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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Eine Biografie in Fesseln

Manfred Mittermayers Bernhard-Biographie bietet wenig wirklich Neues
über den großen Unruhestifter, und das liegt nicht am Biografen...


Von Lothar Struck

Manfred Mittermayer ist nicht irgendwer, wenn es um Thomas Bernhard geht. Seine Publikationsliste zu dem österreichischen Schriftsteller ist lang. Mittermayer hat einige Bände der Thomas-Bernhard-Gesamtausgabe mit herausgegeben. Auf der Webseite des Literaturarchivs Salzburg wird er als Vorstandsmitglied der Internationalen Thomas Bernhard Gesellschaft geführt; auf deren Webseite nicht (mehr?). 2006 erschien von ihm eine bei Suhrkamp eine "BasisBiographie" über Bernhard. Und jetzt also, anlasslos, im Residenz-Verlag eine neue, ausführliche Biografie von ihm zum "Alpen-Beckett".

Dabei ist es eigentlich keine besonders gute Zeit, eine Biografie über Thomas Bernhard zu schreiben, die neben dem allseits bekannten auch neue Aspekte bieten kann. Zu tun hat dies zunächst einmal mit der notariellen Verfügung Bernhards, wie mit seinem Nachlass zu verfahren ist. Mittermayer zitiert gegen Ende seiner Biografie den bekanntesten Abschnitt wie folgt:

»Weder aus dem von mir bei Lebzeiten veröffentlichten noch aus dem nach meinem Tod gleich wo immer noch vorhandenen Nachlaß darf auf die Dauer des gesetzlichen Urheberrechtes innerhalb der Grenzen des österreichischen Staates, wie immer dieser Staat sich kennzeichnet, etwas in welcher Form immer von mir verfaßtes Geschriebenes aufgeführt, gedruckt oder auch nur vorgetragen werden. Ausdrücklich betone ich, daß ich mit dem österreichischen Staat nichts zu tun haben will, und ich verwahre mich nicht nur gegen jede Einmischung, sondern auch gegen jede Annäherung dieses österreichischen Staates meine Person und meine Arbeit betreffend in aller Zukunft. Nach meinem Tod darf aus meinem eventuell gleich wo noch vorhandenen literarischen Nachlaß, worunter auch Briefe und Zettel zu verstehen sind, kein Wort mehr veröffentlicht werden.« (Das Zitat ist jedoch nicht korrekt, weil die Auslassungszeichen fehlen. So fehlt im ersten Satz das Wort "selbst": "Weder aus dem von mir selbst bei Lebzeiten veröffentlichten…" [Hervorhebung von mir, L.S.].)

Legat und Stiftung

Zugegeben, diese Verfügung ist für jeden Testamentsvollstrecker und Nachlassverwalter eine veritable Zumutung. Rechtlich ist der Teil, der das Verbot zur Publikation und Aufführung bereits veröffentlichter Werke vorsieht, nichtig. Was den Nachlass, d. h. die bisher nicht publizierten bzw. aufgeführten Texte angeht, gibt es mehrere Handlungsmöglichkeiten. Man kann beispielsweise, wie Max Brod dies mit Kafka tat, die Klausel im Interesse an der Kunst und am Publikum vollständig ignorieren. Ob dies bei einer notariellen Verfügung möglich ist, müssten Juristen entscheiden. Oder man könnte sie formal auf die Grenzen des österreichischen Staates anwenden, was allerdings lächerlich wäre. Man muss davon ausgehen, dass auch etliche andere Varianten, wie man mit diesem Testament umgehen soll, von Peter Fabjan, Bernhards Halbbruder, und Siegfried Unseld, dem sogenannten literarischen Nachlassverwalter, überlegt worden sind.
Zunächst akzeptierte man Bernhards Anweisung, verlegte zum Beispiel Uraufführungen seiner Dramolette ins benachbarte Ausland. Zehn Jahre wurde das Legat eingehalten. Schließlich gründete man 1998 eine Stiftung, die sich als "unabhängige" (von wem ist sie unabhängig?) und "gemeinnützige Einrichtung" versteht, "mit dem Zweck, den Dichter im In- und Ausland zu vertreten". Eingebunden in die Stiftung, die dadurch wie eine Holding erscheint, sind das Thomas Bernhard Archiv und die Internationale Thomas Bernhard Gesellschaft.

