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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

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Hornhaut gegen den Kummer

Eine Debatte über die »Philosophie der Arbeit«
mit Texten von der Antike bis zur Gegenwart

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Neben der Familie gehört die Arbeit zum wichtigsten Bereich sozialer Identifikation. Mit ihr untrennbar verknüpft ist der Wunsch nach beruflichem Erfolg, materieller Sicherheit und Unabhängigkeit. Doch das war nicht immer so, wie Michael Aßländer und Bernd Wagner in ihrem Buch nachweisen. Der Band versammelt in sechs Kapiteln die philosophische Debatte zum Thema Arbeit von Hesiod über Hegel bis Honneth und skizziert den Bedeutungswandel der Arbeit vom notwendigen Übel zum Sinnstifter des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Arbeit in Antike und Mittelalter

In der Antike gilt die Muße mehr als die mit moralischer Skepsis verbundene Arbeit. Ansehen verschafft man sich durch militärischen Erfolg und politische Karrieren, nicht aber durch Arbeit, die in erster Linie durch Land- und Hauswirtschaft geprägt ist und von Erziehungs- und Ordnungsfragen begleitet wird. In Platons Nomoi heißt es paradigmatisch, der Bürger habe »eine Kunst zu üben, welche ihn allein hinlänglich in Anspruch nimmt und viele Übungen und mannigfache Erkenntnisse erfordert, nämlich die allgemeine Ordnung des Staates zu schaffen und zu erhalten.«

Muße und geistige Arbeit besitzen auch noch im Mittelalter einen hohen Stellenwert und werden insbesondere in den klösterlichen Gemeinschaften gepflegt. Für die Theologen ist Arbeit »die gerechte Strafe Gottes für den Sündenfall des Menschen.« Arbeit ist in diesem Sinne Erziehungs- und Disziplinierungsinstrument. Thomas von Aquin denkt über einen Gott nach, »der den Menschen sein Gesetz gegeben hat, indem er allen, die es befolgen, Lohn, denen aber, die es übertreten, Strafe austeilt.«

Allerdings bildet sich parallel zur theologischen Disputatio eine städtische Kultur mit zahlreichen Handwerken und Kaufmannsberufen heraus. So rückt zusehends der ökonomische Aspekt der Arbeit in den Vordergrund. Die soziale Aufwertung der Arbeit ist verbunden mit der Vorstellung, Arbeit sei nicht nur die Quelle persönlichen Erfolgs, sondern gleichwohl der Grund gesellschaftlichen Reichtums. Dies verleitet Rousseau zu der Annahme, jeder Müßiggänger sei ein Betrüger.

Arbeit in Neuzeit und Aufklärung

Die Leonardo-Welt des 15. und 16. Jahrhunderts ist sodann etwas, das durch menschliche Arbeit neu gestaltet werden kann, ehe die Aufklärung Arbeit zum Schlüsselbegriff ihrer Diskurse promoviert und damit nicht zuletzt einen Beitrag zur Entstehung der klassischen Ökonomie leistet. Dies geschieht nicht zuletzt auch dadurch, dass sie den Reichtum der Nationen durch die Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse zu mehren sucht. Die Folge ist die Inauguration der Arbeit als Bürgerpflicht. Sie bestimmt fortan den Wert der Dinge. Nochmals Rousseau: »Ich will, daß Emile auf jeden Fall ein Handwerk erlernt.«

Das Handwerk verändert die Gesellschaft, für die die Erwerbsarbeit inzwischen zur Normalität und zur Grundbedingung menschlichen Lebens geworden ist: »Mit der neuzeitlichen, fabrikmäßig organisierten Arbeit entsteht«, so die Herausgeber, »ein neuer gesellschaftlicher Typus: das Proletariat.« Es entsteht ferner eine Gesellschaft aus Individuen, die auf Grund ihres Charakters als Arbeitsgesellschaft diese Individuen zueinander in Konkurrenz setzt.

