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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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A big hug

Erinnerungen an John Berger
 

Von Wolfram Schütte

 

Es war einmal in den frühen Achtziger Jahren. Da war es gewissermaßen unumgänglich, den englischen Kunsthistoriker John Berger auf Deutsch kennen zu lernen. Klaus Wagenbachs findiger Verlag hatte von ihm eine Sammlung seiner kunsthistorischen Essays unter dem verlockenden Titel »Das Leben der Bilder« publiziert - & wer einmal begonnen hatte, in dem Band zu lesen & für Literatur & Essayistik entflammbar war, hat sich unweigerlich in diesen Autor verliebt! Derart hinreißend, originell, zupackend, intelligent hatte noch keiner über Malerei & Photographie, Maler & Fotografen geschrieben wie John Berger. In jedem dieser brillianten Essays - z.B. zu Turner, Millet oder Giacometti & Bacon – gab es wenigstens einen Gedanken, eine Formulierung, die »Augen öffnend« war - genial schien mir.

Ich kam mir vor wie Karl Philipp Moritz, als er (wie vom Blitz getroffen) dem Nobody schrieb, nachdem er das Manuskript des ihm zugeschickten ersten Romans Jean Pauls gelesen hatte: »Und wenn Sie am Ende der Welt wären, und müßte ich hundert Stürme aushalten, um zu Ihnen zu kommen, so flieg ich in Ihre Arme! Wo wohnen Sie? Wie heißen Sie? Wer sind Sie? Ihr Werk ist ein Juwel…«

Dabei war der englische Autor bereits zuvor mit zwei Taschenbücher bei Rowohlt & zwei Künstler-Monographien in der DDR seit den 60iger/70iger Jahre in der zweigeteilten deutschen Welt unter Kunsthistorikern bekannt. Ganz zu schweigen, von seinen BBC-Fernsehsendungen »Ways of seeing« in der angloamerikanischen Welt der Intellektuellen ein bereits bekannter Name. Womöglich hatte ich ihn sogar schon hin- & wieder im damals abonnierten »New Statesman« gelesen: folgenlos, gewiss; ebenso wenig hatte ich bemerkt, dass der seit 1973 in einem Dorf in Hochsavoyen lebende Kunstkritiker, Maler, Lyriker & Erzähler (was ich damals auch nicht wusste) der Drehbuchautor dreier chef d´oeuvres des Schweizer Filmregisseurs Alain Tanner war!

Spontane Herzlichkeit

Aber mein Enthusiasmus für den gerade erst Entdeckten & die Vielfalt seiner ästhetisch-politischen Ein-& Ansichten ließ mich nicht ruhen. Als verantwortlicher Redakteur der Wochenendbeilage der »Frankfurter Rundschau« wollte ich einen solchen Autor als ständigen MItarbeiter gewinnen. Wir vor allem konnten damit nur gewinnen; er aber auch. Seine regelmäßige Präsenz am selben Ort könnte ihn & sein Werk, das bislang nur rudimentär & verstreut übersetzt worden war, bei uns bekannter machen & ihn gar »durchsetzen«? In einem einseitig nur auf Romane & hauptsächlich deutschsprachige Romanciers fixierten bundesdeutschen Literaturbetrieb hatten es versatile Schriftsteller wie er besonders schwer, allgemein bekannt zu werden. Das hatte ich ja an meiner eigenen Ignoranz gesehen.

Also machte ich mich – wovon Moritz in seine Jean-Paul-Begeisterung nur geschrieben hatte – zusammen mit meiner Frau auf den Weg zu John Berger nach dem Ort Quincy in den Französischen Alpen. Es war auf einer der jährlichen Reisen zu den Filmfestspielen von Cannes.

Am Ortseingang der weit verstreut an den Talhängen liegenden Häuser wohnte er, zusammen mit seiner (dritten) Frau, der US-Amerikanerin Beverly, in der bäuerlichen Wohnung eines großen, scheunenartigen alten Hauses. Das »klassische« hölzerne Außenklo stand gegenüber der Eingangstür.

Eigentlich wollte ich ihn an diesem Nachmittag nur zu einer regelmäßigen FR-Mitarbeit gewinnen & die finanziellen, bzw. logistischen Modalitäten förmlich-geschäftlich vereinbaren. Aber schnell waren wir miteinander warm geworden. Seine lebhafte, zugeneigte intellektuelle Offenheit & emotionale Warmherzigkeit wirkte auf Anhieb ansteckend. Man wurde fröhlich in seiner Gesellschaft, fühlte sich in seiner Nähe herzlich aufgehoben.