Neben einigen Textsammlungen begann ab 2003 die Publikation der kommentierten Werkausgabe (bisher sind 22 Bände erschienen). 2009, mehr als 20 Jahre nach Bernhards Tod, erschien bei Suhrkamp Meine Preise, eine Textsammlung, die Bernhard bereits zu Lebzeiten fertiggestellt hatte. Verkauft wurde das Buch als eine "Erstausgabe" aus "dem Nachlaß". Schließlich der viel beachtete und parallel mit einem sehr gelungenen Hörbuch inszenierte Briefwechsel Thomas Bernhards mit Siegfried Unseld. 2013 dann "Argumente eines Winterspaziergängers. Und ein Fragment zu 'Frost': Leichtlebig" (bei Suhrkamp) und, weitgehend unbeachtet, da im "Korrekturverlag" erschienen, der Briefwechsel Thomas Bernhard/Gerhard Fritsch. Ob für die im nächsten Jahr geplante 1200seitige Bernhard-Enzyklopädie weitere Teile des Nachlasses Verwendung finden?

Steuergelder und Wortmarke

Ein anderes Problem für jeden wissenschaftlich ambitionierten Biografen dürfte die Zusammenarbeit mit der Stiftung darstellen. Publikationen aus dem Nachlass von Thomas Bernhard werden äußerst selektiv herausgebracht. Das ist einerseits verständlich, um eine größtmögliche philologische Qualität des Nachlasses zu gewährleisten. Aber der Nachlass steht derzeit der Forschung, die diesen wiederum einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen könnte, nicht zur Verfügung. Der Nachlass ist an einen unbekannten Ort gebracht worden. Peter Fabjan schrieb dem ORF von einer "erzwungenen Übersiedlung" ("Kulturmontag", 28.9.2015). Evelyn Breiteneder, Vorstandsmitglied der Thomas-Bernhard-Privatstiftung, bezeichnete den Nachlass Bernhards als "Mona Lisa von Österreich" und rechtfertigte die Massnahme der Verbringung an einen nicht publizierten Ort mit dessen Wichtigkeit. Der Vergleich mit der Mona Lisa erscheint dahingehend problematisch, dass diese ja durchaus der Öffentlichkeit zugänglich ist, es sei denn, sie meint die Zeit zwischen dem 22. August 1911 und dem 31. Dezember 1913.

Unabhängig davon, dass der Nachlass jetzt als Herrschaftsbesitz behandelt wird, weist Mittermayer bereits im Vorwort seiner Biografie darauf hin, dass aus bisher nicht publizierten Privatbriefen Bernhards nicht zitiert werden darf. Selbst wenn er also Kopieunterlagen besitzen würde, dürften diese nicht verwendet werden. Immer wieder wird er in seinen Anmerkungen diese Problematik streifen. Zuweilen greift er auf mündliche Überlieferungen zum Beispiel von Bernhards Halbschwester Susanne Kuhn zurück. 

Aber nicht nur dieses restriktive Vorgehen der Stiftung befremdet. Wie unprofessionell und in sich widersprüchlich inzwischen die Handlungen der Akteure geraten, konnte man im Februar diesen Jahres wieder einmal erfahren, als eine kommentierende Lesung aus Bernhards "Theatermacher" in Salzburg verboten wurde und sich Fabjan und der Suhrkamp-Verlag gegenseitig die Verantwortung hierüber zuwiesen.

