der zitierten Soldaten werden wiederum in den Referenzrahmen der Kriegswelt integriert, ohne dass Widersprüche innerhalb des Universums der Protokolle wirklich berücksichtigt würden. So kommt es unweigerlich zu einigen Ungereimtheiten innerhalb der Analyse. Einige sollen genannt sein. So heißt es zum Beispiel, dass die Begriffe Tod und töten in Gesprächen kaum vorkämen (94). Stattdessen benutzten die Soldaten umschreibende Begriffe. Doch neben den vielen Euphemismen für den Tod, die sich zweifellos finden, kann das für die zitierten Protokolle insgesamt so nicht gelten. So werden unter anderem folgende Passagen zitiert:
„er lag drin und war schon
tot.“ (97) Unberücksichtigt bleiben hierbei die unzähligen Darstellungen über das „Erschießen“, bei dem der „Tod“ immerhin mitgedacht ist. Dann heißt es weiter, es gäbe keinen „historisch nachweisbaren Krieg ohne Regeln“ (116), doch wird gleich auf das „erschreckende Ausmaß an regelloser Gewalt während des Zweiten Weltkriegs“ (117) abgehoben und gezeigt, „wie die Anwendung der Gewalt selbst die Regeln modifiziert“ (117). Permanent modifizierte Regeln aber heißen schlicht: Willkür! Im Text ist darüber hinaus davon die Rede, die Soldaten hätten ideologische und rassische Fragen nicht besonders interessiert (291). Zitiert werden aber die Juden als „Sauvolk“ (154), zitiert wird: „Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, ei dann geht’s noch mal so gut.“ (192). An anderer Stelle heißt es, es sei unklar, ob die Soldaten der Judenvernichtung Aufmerksamkeit geschenkt hätten, um sogleich das „Wissen um Massenerschießungen“ (201) zu zitieren: „Natürlich war schon damals bekannt, dass die Waffen-SS zahlreiche Kriegsverbrechen begangen hatte.“ (362). Grund war der Glaube an die „Verjudung“, den „Weltjuden“ und das „internationale Judentum“ (296). „Rassistische Stereotype“ (298) lautet das Fazit — für eine nicht vorhandene Ideologie? Meine Verwirrung betrifft auch eine der Kernaussagen. Sie lautet: „So sehr sich die 17 Millionen Wehrmachtsoldaten sozial unterschieden, so sehr teilten sie während ihrer Dienstzeit dasselbe militärische Wertesystem“ (305). Protokolle liegen allerdings nur von rund 10500 Soldaten vor. Woher stammt das Wissen über 17 Millionen Soldaten? Und selbst die 10500 Abgehörten hatten durchaus unterschiedliche Ansichten vom Krieg im Detail. Dies deutet der folgende Satz an: „Die Abhörprotokolle zeigen, dass es auch [sic!] bei den SS-Offizieren erstaunlich heterogene Wahrnehmungen des Krieges gab.“ (375). Er steht gleichwohl in Opposition zu der ersten Aussage. Wenn damit jedoch nur bekräftigt werden soll, dass der Krieg seine eigenen Gesetze hat, mit denen er die Welt der Uniformträger strukturiert, scheint mir dies allerdings banal. Widersprüchlich ist auch die Auffassung, der soldatische Referenzrahmen habe keine Empathie vorgesehen (140). Tatsächlich werden immer wieder Beispiele angeführt, in denen Soldaten das Leid nicht mit ansehen können (138) und „unvorstellbare Gräuel“ (142) erleben. Zeugt dies etwa von völliger Empathielosigkeit? Nein, aber es passt nun einmal nicht in den „Referenzrahmen“, der gerade abgearbeitet wird, dessen Analyse aber grundsätzlich kein einheitliches Votum darüber zulässt, ob der Krieg nun nationalsozialistisch war oder nicht. Denn einerseits gehorchten die Massenmorde der „nationalsozialistischen Moral“ (56), andererseits war der Krieg der Wehrmacht nicht von nationalsozialistischen Prämissen geprägt (395ff.). Freilich gab es Differenzen und Spannungen innerhalb der Wehrmacht sowie zwischen Wehrmacht und Waffen-SS, und trotz des Eides auf Hitler auch zwischen dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht und der Heeresführung. Aber es war nun einmal nicht irgendein Krieg, sondern der von Nazi-Deutschland gegen nahezu den gesamten Rest der Welt. Das wusste auch die Wehrmacht und folgte bereitwillig in den Krieg. Unstimmigkeiten zeigen sich aber auch im Mikrobereich der Analyse. So überschlägt sich etwa Hauptmann Hachfeld mit seinem Flieger, fängt Feuer und brüllt wie ein Tier als er verbrennt. Das berichtet ein Zeuge. Der Kommentar hierzu folgt wenige Zeilen später: „Man … vermeidet Namen und Todesursachen. Warum? Weil das Sprechen über die Möglichkeit des Todes als schlechtes Omen gilt.“ (210f.). Der Mann hieß Hachfeld, und er verbrannte in seinem Flugzeug! Das Beispiel ist einfach fehl am Platz und zeigt die Schwierigkeit, Grundmuster der Protokolle herauszuarbeiten. Meines Erachtens gibt es schlichtweg zu viele Rahmungen, die sich dann notgedrungen widersprechen müssen. So wird mehrmals auf Johannes Bruhns Rekurs genommen. Seine „skurrile Einlassung, … man müsse von den eigenen Kindern ein oder zwei der Rache der Opfer zur Verfügung stellen“ (152), begegnen wir später mit dem Hinweis auf Johannes Bruhns „Distanz und Muße“, die zu einem erstaunlichen Gespräch führten (199). Skurril, nicht wahr? Skurril aber nur deshalb, weil die Protokolle in ihre Inhalte gestückelt werden und jede Stückelung einen Hinweis für einen speziellen Referenzrahmen geben muss. Noch einmal Johannes Bruhns, der meint, wegen des Blutrauschs der deutschen Wehrmacht hätten sie die Niederlage verdient, „obgleich ich mich damit selbst anklagen muss“ (199). Der Kommentar unmittelbar danach: „Stets wird aus der Perspektive des letztlich unbeteiligten Zuschauers gesprochen.“ Auch diese Perspektive kann ich an dieser Stelle nicht erblicken.
Irritierend ist für mich
schließlich, dass der Wehrmachtbericht als Beweis für den Kampfesmut der
Soldaten herangezogen wird (317). Obwohl dies aus rein militärischer Perspektive
richtig sein mag, so war der Bericht doch in erster Linie ein
nationalsozialistisches Propagandamittel. Zu bemängeln ist ferner, dass von
„Günther“ Grass (387) gesprochen wird — auch wenn dies der einzige von mir
entdeckte Fehler eines sonst hervorragenden Lektorats ist. Und seltsam scheint
mir zuletzt, dass die Gewalt in TV, Kino und PC mit der des Krieges auf eine
Stufe gestellt wird (91), obwohl erste rein virtuell, zweite hingegen absolut
real ist. Schließlich bleibt unausgesprochen, welcher Referenzrahmen der
Referenzrahmenanalyse zugrunde liegt. So steht eine subjektiv geprägte Theorie
der Uniform den Praxen der Soldaten im Zweiten Weltkrieg gegenüber. |
Sönke Neitzel +
Harald Welzer
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