Wir wurden, als wir dann zurück in die nächste Kleinstadt zu unserer Herberge fahren wollten, zu einem kleinen Spaziergang in die Gegend um das Haus aufgefordert & eine halbe Stunde später wieder als Abendgäste im Haus mit seinem langen Tisch & den bäuerlichen Sitzbänken erwartet. Die beiden Gastgeber hatten während unserer »Ortsbesichtigung« ein frugales Mal angerichtet: Ölsardinen & Bergkäse, Brot & Oliven, Wein & Schnaps.

Als wir sie am späteren Abend verließen, blieb es nicht beim Händeschütteln des Anfangs. Wir nahmen uns alle in den Arm – als wären wir  als enge Verwandte zur Besuch bei John & Beverly gewesen. Es waren die ersten jener unzähligen späteren Umarmungen, die als Wunsch am Ende jedes seiner Briefe stand: »A big hug«.

Ich erinnere diesen ersten Augenblick unserer Bekanntschaft, weil sie mir außergewöhnlich erschien & mir dergleichen Spontaneität, Warmherzigkeit, Großzügigkeit & Zartheit nie mehr begegnet ist. Wenn das Wort »liebenswürdig« auf einen Menschen zutraf, weil er davon zuinnerst erleuchtet war, dann auf John Berger, wie wir ihn immer erlebt haben.    

Neugier, Enthusiasmus, Demut, Takt

Nie habe ich erlebt, wenn ich seinen Namen gegenüber anderen Autoren nannte - vor solchen, die ihn persönlich und jenen, die nur sein Werk kannten -, dass auch nur einer abfällig, neidisch oder unfreundlich von ihm oder über ihn gesprochen hätte; manche wünschten sogar, ihn endlich einmal als Person kennen zu lernen, wohl weil ihnen während der Lektüre seiner Arbeiten ein ganz eigentümlicher, untergründiger, menschlicher, ja auch herzlicher »Wärmestrom” präsent zu sein schien. Solche Sympathie für einen der ihren ist höchst ungewöhnlich unter Künstlern und Schriftstellern, die sich ja immer auch in Konkurrenz zu einander selbst definieren: durch Anziehung & Abstoßung.

John Berger aber, scheint mir, hatte mehr Freunde als Feinde unter seinen Kollegen & Kolleginnen - überall auf der Welt. Ebenso unter Lesern.
Freundschaftliche Zuneigung, ja eine gewisse Form von Fernen-Liebe für einen Künstler bedeutet mehr als Bewunderung. Diese kann sich als Respekt auf seine Hervorbringungen und deren ästhetische Qualität beziehen & die empirische Person ignorieren. In den meisten Fällen ist diese Trennung absolut notwendig und wo man versäumt hat, sie vorzunehmen & durchzuhalten, wird man oft ungerecht bei die Wertschätzung des der misslichen Person zu verdankenden künstlerischen Werks.

Nicht so bei John Berger. Wer je ihm bei einer Lesung zugehört, mit ihm gesprochen oder mit ihm zusammen war, würde das bestätigen können. Bei ihm war »der Mensch« wie der »Autor«. Diese ebenso seltene wie erstaunliche Identität war sein offenes Geheimnis, und dessen Grundlage: Offenheit, Neugier, Demut, Enthusiasmus & Takt.
Wie mit Grazie in Würde zu leben sei, wäre von ihm zu lernen gewesen: in dem, was er geschrieben hat ebenso, wie an seinem Umgang mit Menschen und Kunstwerken.

Dabei hieß das nicht, dass man alles von ihm schätzen oder immer seine Meinungen zur Welt hätte teilen müssen, schon gar nicht im Gespräch und der Diskussion. Er liebte den Dialog, Kennenlernen, Nachforschen, Bezweifeln, Formulieren - also die Arbeit des Denkens - wie ein Philosoph, der sich Fragen stellt. Kaum je hatte er eine fertige Antwort, immer sah man ihm an, wie er seinen Weg denkend und sprechend suchte. Und vor allem in seinen brillanten Essays plötzlich zu epiphanischen Verdichtungen gelangte, die blitzhaft ihre Gegenstände erleuchteten oder ein Werk durchglühten, das von ihm in ein ganz neues Licht gerückt worden war.

Übrigens schien er, der eine »tiefsitzende Sympathie für die Underdogs« hatte, auf deren Seite er politisch sein Leben lang war, dennoch sein »Weltvertrauen«  nie verloren zu haben, obwohl doch ein guter Teil seines Oeuvres dem unwiederbringlichen Abschied gewidmet war - am entschiedensten dem Verschwinden der bäuerlichen Welt des lebensvollen Handwerks. Jedoch auch dort, wo er ihm ein großes, schmerzliches Eingedenken widmete (in der erzählerischen Trilogie »Von ihrer Hände Arbeit«, also »Sauerde«, »Spiel mir ein Lied« und »Flieder & Flagge«) hat er es weder heroisiert noch sentimentalisiert.