Knapp eine Woche nach dem Vorkommnis erschien im österreichischen Standard ein Artikel von Klaus Kastberger, der neue Konstellationen in der Causa Bernhard und Nachlassverwaltung kommentierte. Dabei erläuterte Kastberger wie die Stiftung (und deren Organe) Möglichkeiten zur "Rekrutierung staatlicher Fördergelder" boten. Alleine 2003 flossen "mehr als 230.000 Euro in die Stiftung und das von ihr betriebene Th.-B.-Archiv, das im November 2001 in Gmunden errichtet und der Stiftung um einen symbolischen Mietbetrag zur Nutzung überlassen wurde." Bernhard sei über Jahre zum "staatlich bestgeförderte[n] Schriftsteller Österreichs" geworden. Nicht nur in Anbetracht des Testaments übrigens eine fast skurrile, vielleicht sogar bernhardeske Situation. Zu den 2015 von Fabjan getroffenen, scheinbar willkürlich vorgenommenen (nicht nur personellen) Veränderungen, die von ehemaligen Beiratsmitgliedern kritisiert wurden, stellt Kastberger die Frage, inwiefern diese Stiftung nun noch eine staatliche Subventionierung verdiene. Der Stiftungszweck des niederschwelligen Zutritts ist tatsächlich nicht mehr gewährleistet; die "Mona Lisa" ist verschlossen. Was Kastberger dann hinsichtlich eventueller Markenrechte mutmaßte, stimmt tatsächlich: Mit Antrag von 02.02.2000 hat die Thomas-Bernhard-Stiftung  die Wortmarke "Thomas Bernhard" – vorerst bis 02.02.2020 – registrieren lassen.

Ängstliche Leser seines Artikels deuteten das im Text durchgängig verwendete Kürzel "Th.-B." als notwendig gewordene Vorsichtsmaßnahme um eventuellen Klagen gegen die Verwendung des Namens "Thomas Bernhard" vorzubeugen. Ganz so weit dürften die Befugnisse durch den Besitz der Wortmarke zwar nicht reichen, aber durch eine solche Markenregistrierung erreicht man beispielsweise die Kontrolle über Werbe- und Marketingmaßnehmen mit dem Namen "Thomas Bernhard".

Aus der Not eine Tugend gemacht

Da Mittermayer keine wissenschaftliche Biografie mit gravierend neuen Erkenntnissen schreiben konnte, machte er aus der Not eine Tugend. Das Ergebnis wird "erzählende Biografie" genannt. Chronologisch wird Bernhards Leben aufgefächert. Hierbei bedient er sich insbesondere was die Kindheit und Jugendjahre angeht vor allem bei den zwischen 1975 und 1982 im Residenz-Verlag erschienenen fünf autobiografischen Erzählungen und gleicht sie mit anderen Quellen ab. Dies jedoch nicht ohne auf die Problematik in Form eines Imperativs hinzuweisen: "Bernhards Literatur ist ohne Bezugnahme auf die Biografie nicht zu verstehen – Bernhards Literatur jedoch ist aus seiner Biografie nicht zu erklären."

Zwangsläufig beschäftigt sich Mittermayer ausgiebig mit der prägenden Figur in Bernhards Leben: dem zunächst erfolglosen, aber dennoch stets selbstbewussten Schriftsteller Johannes Freumbichler (1881-1949), dem Großvater mütterlicherseits. Auch die Leben der reservierten, überforderten und lange Zeit kalten Mutter und des praktisch nicht existierenden (und früh verstorbenen) Vaters werden rekonstruiert. Freumbichler wird Erziehungs-, Respekts- und Liebesperson für Bernhard in einem. Als er und Bernhards Mutter binnen anderthalb Jahren sterben und dies inmitten von Krankenhausaufenthalten, in denen der junge Bernhard seine schweren Lungenleiden kurieren soll, wird Mitte der 1950er Jahre die 1894 geborene Ministerialratswitwe Hedwig Stavianicek bis zu ihrem Lebensende 1984 zu Bernhards wichtigstem Menschen, dem sogenannten "Lebensmenschen".