Arbeit in Moderne und Gegenwart

Karl Marx fasst das in der »Deutschen Ideologie« so zusammen: »Die Konkurrenz isoliert die Individuen, nicht nur die Bourgeois, sondern noch mehr die Proletarier gegeneinander, trotzdem daß sie sie zusammenbringt. Daher dauert es lange Zeit, bis diese Individuen sich vereinigen können, abgesehn davon, daß zu dieser Vereinigung – wenn sie nicht bloß lokal sein soll – die nötigen Mittel, die großen Industriestädte und die wohlfeilen und schnellen Kommunikationen durch die große Industrie erst hergestellt sein müssen, und daher ist jede organisierte Macht gegenüber diesen isolierten und in Verhältnissen, die die Isolierung täglich reproduzieren, lebenden Individuen erst nach langen Kämpfen zu besiegen. Das Gegenteil verlangen, hieße ebensoviel wie zu verlangen, daß die Konkurrenz in dieser bestimmten Geschichtsepoche nicht existieren soll oder daß die Individuen Verhältnisse, über die sie als Isolierte keine Kontrolle haben, sich aus dem Kopf schlagen sollen.«

In der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehen aus diesem gewandelten Verständnis der Arbeit darüber hinaus auch die Wirtschaftswissenschaften, die das Thema Arbeit mehr und mehr besetzen und es dem philosophischen Diskurs nach Marxens Tod geradezu entreißen. Der Arbeitsplatz und die Arbeitsmarktpolitik bestimmen diesen Diskurs ebenso wie die divergierenden Interessen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Und Politik wird zur Vermittlungsinstanz der Arbeitswelt, deren oberstes Prinzip die Wiederholung immer gleicher Abläufe ist. Die moderne Industriegesellschaft erledigt nicht bloß Arbeit; ihr geht es darum, permanent Arbeit zu »leisten«, und das mit Hilfe technischer Innovation und effizienter Produktion. Eine Rückkehr zur Mußegesellschaft ist von nun an unmöglich. In seinem »Lob des Müßiggangs« schreibt Bertrand Russell: »Da aber stets von oben her die Schwerarbeit als höchste Tugend hingestellt wurde, ist kaum vorstellbar, wie es die Behörden anstellen sollten, plötzlich ein Paradies anzustreben, in dem es viel Muße und wenig Arbeit geben würde. Es liegt näher, daß sie beständig neue Pläne erfinden werden, wonach die mögliche gegenwärtige Freizeit einer künftigen Produktivität zum Opfer gebracht werden muß.«

Gegenwärtig muss man sich, so die Herausgeber, Arbeit verdienen. Leistung soll sich »wieder« lohnen. Man muss dankbar sein, Arbeit zu haben und bereit sein, für den Erhalt seines Arbeitsplatzes Opfer zu bringen. Das neue Ideal ist der »Projektarbeiter« und das »unternehmerische Selbst, »flexibel einsetzbar, beliebig kündbar und stets abrufbar.« Gleichzeitig entwickelt sich aus der Gesellschaft heraus eine neue Sinnsuche jenseits des Arbeitsplatzes, nicht zuletzt, weil die Grenzen zwischen Privatheit und Arbeitswelt im Verschwinden begriffen sind: Die Beziehung wird zur »Beziehungsarbeit«.

Treffend lautet der Titel des letzten Essays in diesem Band von Dieter Thomä: »Jenseits von »Work-life balance« und »Burn-out«.« Thomä plädiert darin für eine »Rehabilitierung der Arbeit« und eine Stärkung der Resilienz jedes einzelnen Arbeitnehmers. Sich bilden und Geduld mit sich selbst haben, lautet Thomäs Credo. Mit Cicero gesprochen könnte Arbeit dann auch wieder zur »Hornhaut gegen den Kummer« werden.

Die klug ausgewählten Texte von Aßländer und Wagner liefern nicht nur ein eindrucksvolles Bild der Jahrhunderte währenden Auseinandersetzung mit dem Thema; sie zeigen auch, dass technologischer und digitaler Wandel dazu geführt haben, dass sich die Philosophie – zum Glück – wieder intensiver mit dem Thema beschäftigt und einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Diskussion über Sinn und Zweck der Arbeit leisten kann.


Artikel online seit 03.06.17

 

Hg.: Michael S. Aßländer, Bernd Wagner
Philosophie der Arbeit
Texte von der Antike bis zur Gegenwart
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2201
Broschur
546 Seiten
978-3-518-29801-5

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