Ein europäischer Künstler von Rang

Von früh auf bewegte er sich im London der Kriegs- & Nachkriegszeit im Kreis von linken europäischen Emigranten (u.a. Ernst Fischer), bevor John Berger selbst einer wurde - als ihm die intellektuelle Provinzialität und der politische Opportunismus in Großbritannien, die er als junger polemischer, nachdenklicher und radikaler Kunstkritiker des linken »New Statesman« kräftig aufgemischt hatte, zuwider wurden und er einen Skandal provoziert hatte, weil er 1972 den Booker-Preis für seinen zweiten Roman »G.« zur Hälfte den militanten »Black Panthers« in den USA stiftete.

Er ging »auf den Kontinent«, wie man auf der Insel immer noch sagt, und lebte seither mit Beverly & ihrem Sohn, dem Maler Yves, in Hochsavoyen unter Bauern. In Paris hatte er eine Zweitwohnung, von wo er oft zu Reisen aufbrach: z.B. nach Großbritannien, Spanien, Polen, Russland – wo immer er Freunde hatte oder sie sich machte. Nach Deutschland oder Italien waren J&B mit seiner Kawasaki unterwegs. Einmal ist er sogar, nachdem er »Himmel über Berlin« gesehen hatte, spontan nach Berlin mit seinem Motorrad gebraust, um Wim Wenders für den Film zu danken.

Der leidenschaftliche Motorradfahrer John Berger wurde gewissermaßen nebenbei, aber mit Notwendigkeit & aus Passion: ein europäischer Künstler von hohem Rang. Was Albert Camus als Antinomie von »solitär« und »solidär« für den Künstler behauptete, hat John Berger als eine Herausforderung verstanden, diesen Widerspruch mit dem Spagat seiner leidenschaftlichen Empathie zu überbrücken.

Denn der Augenmensch John Berger gehörte zu den mehrfach Begabten, die sich vielfach künstlerisch verausgaben & erproben können. Als Maler hatte er begonnen - eine ursprüngliche künstlerische Leidenschaft, der er sich erst wieder im Alter zuwandte -, war dann zur Kunstkritik & zum Essayismus übergewechselt und hatte zugleich journalistisch gearbeitet. Noch in London waren seine ersten Romane »Die Spiele« & »G.« entstanden. Die bewegende Recherche »Geschichte eines Landarztes« (1967), gewissermaßen ein literarischer Vorgriff auf erzählerische Zeugenschaften und Verdichtungen in Prosa & Gedicht, die ihm in der bäuerlichen Welt der französischen Alpen auf eine neue, intensive Art zuwuchs, stiftete eine lebenslange Zusammenarbeit & Freundschaft mit dem Schweizer Fotografen Jean Mohr, mit dem zusammen er nicht nur ein eben neu im Fischer-Taschenbuchverlag vorgelegtes Buch über »Migration und Arbeit in Europa« (»Der siebte Mensch«), sondern auch eine kleine Philosophie der Fotografie unter dem Titel »Eine andere Art zu erzählen« (1982) geschrieben hat. Eben hatte sein deutscher Verlag C. Hanser alle Arbeiten John Bergers zum »Augenblick der Fotografie« gesammelt. 

In einem Essay, der von einem Bild des spanischen Malers Velázquez ausgeht, der ein imaginäres Porträt des antiken Fabelerzählers Äsop gemalt hat, beschreibt John Berger, was seine Vorstellungskraft und Phantasie dem Bild ab- & in es erzählerisch hineinliest: »Er betrachtet, beobachtet, belauscht und erkennt, was ihn umgibt, was außerhalb seiner selbst ist, und zugleich wägt er im Inneren ab, ordnet das, was er wahrgenommen hat, und versucht unablässig, einen Sinn jenseits der fünf Sinne zu finden, mit denen er geboren wurde«. Es fällt schwer, in dieser Phantasie über Velázquez' »Äsop« nicht auch ein diskret verborgenes Selbstporträt des europäischen Künstlers John Berger zu vermuten, weil darin Weg & Ziel seiner Kunst der Wahrnehmung, der Anteilnahme und der sich daraus entwickelten Transzendenz in einen verborgenen Sinn des »Unabgegoltenen«, wie Ernst Bloch gesagt hätte, auf zarte Art angedeutet ist.
Es war einmal … Nun ist John Berger im Alter von 90 Jahren am 2. Januar gestorben.

A big hug.

Artikel online seit 08.01.17

 




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