Bernhard lernte Stavianicek, die er später "Tante" nennen wird, "um unangenehmen Fragen hinsichtlich des Charakters ihrer Beziehung auszuweichen" (Mittermayer), schon 1950 bei einer Gesangsdarbietung kennen.  Zunächst trennen sich noch ihre Wege. Bernhard versucht durch Vorsingen Engagements an Theatern zu erhalten, was misslingt. Schließlich beginnt er für diverse Salzburger Zeitungen u. a. als Gerichtsreporter zu schreiben. Dabei ergänzt er die Berichte über die zum Teil als langweilig empfundenen Gerichtsverhandlungen mit frei erfundenen Details. Bernhard schreibt auch Filmrezensionen, meist jedoch Verrisse. Schließlich verlässt er die Zeitung und beginnt ein Gesangsstudium, was Stavianicek finanziell unterstützt. Er bricht es aber schnell ab; es fehlt ihm an Zuverlässigkeit und Lerneifer. Im Juni 1957 besteht Bernhard die "Bühnenreifeprüfung". Aber bereits zu diesem Zeitpunkt war seine Karriere als Schriftsteller vorgezeichnet. Gedichtbände erscheinen, erste Vorarbeiten zu Prosaarbeiten entstehen.

Aufschlussreich sind die Schilderungen wie Bernhard zu Beginn seiner schriftstellerischen Karriere zwischen mehreren Verlagen hin- und herschwankt. An mündliche Zusagen oder Verträge fühlte er sich schon damals nicht immer gebunden und interpretierte sie nach Gutdünken. Als sich Unseld für Bernhard entscheidet, sind die Würfel gefallen. Der Piper-Verlag, der "Frost" ebenfalls verlegen wollte, wird übergangen. Und der Hanser-Verlag, der ein noch großzügigeres Darlehen gewährt hätte als Bernhard von Unseld "erpresst" hat, kommt zu spät.

Kurz nach dem Erscheinen von "Frost" verdingt sich Bernhard als LKW-Fahrer und beschäftigt sich mit Auswanderungsplänen – mal nach Afrika als Entwicklungshelfer, mal nach Amerika. Aber die überwiegend positiven Reaktionen auf das Buch lassen ihn von solchen Plänen Abstand nehmen.

Werkschau mit Ergänzungen

Hier beginnt nicht nur eine Zäsur in der Biografie Bernhards sondern auch in der Bernhard-Biografie Mittermayers. Von nun an betreibt er eine fast ausnahmslos chronologische Werkschau mit Inhaltsangaben und Zitaten, Rezensionsausschnitten (aus der jeweiligen Zeit) und konzisen, dennoch jedoch schlüssigen Deutungsangeboten. Zuweilen erinnert das Buch jetzt an Jens Dittmars "Werkgeschichte" von 1990 (st 2002), ergänzt mit Erkenntnissen aus "Meine Preise" und vor allem aus dem Bernhard/Unseld-Briefwechsel inklusive Unselds Reiseberichten.

Mittermayer erkennt an Bernhards Kritik an der Verwissenschaftlichung der Welt in dessen ersten Prosatexten durchaus Einflüsse Freumbichlers, der in seinen meist opulenten Romanen die Entfremdung des Menschen in der Moderne in restaurativer Absicht thematisierte. Die Bernhard'sche Kritik an der Masse in der Moderne führt Mittermayer unter anderem auf die Lektüre von Canetti zurück – jenen Schriftsteller, den er Jahrzehnte später nur noch verspotten wird. Auch den "Wir"-Sätzen Bernhards, jener "Aphoristik des Existierens", die "vor allem in den späteren Texten prinzipiell formulierte Aussagen über die Welt und die Existenz transportieren", widmet sich Mittermayer. Den späten Bernhard kommentiert er eher über die Rezensionen bspw. von Reich-Ranicki, der ihn immer "besser" werdend fand. Kritik daran oder an Bernhards skandalumtosten Prosa à la "Holzfällen" kommt von Mittermayer nicht. Diese Form der Zurückhaltung mag im darstellenden Teil opportun zu sein. Aber man hätte sich manchmal durchaus eine markantere Situierung des Biografen gewünscht.

Neu erscheint ein Hinweis, den Mittermayer von Peter Fabjan bekommen hat. Es geht um das Stück "Der Ignorant und der Wahnsinnige". Der Monolog des wahnsinnigen Arztes in dem Stück soll Bernhard mit Hilfe Fabjans "aus einem Pathologieskriptum der Universität Wien mit dem Titel 'Pathologie–Obduktion'" entnommen und leicht umgestellt in das Stück hineinmontiert haben. Ein milder Plagiatsfall. In den Theaterstücken insbesondere der 1970er Jahre entdeckt der Biograf mitunter komplementäre Dramenpaare "in denen jeweils eine eher komödiantische und eine eher ernsthafte Variante einander gegenübergestellt werden, wie beispielsweise "Die Berühmten" und "Minetti" oder auch "Immanuel Kant" und "Der Weltverbesserer". 

Versäumnisse und Unterlassungen

Besondere Berücksichtigung erfahren natürlich (oder leider?) die sattsam bekannten sogenannten Skandale, die Bernhard einerseits anzog wie ein Magnet, andererseits aber auch durchaus provoziert hat. In der Ballung dieser Biografie wirken sie heute fast immer hysterisch. Mittermayer beschäftigt sich mit Bernhards seltsamer Hassliebe zu Österreich wie mit den in den späten Jahren unverkennbaren Tendenzen des Dichters, sich als Kunstfigur zu inszenieren. Prägend für das spätere Bild Bernhards sind die Interviews mit André Müller und vor allem die beiden Dokumentarfilme Krista Fleischmanns (1981 "Eine Herausforderung. Monologe auf Mallorca" und 1986 "Ein Widerspruch. Die Ursache bin ich selbst"). Bei diesen Einsichten ist es umso erstaunlicher, dass Mittermayer eine genaue Erörterung der Selbststilisierungen Bernhards (als Opfer, Underdog, Zurückgestossener oder was auch immer) nicht genauer untersucht, sondern lediglich in einer Fußnote auf eine Studie aus 2011 von Brigitte Prutti referenziert, die auch noch den falschen Titel nennt. Auch Bernhards Inkonsequenzen und seine kolportierten Unwahrheiten (beispielsweise dass er niemals Mittel vom österreichischen Staat erhalten habe) erwähnt Mittermayer zwar, unterzieht sie jedoch nicht einer kritischen Betrachtung. 

Stattdessen erwähnt Mittermayer wie stilbildend für andere Schriftsteller Bernhard spätestens ab Anfang der 1980er Jahre war. Erwähnt werden unter anderem Andreas Maier (immerhin wird dessen heftige Kritik an Bernhards autobiografischen Büchern zitiert), William Gaddis, Jon Fosse, Don DeLillo, John Updike ("Maestro der musikalischen Schmährede"), Paul Auster, Louis Begley, Tim Parks und Ernst-Wilhelm Händler. Bernhard kämpfte schon zu Lebzeiten mit Nachahmern und Epigonen, witterte sogar Plagiate (wie bei E. Y. Meyers "In Trubschachen"). 

Bernhards Figuren teilten sowohl in der Prosa als auch in seinen Stücken mit wahren Schimpfkanonaden gegen Philosophen, Schriftsteller und Musiker aus. Besonders Goethe, Canetti, Stifter, Anton Bruckner und Martin Heidegger wurden überschüttet mit Invektiven. Mittermayer glaubt, dass die Ausfälle gegen Stifter indirekt auch Handke treffen sollten, der sich vom Befürworter immer mehr zum heftigen Kritiker Bernhards wandelte. Bernhards Ausfälle über Heidegger fußen wohl kaum auf der Lektüre; Mittermayer erzählt von einem Bildband, der die Inspiration dazu gegeben habe.

Heidegger gab mit seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus für Bernhard ein perfektes Hassobjekt ab. Weniger energisch reagiert Bernhard zeitlebens, wenn es um den Großvater Freumbichler geht, der 1943 nach einem vergeblichen Versuch endlich Mitglied der Reichsschrifttumskammer wurde. Auch beim Schauspieler Bernhard Minetti, den Bernhard fast abgöttisch verehrte und dem er Stücke widmete, wurde dessen NS-Vergangenheit (u. a. wirkte Minetti in Filmen von Leni Riefenstahl mit) niemals thematisiert. Mittermayer weist darauf hin, dass Bernhard Mitte der 1960er Jahre als junger Journalist und Beobachter des "Grazer Forums" die NS-Verstrickungen der älteren Autoren großzügig mit "Verzeihen" versah, "denn jeder hat notwendig, einen Teil wenigstens vergessen zu bekommen." Hingegen reichte ihm 1979 die NSDAP-Mitgliedschaft des deutschen Politikers Walter Scheel, der in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen wurde, um worttiradenreich aus dieser Akademie auszutreten.  

Kompliziert gestaltet sich die Darstellung von Bernhards privaten Freundschaften. Wie die Beziehung zu Stavianicek entstand und sich entwickelte, kann Mittermayer auch nur umkreisen und mit aufgeschnappten Stellungnahmen erzählen. Der Briefwechsel Stavianicek/Bernhard ist – naturgemäß – gesperrt. Auch zu anderen Freundschaften Bernhards, die häufig von Verwerfungen und fast unbarmherzigen Streit geprägt sind, greift Mittermayer auf bekannte Informationen zurück. Nicht immer kommt Bernhard dabei gut weg. So geißelt der Biograf Bernhards posthumen Umgang mit Gerhard Fritschs Suizid, über den er André Müller Jahre später in einem Interview "intime Details" erzählt. Dem Hype der 2000er Jahre um die Veröffentlichungen des "geheimen Tagebuchs" des Immobilienmaklers Karl Ignaz Hennetmair steht Mittermayer reserviert bis skeptisch gegenüber. Hennetmair war aber nach Lage der Dinge der einzige, der nicht von Bernhard die Freundschaft aufgekündigt bekam, sondern sie selber aufkündigte, nachdem der Dichter ihn beschuldigte, während seiner Abwesenheit das Haus ohne entsprechende Absprache betreten zu haben – obwohl er, Henntmair, für Bernhard dieses Haus hatte hüten sollen. Hennetmair war gekränkt und wies alle Entschuldigungsgesten Bernhards ab. Die Logik dieser Abweisungen formuliert Hennetmair treffend. Bernhard hätte ihn für ein Einknicken verachtet, weil er "weiche" Charaktere prinzipiell verachtete. Bernhards Dilemma im Umgang mit Menschen bringt der Makler auf den Punkt: "Also, die Weichen mag er nicht, mit den Harten verträgt er sich nicht, da bleibt niemand über für ein freundschaftliches Verhältnis mit ihm."

Was wäre, wenn…

In den additiven Inhaltsangaben mit Zitaten verlieren die Texte Bernhards viel an Wucht und Kraft. Wirkt Bernhards Prosa nicht mehr? Vielleicht erreicht sie nur mehr ihre Faszination, wenn man sie als Ganzes liest? Das mag für den "frühen" Bernhard (bis zum "Kalkwerk") noch gelten. Vieles, was danach kommt, wirkt manieriert, ein routiniertes Herumgeschimpfe, berechenbar, redundant. Der "Bezichtiger", der auch ein Selbstbezichtiger war, entwickelte sich irgendwann zum "mühelos konsumierbaren" Autor, wie Sigrid Löffler am Ende über "Heldenplatz" schrieb.

Vielleicht tritt die kathartische Wirkung der ersten Bernhard-Lektüre später nicht mehr ein, weil man die Mechanismen dieser Formspielereien erkannt hat. Daher sollte man womöglich die Bücher nicht noch einmal lesen, um nicht in eine postlektorale Depression zu verfallen – etwa nach dem Motto: Wie konnte man so etwas einmal gut finden? Dass Bernhard heute vor allem in Österreich weitgehend kanonisiert ist, könnte auf dem veritablen Missverständnis eines sich linksintellektuell gerierenden Publikums gründen, die in Bernhards Ausfällen einen Widerstandsakt gegen die restaurativ-konservative Gesellschaftsstruktur Österreichs entdecken. Dass Bernhard auch gegen die "Linken" wetterte und SPÖ-Politiker teilweise unflätig beschimpfte, wird entweder verdrängt oder als ein Beleg für den allgemeinen politischen Verfall der österreichischen Parteiendemokratie gewertet. Vielleicht müssten einfach einmal die oft eher unterkomplexen Darstellungen Bernhards ohne den voraus erteilten Gesinnungsbonus untersucht werden. Die Kritik von Peter Handke ("Witzel") oder die Einwände von Daniel Kehlmann oder Maxim Biller können doch auf Dauer nicht die einzigen bleiben.

Die von Komik überquellenden und später dann in Klamauk übergehenden Übertreibungstexte Bernhards würden ihm heuer in den sozialen Netzwerken vermutlich den Titel "Troll" einbringen. Sein Blog wäre sehr gut besucht. Aber bei faz.net oder zeit.online würden etliche seiner Texte und Kommentare die dortigen Zensurschranken kaum überwinden.

Wie würde Thomas Bernhard, wenn er noch leben würde, die Arbeit der Thomas Bernhard Stiftung beurteilen? Würde er gegen die Nachlassverwalter wettern, sie womöglich Nachlassverwalterdarsteller oder sogar Nachlassverwalterdilettanten nennen? Wie würde er, Thomas Bernhard, der mit Inbrunst (und Inkonsequenz) klarstellte, das "Dichter und Schriftsteller […] nicht subventioniert [gehören]", die Hundertausende Euros österreichischer Steuergelder kommentieren? Wie würde er, Thomas Bernhard, die Arbeit der Stiftung, ihre Sitzungen, Zusammenkünfte, Liegenschaftsadministrationen, Archivbetreuungen, Jahrbuchherausgaben und Buchvorbereitungen kommentieren? Ähnlich wie die der Akademie für Sprache und Dichtung 1979? Dort nennt er deren Mitglieder eitel und "Gschaftlhuber". Ihre auf "Staatskosten" stattfindenden Zusammenkünfte dienten ausschließlich der  "Eigenbeweihräucherung" und "Selbstbespiegelung", ihre "verstaubte[n] sogenannte[n] Essays" hätten nichts mit Geist zu tun, "weil sie aus den an Ladehemmung krankenden Maschinen von geistlosen Schwätzern  kommen". Bernhard bezeichnete damals die Mitglieder der Akademie als "geistige Regenwürmer". Wie würde er hier toben? Wie würde er die Verwaltung seines Nachlasses bewerten, die Etablierung der Wortmarke "Thomas Bernhard", die Vermarktung seines Nachlasses? Wie würde er den Anspruch der Stiftung mit der Realität bewerten? (Zugegeben, Literaturwissenschaftler mochte er ja nicht, für das "Seziertum in den Operationssälen der Literatur" empfand er keine Sympathien und er charakterisierte diese Zunft pauschal als "arm im Geiste".) 

Oder würde er rigoros auf die Einhaltung seines Testaments bestehen? Dann müssten sich die Damen und Herren Stiftungsvorstände und -beiräte mit ihren diversen Gesellschaften und Fördervereinen einfach einmal überlegen, ob sie den Verfügungen Folge leisten wollen oder weiter Herrschaftswissen vermarkten und nach Gutsherrenart Veranstaltungen erlauben oder absagen möchten. Vielleicht würde Bernhard jetzt darauf bestehen, den Nachlass in einem großen, vom ORF und den angeschlossenen Stationen der Eurovision live übertragenen Autodafé (Kommentar: Katja Gasser) nachhaltig und dauerhaft zu vernichten.

Diese Biografie, eine veritable Fleißarbeit, fesselt den Leser leider nicht – aber auch deshalb, weil dem Biografen Fesseln angelegt wurden, was sich darin zeigt, dass sich der Autor fast untertänigst in Fußnoten für irgendwelche Einsichten in Dokumente oder mündliche Aussagen bedanken muss. Am Ende kann er nur bis auf wenige Ausnahmen nur das Bekannte kompilieren.

Artikel online seit 29.09.15
 

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EUR 28,00 / sFr 34,80
9783701733644

 


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